Kurzbeschreibung

In einer ergreifenden Rede ruft Bundespräsident Johannes Rau die deutsche Öffentlichkeit zu mehr Toleranz gegenüber Einwanderern auf und lobt sie als bereicherndes Element, während er gleichzeitig größere Integrationsanstrengungen von den Einwanderern fordert.

Bundespräsident Johannes Rau ruft zu mehr Toleranz gegenüber Einwanderern auf (12. Mai 2000)

  • Johannes Rau

Quelle

Ohne Angst und ohne Träumereien: Gemeinsam in Deutschland leben

Bundespräsident Johannes Rau, 12. Mai 2000

Haus der Kulturen der Welt, Berlin

I.

Meine Damen und Herren,

• 30 Prozent aller Kinder an deutschen Schulen stammen aus zugewanderten oder kürzlich eingebürgerten Familien. An manchen Schulen sind es sogar 60 Prozent und mehr.

• 1997 und 1998 haben mehr Menschen aus anderen Ländern Deutschland verlassen, als Menschen neu zu uns gekommen sind.

• Von 1990 bis 1998 haben 50% aller Asylbewerber innerhalb der Europäischen Union in Deutschland um Asyl nachgesucht. 1999 war es ein gutes Viertel.

• Von allen, die bei uns Asyl suchen, werden vom zuständigen Bundesamt etwa 4% anerkannt.

• Allein Türken haben in Deutschland etwa 50.000 Betriebe gegründet und 200.000 Arbeitsplätze geschaffen.

• Der deutschen Wirtschaft werden in Zukunft qualifizierte Arbeitskräfte fehlen.

Das sind sechs ganz unterschiedliche Feststellungen über die Wirklichkeit in Deutschland – und doch stehen sie in einem großen Zusammenhang.

Zuwanderung, Einwanderung, Flüchtlingskontingente, Zuzugsbegrenzung, Integration, Green-Card, Asyl, Abschiebung, Rückführung – diese Stichworte bestimmen seit vielen Jahren immer wieder, in Schüben, die politische Diskussion.

Viele einzelne Probleme, viele einzelne Fragen sind auch Gegenstand privater Gespräche – oft führen sie auch zu sprachloser Konfrontation.

Mehr als sieben Millionen Ausländer leben in Deutschland. Sie haben unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert. Doch wir denken zu wenig darüber nach, was das für das Zusammenleben in unserem Land insgesamt bedeutet.

Und wir handeln zuwenig danach.

Wie wir miteinander leben, das ist eines der wichtigsten Themen überhaupt, wenn wir an die Zukunft unserer Gesellschaft denken.

Wir müssen uns mit diesem Thema beschäftigen,

• weil es alle in unserem Land betrifft, auch wenn manche es bisher noch nicht gemerkt haben,

• weil es in manchen Punkten bis an den Kern unserer Verfassungsordnung und unserer Verfassungswirklichkeit reicht,

• weil Abwarten die Probleme, die es gibt, nicht löst, sondern größer macht.

• weil es letztlich darum geht, ob wir gemeinsam an einer guten Zukunft für alle arbeiten können.

Jeder weiß, dass die Zuwanderung bei vielen Menschen starke Emotionen auslöst – gute und weniger gute. Gerade deswegen müssen wir darüber möglichst offen sprechen, möglichst unaufgeregt und realistisch.

Häufig bleibt zu vieles unausgesprochen. Häufig führen wir Scheindebatten, statt uns dem Thema des Zusammenlebens insgesamt zu widmen.

Wir müssen uns mit den richtigen Fragen beschäftigen:

• Wie wollen wir mit den Menschen zusammenleben, die rechtmäßig und auf Dauer in Deutschland leben und bei uns bleiben wollen?

• Wie gehen wir mit denen um, die wir nur auf Zeit aufnehmen wollen oder können?

• Wie gehen wir mit den Sorgen um, die viele Menschen in unserem Land bewegen?

• Was dürfen und müssen wir von denen verlangen, die auf Dauer in Deutschland leben und arbeiten wollen?

• Welche Anforderungen müssen wir an uns selber stellen?

Wir brauchen über diese Fragen eine breite öffentliche Diskussion, weit über die Parteien hinaus. Wir müssen überall in der Gesellschaft über Zuwanderung und Zusammenleben in Deutschland reden – über die Chancen und über die Probleme.

Und wir müssen handeln – und zwar ohne Angst und ohne Träumereien.

Erfolgreich können wir nur dann handeln, wenn wir zwei Haltungen überwinden, die zu weit verbreitet sind:

Wir müssen Unsicherheit und Angst überwinden, die manchmal zu Fremdenfeindschaft, zu Hass und Gewalt führen.

Wir müssen eine falsch verstandene Ausländerfreundlichkeit überwinden, die so tut, als gebe es überhaupt keine Probleme und Konflikte, wenn Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenleben.

II.

Zunächst ist eine schlichte Tatsache anzuerkennen: Dass Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur in unserem Land zusammenleben, wird sich nicht mehr ändern. Integration ist daher die Aufgabe, die wir gemeinsam anpacken müssen, wenn wir das Zusammenleben erfolgreich und friedlich gestalten wollen.

Wir haben allzu lange mit der Vorstellung gelebt, das alles sei ein vorübergehender Zustand.

Besonders deutlich wird das an dem Wort „Gastarbeiter“. Damit sollte einmal gesagt werden, dass es sich um Gäste handelt, die nach einer gewissen Zeit wieder gehen.

Wir wissen aber seit langem, dass die meisten, die gekommen sind, bleiben – und wir haben zu lange die Augen davor verschlossen, dass das viele praktische Folgen hat.

Sie sind geblieben – und die meisten auch zu unser aller Vorteil:

Ohne Arbeiter und Angestellte aus anderen Ländern kämen viele Wirtschaftszweige in große Schwierigkeiten. Männer und Frauen mit einem anderen Pass haben inzwischen zehntausende von kleinen und größeren Betrieben gegründet. Sie bieten Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze.

Die ganz überwiegende Mehrheit der ausländischen Bevölkerung kommt ihren Pflichten nach und trägt dazu bei, dass wir Wohlstand erwirtschaften und soziale Sicherheit finanzieren können.

Sie zahlen Einkommenssteuer und Mehrwertsteuer, wie wir alle.

Sie zahlen Beiträge zur Rentenversicherung und sie finanzieren die Bundesanstalt für Arbeit genauso mit wie die gesetzliche Krankenversicherung.

Wir brauchen keine künstlichen Debatten darüber, ob Deutschland ein Zuwanderungs- oder ein Einwanderungsland ist.

Wir dürfen in der Diskussion nicht immer nur Teilaspekte herausgreifen: heute islamischer Religionsunterricht, morgen Green-Card, dann wieder Arbeitserlaubnisse für Saisonarbeiter oder die Behandlung von Bürgerkriegsflüchtlingen.

Wir müssen den Blick für das Ganze gewinnen.

Wir müssen Realitätsblindheit und Illusionen überwinden, notwendige Entscheidungen anpacken und neue Wege gehen.

Wir brauchen eine neue Anstrengung für das Zusammenleben aller Menschen in Deutschland – ohne Angst und ohne Träumereien.

Am Beginn aller Diskussionen muss klar sein: „Die“ Ausländer gibt es nicht. Es geht immer um einzelne Menschen:

Um Menschen mit ihren individuellen Wurzeln

• ob als Arbeitssuchende aus Anatolien,

• ob als Spätaussiedler aus einem kleinen Dorf im Herzen von Kasachstan,

• ob auf der Flucht vor Verfolgung und Folter im Sudan,

• ob als Vertriebene aus den zerstörten Städten und Dörfern des Kosovo.

Jeder hat seine Biographie, jeder hat seine Träume, alle haben ihre kulturellen und religiösen Prägungen, jeder hat seine besondere Art des Umgangs mit anderen.

So unterschiedlich sie sind, eines haben sie alle gemeinsam: Jeder von ihnen sucht in Deutschland Zuflucht oder Heimat – freiwillig oder notgedrungen, manche für eine Zeit des Übergangs, viele aber auf Dauer.

III.

Das Verlassen der Heimat und das Einleben in eine andere Kultur: Das sind in der Geschichte keine neuen Phänomene – auch nicht in der Geschichte unseres Landes. Darum wissen wir, dass Einwanderung und Integration nicht konfliktfrei sind und nicht automatisch gelingen.

Die Zuwanderung vergangener Jahrhunderte nach Deutschland lässt sich freilich mit der heutigen Situation nicht ohne weiteres vergleichen. Vieles dauert länger, manches ist schwieriger, wenn es um das Zusammenleben von Menschen mit sehr unterschiedlichem kulturellen und religiösen Hintergrund geht.

Vieles ist heute auch schwieriger, weil die Zuwanderer mittels Telefon und Satellitenfernsehen eng mit ihrer Heimat verbunden bleiben.

Dennoch kann der Blick zurück zeigen, dass uns Integration in der Vergangenheit gelungen ist und auch wieder gelingen kann.

Wir in Deutschland haben in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und danach Hunderttausende aufgenommen, die auf der Suche nach Arbeit und Brot waren. Sie kamen aus den östlichen Provinzen des Reiches, aus Österreich-Ungarn, aus Russland und unter ihnen waren besonders viele Polen.

Sie kamen in das damalige Industriezentrum Berlin und in den „goldenen Westen“, zu den Gruben und Hütten des Ruhrgebietes. Da wurden in der Lebensspanne einer Generation Dörfer und kleine Städte zu Großstädten.

Die erste Generation der Einwanderer lebte noch ganz in den mitgebrachten Traditionen, etwa der polnisch-katholischen Frömmigkeit. Schon die zweite Generation, die in dieselben Zechen einfuhr und in denselben Fußballvereinen spielte, fing an, die polnischen Namen westfälisch auszusprechen. So wie sie von ihrer neuen Umwelt geprägt wurden, so haben auch sie ihr neues Zuhause mitgeprägt.

Wie viele von uns, nicht nur hier in Berlin oder im Ruhrgebiet, sind Nachkommen von Zuwanderern! Von Vätern und Müttern, die in der Fremde ein besseres Leben gesucht haben! Welche Aufnahme, welches Willkommen hätten wir unseren Großvätern und Urgroßvätern gewünscht?

Und wie wurden unsere Landsleute aufgenommen, die in die Fremde gegangen sind?

Deutschland war in seiner Geschichte nicht nur ein Einwanderungsland. Armut und Not, aber auch Abenteuerlust und Unternehmungsgeist haben in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts viele unserer Vorfahren nach Kanada und Amerika geführt – Jahr für Jahr die Einwohnerzahl einer Großstadt.

Auch Deutsche waren einmal Wirtschaftsflüchtlinge.

Auch Deutsche sind vor politischer Verfolgung geflohen.

Auch Deutsche haben zum Aufbau anderer Länder beigetragen.

Als Folge des Zweiten Weltkriegs haben wir in Deutschland Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aufgenommen. Auch diese letztlich erfolgreiche Integration war am Anfang alles andere als leicht, obwohl Deutsche nach Deutschland kamen.

Viele werden nicht vergessen, auf wie viel Ablehnung sie nicht nur in Dörfern und Kleinstädten gestoßen sind – obwohl sie schwerstes Leid getragen hatten, obwohl sie dieselbe deutsche Sprache sprachen, obwohl sie zur gleichen Kultur gehörten, oft sogar zur selben Konfession wie ihre neuen Mitbürger.

Integration braucht langen Atem und Geduld. Sie braucht die Offenheit der angestammten Bevölkerung. Noch mehr braucht sie aber – und das gilt heute besonders – die Bereitschaft und die Anstrengung der neu Dazukommenden – die Bereitschaft, nicht nur dazu zu kommen, sondern auch dazu gehören zu wollen.

IV.

Die Begegnung mit Fremdem, mit Menschen und Dingen, die wir nicht kennen, ist voller Spannung. Sie ist bestimmt von gemischten Gefühlen: Von Neugier und Abwehr, von Willkommen und Abgrenzung, von Unverständnis und langsamem Vertrautwerden.

Zuwanderung ist stets beides: Belastung und Bereicherung. Man kann über das eine nicht sprechen, ohne auch das andere zu sehen und zu nennen.

Viele Vorteile, die uns die Zuwanderung und der Kontakt mit anderen Kulturen gebracht haben, nehmen wir gar nicht mehr wahr, weil sie für uns inzwischen selbstverständlich sind.

Ohne die damals so genannten Gastarbeiter hätte die Bundesrepublik nicht den wirtschaftlichen Aufschwung gehabt, den sie tatsächlich erlebt hat. Wir haben dringend benötigte Arbeitskräfte gerufen und sie sind gekommen. Sie haben wesentlich zur Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft beigetragen. Sie haben durch Überweisungen nach Hause übrigens auch viel zum wirtschaftlichen Aufschwung in ihren Heimatländern beigetragen.

Wir sind kulturell reicher geworden: Musik aus anderen Ländern hat vielen von uns neue Welten geöffnet. Wir hören heute vieles mit Freude, was uns noch vor zwei oder drei Jahrzehnten fremd war. Die Ausstellung „Heimat Kunst“ hier im Haus und die damit verbundenen Projekte zeigen, dass Musiker, Sänger, Maler und Schriftsteller aus der Begegnung unterschiedlicher Kulturen zu neuen künstlerischen Ausdrucksformen kommen.

Ganz nebenbei: Wir essen heute auch anders. Die Einwanderer haben ihre Rezepte mitgebracht, ihre Spezialitäten, ihre Gewürze und ihre Getränke. Pizza und Döner sind aus unseren Straßen nicht mehr wegzudenken. Olivenöl und Fladenbrot gehört für viele inzwischen zum täglichen Essen.

Deutschland gehört heute zu den buntesten und offensten Ländern der Welt. Wir haben an Lockerheit, an Erfahrungsmöglichkeiten und an toleranter Einstellung gewonnen.

Es stimmt aber auch, dass manche Menschen diesen Gewinn nicht sehen – oder nicht sehen können. Sie erleben und erfahren oft stärker die Probleme, die eine so große Zahl an Zuwanderern ja auch tatsächlich bedeuten.

V.

Das Zusammenleben ist auch schwierig und es ist anstrengend. Wer das leugnet oder nicht wahrhaben will, ist mit allen Appellen zu mehr Toleranz, Freundlichkeit und Aufnahmebereitschaft unglaubwürdig.

Es hilft nichts, vor Problemen die Augen zu verschließen oder allein schon ihre Beschreibung als Ausländerfeindlichkeit hinzustellen.

Es ist nicht schwer, in wohlsituierten Vierteln eine ausländerfreundliche Gesinnung zu zeigen. Schwerer ist das da, wo sich immer mehr verändert, wo man als Einheimischer die Schilder an und in den Geschäften nicht mehr lesen kann, wo in einem Haus Familien aus aller Welt zusammenwohnen, wo sich im Hausflur ganz unterschiedliche Essensgerüche mischen, wo laut fremde Musik gemacht wird, wo wir ganz andere Lebensstile und religiöse Bräuche erfahren.

Schwer wird das Zusammenleben dort, wo sich manche alteingesessene Deutsche nicht mehr zu Hause fühlen, sondern wie Fremde im eigenen Land.

Im klimatisierten Auto multikulturelle Radioprogramme zu genießen, ist eine Sache. In der U-Bahn oder im Bus umgeben zu sein von Menschen, deren Sprache man nicht versteht, das ist eine ganz andere.

Ich kann Eltern verstehen, die um die Bildungschancen ihrer Kinder fürchten, wenn der Ausländeranteil an der Schule sehr hoch ist. Ich kenne das aus eigener Erfahrung.

Ich kann auch verstehen, wenn überdurchschnittlich hohe Kriminalität junger Ausländer und Aussiedler vielen Menschen Angst macht.

Ich kann verstehen, wenn nicht nur Mädchen und junge Frauen Angst vor Anmache oder Einschüchterung durch Cliquen von ausländischen Jugendlichen haben.

Wer die Sorgen und Ängste nicht ernst nimmt, redet über die Köpfe der Menschen hinweg und trägt zu einer Haltung bei, die lautet: Ja, die haben gut reden.

Wo Sorgen und Ängste berechtigt sind, muss versucht werden, Abhilfe zu schaffen. Wir müssen erklären und erklären können, warum es nicht anders geht, jedenfalls nicht besser.

Wo Sorgen und Ängste nicht berechtigt sind, muss informiert und aufgeklärt werden.

Im Leben ist es oft wie in der Schule: Das falsch Verstandene behält man leider am Besten. Fehler setzen sich am hartnäckigsten fest.

Damit Vorurteile sich nicht festsetzen und weiter verbreiten, muss man ihnen immer wieder widersprechen.

Ich sehe hier eine besondere Aufgabe und eine besondere Verantwortung der Medien. Aufklärung und Information tun Not.

Ein Beispiel: Menschen ärgern sich über Asylbewerber, die in den Innenstädten sitzen und den Eindruck vermitteln, sie ließen sich für Nichtstun vom Steuerzahler aushalten. Viel zu wenige Menschen wissen, dass es Asylbewerbern in den ersten drei Monaten gesetzlich verboten ist zu arbeiten, und dass sie danach von den Arbeitsämtern als Arbeitssuchende abgelehnt werden. Wer das weiß, mag am Sinn dieser Vorschrift zweifeln. Aber er wird den Asylbewerbern nicht mehr mangelnden Arbeitswillen unterstellen.

Ich engagiere mich von ganzem Herzen für einen Dialog der Kulturen und Religionen weltweit. Das ist eine wichtige Aufgabe. Ich habe sie allerdings nie als Ersatz dafür verstanden, dass wir uns ganz handfest um die praktischen Probleme des Alltags kümmern, die sich aus dem Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen im eigenen Land ergeben.

Wir müssen über das Zusammenleben da reden, wo das Leben konkret ist.

VI.

Es gibt in unserer Gesellschaft Ausländerfeindlichkeit, ja Fremdenhass. Es gibt Gewalt bis hin zu Mord. Gefährlicher noch als einzelne Gewaltakte ist ein gesellschaftliches Klima, das Ausländerfeindlichkeit mit klammheimlicher oder sogar mit offener Sympathie begleitet.

Es gibt eine aggressive Intoleranz gegenüber Ausländern. Sie wird gefördert, wenn eine Mehrheit schweigt. Wer schweigt, macht sich mitschuldig.

Da sind wir alle gefordert. Politiker, Polizei und Justiz, Lehrerinnen und Lehrer tragen besondere Verantwortung, sich menschenfeindlichen Tendenzen entgegen zu stellen. Das braucht Zivilcourage und Unterstützung.

Kein politisch Verantwortlicher darf der Versuchung nachgeben, aus fremdenfeindlichen Stimmungen Kapital zu schlagen. Der sorgfältige Umgang mit dem Wort gehört dabei an die erste Stelle. Ich erwarte von allen Selbstdisziplin und Fingerspitzengefühl.

Wer sich über die Untaten aus Fremdenfeindlichkeit empört, der darf die Unworte nicht überhören oder gar selber gebrauchen, die viel zu häufig die Runde machen. Unworte bereiten Untaten den Boden.

Wir dürfen freilich niemanden mit seinen Vorurteilen und Ressentiments alleine lassen. Wie oft sind Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhass das Ergebnis von Unkenntnis und mangelnder Erfahrung! Nur so ist zu erklären, dass es Gegenden in Deutschland gibt, in denen nur ganz wenige Ausländer leben, Fremdenfeindlichkeit aber stark verbreitet ist.

Wenn Rechtsextreme stolz von „national befreiten Zonen“ sprechen, dann ist das ein Alarmsignal für Rechtsstaat und Demokratie und ein Grund zur Scham für alle wirklichen Patrioten.

Für Rassismus und rassistische Gewalt gibt es Gründe und Erklärungen, aber nichts kann sie rechtfertigen. Wer Gewalt anwendet, gehört bestraft – je schneller, desto besser.

Ich will das alte Argument vom Ansehen Deutschlands in der Welt nicht hervorholen. Gewiss ist wichtig, wie wir von außen gesehen werden. Wir sind es uns aber in erster Linie selber schuldig, dass Fremdenfeindlichkeit geächtet wird.

VII.

Wenn wir über Zuwanderung und Integration sprechen, dann ist es nicht nur legitim, sondern wichtig, dass wir auch an unsere eigenen Interessen denken.

Wer zu uns nach Deutschland kommt, der muss die demokratisch festgelegten Regeln akzeptieren. Sie sind Grundlage unseres Zusammenlebens. Diese Regeln sind auf Integration angelegt und nicht auf Ausgrenzung. Sie bieten genügend Raum für kulturelle Vielfalt. Sie sichern die Freiheit des Glaubens und die Rechte von Minderheiten.

Diese Regeln setzen aber auch Grenzen, die niemand unter Hinweis auf seine Herkunft oder seine religiöse Überzeugung außer Kraft setzen darf.

Ein wichtiges Beispiel sind dafür das Recht und die Rolle der Frauen in der Gesellschaft. Jeder muss wissen, dass wir es nicht dulden, wenn Frauen aus traditionellen oder kulturellen Gründen nur mindere Rechte haben sollen.

Alle müssen sich an die Regeln halten, die sich unsere Gesellschaft gegeben hat: Zugewanderte und Einheimische.

Integration kommt nicht von allein. Man muss etwas dafür tun. Das ist oft anstrengend.

Wir dürfen diese neue Anstrengung nicht missverstehen als einen mildtätigen Akt, mit dem wir Ausländern einen Gefallen tun. Wenn wir etwas für bessere Integration tun, dann tun wir das nicht nur aus Mitmenschlichkeit oder christlicher Nächstenliebe, sondern in unserem aufgeklärten Eigeninteresse.

Es ist viel darüber geredet worden, ob wir eine „multikulturelle Gesellschaft“ sind oder sein sollen. Ich sage dazu nur: Wir sind jedenfalls eine kulturell vielfältige Gesellschaft. Die unterschiedlichen Kulturen leben aber oft mehr nebeneinander als miteinander. Das geht dann gut, wenn Vielfalt nicht mit Beliebigkeit verwechselt wird und wenn wir uns darin einig sind, dass eine Gesellschaft keine Addition von Minderheiten ist.

Wir brauchen eine gemeinsame Vorstellung davon, wie wir in Deutschland zusammen leben wollen. Wir brauchen klare Grundwerte, die unser Handeln gemeinsam binden.

Eine Gesellschaft, die in Fragmente zerfällt, kann keine wirklich demokratische Gesellschaft sein. Demokratie bedeutet ja auch, dass Minderheiten Mehrheitsentscheidungen akzeptieren, ja innerlich bejahen. Das setzt voraus, dass Mehrheit und Minderheit, jenseits aller tagespolitischen Konflikte und Kontroversen, gemeinsame Grundvorstellungen teilen. Dann können sie Wir-Gefühl entwickeln, das beide bindet und verbindet.

Wir brauchen das, auch wenn wir auf das Pathos aus vielen Gründen nicht zurückgreifen können, mit den anderen Nationen ihre Gemeinsamkeit begründen.

Verfassungspatriotismus ist wichtig. Aber wir brauchen eine gewisse emotionale Gemeinsamkeit darüber hinaus. Den Gegensatz zwischen „Wir hier“ und „Die da“ verträgt eine demokratische Gesellschaft auf Dauer nicht.

Wenn wir von der Gefahr sprechen, dass unsere Gesellschaft auseinander fällt, dann dürfen wir nicht nur mit den Fingern auf andere zeigen.

Wir müssen uns auch selber fragen, ob wir uns in all den Jahren unserer eigenen Identität immer genügend bewusst waren und ob wir genügend selbstbewusst waren, um Neuankömmlinge für uns in einem tieferen Sinne einzunehmen.

Haben wir nicht gute Gründe – nach 50 Jahren erfolgreicher Friedens- und Demokratiegeschichte –, für unsere Gesellschaft, für ihre Kultur und ihre Lebensformen, vielleicht auch für ihre Symbole, zu werben?

Sollten wir nicht viel deutlicher machen, dass nicht nur Wohlstand und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unser Land attraktiv machen?

Wenn uns das gelingt, dann können wir erwarten, dass aus Immigranten Bürgerinnen und Bürger werden, die hier nicht nur zu Hause sind, sondern sich hier auch heimisch fühlen.

Integration: Das bedeutet nicht Entwurzelung und gesichtslose Assimilation.

Integration ist auch die Alternative zum beziehungslosen Nebeneinander unvereinbarer Kulturen.

Integration: Das ist die immer wieder zu erneuernde Bindung aller an gemeinsame Werte. Wer dauerhaft in Deutschland leben will, braucht seine Herkunft nicht zu verleugnen. Er muss aber bereit sein, eine offene Gesellschaft nach dem Leitbild des Grundgesetzes mitzugestalten. Das ist unser Angebot an alle. Wir können nur dann eine offene Gesellschaft sein und bleiben, wenn sich keine Inseln bilden, die außerhalb des gesellschaftlichen Grundkonsenses liegen.

Darum müssen wir Integration aktiv und systematisch fördern. Jeder Mensch, der das Recht hat, sich dauerhaft in Deutschland aufzuhalten, sollte verpflichtet sein, sich mit unserer Gesellschaft vertraut zu machen: mit unseren Wertvorstellungen, unseren Traditionen und ganz besonders mit unserer Sprache.

Wir sollten ernsthaft darüber nachdenken, ob wir nicht dem Beispiel anderer Länder folgen und uns über ein Gesetz zur aktiven Förderung der Integration verständigen.

VIII.

Von denen, die sich ernsthaft mit diesen Fragen beschäftigen, bestreitet kaum jemand, dass wir auch in Zukunft – und zwar im eigenen Interesse – Einwanderung brauchen. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere westliche Länder.

Viele unserer Unternehmer schauen gerne nach Amerika und weisen auf die überwältigende Dynamik der amerikanischen Wirtschaft in den letzten zehn Jahren hin. Diese Dynamik ist ganz wesentlich auf die Einwanderer zurückzuführen, die Amerika in den letzten zehn Jahren in großer Zahl aufgenommen hat.

Präsident Clinton hat vor einigen Jahren ein großes Programm zur Integration der verschiedenen Bevölkerungsgruppen aufgelegt: Das Programm heißt: „One America“ und wendet sich gegen das Auseinanderfallen der Gesellschaft in unterschiedliche ethnische Gruppen.

Darauf wird bei uns nicht so häufig hingewiesen.

Warum werden wir und andere Länder auch in Zukunft Einwanderung brauchen? Dafür wird immer wieder eine Reihe von Gründen genannt.

Zum Beispiel: Nur durch Einwanderung sei unser Sozial- und Rentensystem weiterhin zu finanzieren.

Es stimmt: Alle westlichen Gesellschaften haben ein demographisches Problem. Das dürfen wir weder verharmlosen noch dramatisieren. Durch Einwanderung allein kann das Problem nicht gelöst werden. Auf Fragen, die so komplexe Ursachen und Folgen haben wie die Umkehrung der Alterspyramide, gibt es nie nur die einzig richtige Antwort.

Gewiss täten wir gut daran, wenn unser Land kinderfreundlicher würde. Es ist nicht Aufgabe der Politik, die Zahl der Geburten zu erhöhen. Aber die Politik sollte dazu beitragen, dass der Wunsch, Kinder zu bekommen, gefördert und nicht gehemmt wird. Kinder zu haben darf finanziell nicht bestraft werden.

Ein zweiter Grund für die Forderung nach Einwanderung ist ebenfalls ernst zu nehmen. Schon heute, und in Zukunft noch mehr, fehlen in wichtigen Bereichen hochqualifizierte Arbeitskräfte. Hier machen sich Defizite früherer Bildungs- und Ausbildungspolitik schmerzlich bemerkbar.

Der Bundeskanzler hat mit seiner „Green-Card“-Initiative darauf reagiert. Soviel Zustimmung dieser Ansatz findet – auch bei mir –, wir alle wissen: Einwanderung allein kann das Defizit an qualifizierten Arbeitskräften nicht ausgleichen. Wir werden auf auswärtige Spitzenkräfte nicht verzichten könnten. Aber wir müssen dringend unsere eigenen Qualifizierungsanstrengungen verstärken. Das wird nur in Zusammenarbeit zwischen den Bildungseinrichtungen und der Wirtschaft gelingen, die in ihrem ureigenen Interesse mehr in Ausbildung und Qualifikation investieren muss. Auch darauf hat der Bundeskanzler hingewiesen.

IX.

Wir können das Zusammenleben in unserem Land nicht dem Zufall überlassen. Die Anforderungen, die wir an uns selber stellen, und an die, die zu uns kommen, müssen gut durchdacht, besonnen diskutiert und klug festgelegt werden.

Wir müssen uns über die Bedingungen der Zuwanderung klar werden und wir müssen sie verbindlich regeln. Jeder muss wissen, was ihn erwartet und was von ihm erwartet wird.

Es wird gewiss nicht leicht sein, sich in diesen Grundfragen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens zu verständigen. Aber wir dürfen diesen Themen nicht ausweichen. Wir müssen die Diskussion jetzt führen.

Die Regeln für Integration und Einwanderung müssen von den sozialen und wirtschaftlichen Interessen geprägt sein, die unsere Gesellschaft hat. Umso wichtiger ist es, zwei Dinge auseinander zu halten: Einwanderung und das Recht auf Asyl. Eine Einwanderungsregelung ist eigennützig, das Recht auf Asyl ist uneigennützig.

Wer sagt: Auf deutschem Boden können nicht alle Probleme dieser Welt gelöst werden, der hat Recht. Ich füge aber hinzu: Deutschland muss für Menschen, die um Freiheit, um Leib und Leben fürchten müssen, eine gute und eine sichere Adresse sein und bleiben.

X.

Wie immer wir künftig die Einwanderung regeln: Wir müssen gut vorbereitet sein – geistig, politisch und institutionell. Wir müssen darauf vorbereitet sein, dass Menschen kommen, von denen wir etwas erwarten und die von uns etwas erwarten.

Vorbereitet sein müssen wir in vielen Bereichen.

Am wichtigsten sind Kindergärten, Schulen und Hochschulen.

Das sind die Orte, an denen sich entscheidet, ob Integration in unserem Land gelingt. Sie sind die Lernorte des Zusammenlebens und sie liefern gleichzeitig die Grundlagen dafür.

Im Alltag kann man sich abkapseln, in den eigenen Vierteln und unter sich bleiben. In der Schule kommt man unvermeidlich zusammen. Hier muss man mit anderen auskommen, ob man will oder nicht.

Die Schule der Nation ist die Schule. Hier zeigen sich alle Schwierigkeiten, die das Zusammenleben mit sich bringen kann, oft am deutlichsten.

Darum möchte ich all den Lehrerinnen und Lehrern ganz herzlich danken, die sich Tag für Tag damit auseinandersetzen müssen, dass unsere Gesellschaft so vielfältig und damit auch so schwierig geworden ist. Vor allem in den Grund- und Hauptschulen spüren sie hautnah, was in und was mit unserer Gesellschaft los ist.

In meinen Dank schließe ich alle ein, die in Kindertagesstätten, in den Jugendabteilungen der Vereine und in der offenen Jugendarbeit alltägliche Integrationsarbeit für uns alle leisten.

Auch den Beschäftigten bei Polizei und Justiz, auch den Mitarbeitern von Meldeämtern und Ausländerämtern, von Arbeits- und Sozialämtern möchte ich für ihre oft schwierige und manchmal frustrierende Arbeit danken, für die sie viel Geduld und Fingerspitzengefühl brauchen.

Ich habe schon zu Anfang darauf aufmerksam gemacht: 30 Prozent aller Schulkinder in Deutschland haben inzwischen einen „Migrationshintergrund“. Das bedeutet oft: geringe Sprachkenntnisse, schlechte Integration in der Lerngruppe, mangelndes Engagement der Eltern, die mit Kindergarten und Schule nicht oder nur wenig zusammenarbeiten.

Wie viele Probleme werden – vom Kindergarten an – an die jeweils nächsthöhere Bildungseinrichtung weitergereicht!

In Wirklichkeit brauchen wir also vom Kindergarten und von der Grundschule an eine Pädagogik, die Integrationsförderung nicht als Beiwerk missversteht.

Hat diese Aufgabe bei der Lehrerausbildung schon genügend Niederschlag gefunden? Sind Lehrerinnen und Lehrer schon genügend darauf vorbereitet, in Klassen mit der Hälfte oder mehr nichtdeutscher Kinder zu unterrichten? Vor allem Lehrerinnen sehen sich oft mit nicht akzeptablen Verhaltensweisen konfrontiert, die aus ganz anderen Vorstellungen von Autorität und Geschlechterrollen stammen. Was tun wir dagegen? Was in der Schule nicht geleistet wird, das kann oft ein Leben lang nicht ausgeglichen werden.

Wenn die Zahl der türkischstämmigen Studierenden an unseren Hochschulen sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt hat, dann ist das erfreulich.

Aber die Zahl der ausländischen Hauptschüler ist im Verhältnis zu ihrer Altersgruppe dreimal so groß ist wie die der deutschen – und bei den weiterführenden Schulen ist es genau umgekehrt.

40 Prozent der nicht deutschstämmigen Jugendlichen mit Hauptschulabschluss bekommen keinen Ausbildungsplatz.

• Wir brauchen Bildungskonzepte, die stärker zur Kenntnis nehmen, dass der Schüler aus einer deutschen Familie mit abendländisch-christlichem Hintergrund nicht mehr überall der Normalfall ist. Das gehört viel stärker in die pädagogische und didaktische Ausbildung und Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer.

• Wir haben gute Modellprojekte, in denen Mütter und Kinder gemeinsam Deutsch lernen, weil die Mütter in den meisten Fällen den Hauptteil der Erziehung leisten.

• Wer auf Dauer in Deutschland lebt, muss deutsch sprechen können. Darum ist „Deutsch für Ausländer“ ein zentrales Bildungsprojekt für die Zukunft unserer Gesellschaft. Wir brauchen dafür mehr Lehrerinnen und Lehrer. Ich weiß: das kostet Geld. Ich weiß aber auch: Wer heute an der falschen Stelle spart, muss dafür später teuer bezahlen.

• Es ist kein Zeichen von Ausländerfeindlichkeit, wenn Lehrer und Schulleiter darauf achten, dass in der Schule deutsch gesprochen wird. Ganz im Gegenteil: Wo das nicht geschieht, scheitert die Integration von Anfang an – zum Schaden aller Kinder.

• Es ist in unserem gemeinsamen Interesse, dass alle Ausländer oder neu Eingebürgerten möglichst gute Bildungschancen haben. Bildung fördert die Integration, Bildung eröffnet Chancen auf gute Arbeitsplätze, Bildung macht gesprächsfähig.

• Bildung ist schließlich das A und O jeder Begegnung der Kulturen, die diesen Namen wirklich verdient. Nur Bildung hilft, Vorurteile zu überwinden. Sie ist der beste Schutz vor Fundamentalismus und Rassismus.

Was wir unbedingt verhindern müssen, ist die Entstehung eines neuen Bildungsproletariats, einer Schicht, die aus Mangel an Bildung den sozialen Anschluss verliert. Das führt zu ethnischer Ghettobildung mit allen schädlichen, ja gefährlichen Folgen.

XI.

Zu den schädlichen Folgen von Ghetto- und Cliquenbildung, von misslungener Integration, von Aussichtslosigkeit auf dem Arbeitsmarkt, von sozialer Randständigkeit gehören Gewalttätigkeit und Kriminalität.

Mit Zahlen und Statistiken darüber wird oft Missbrauch getrieben. Sie müssen sorgfältig gelesen werden. Dann erweist sich manches Urteil als Vorurteil.

Es stimmt aber, dass vor allem jüngere, männliche Ausländer und Aussiedler überdurchschnittlich an Straftaten und Gewalttaten beteiligt sind. Sie müssen, wie alle anderen Straftäter auch, nach Recht und Gesetz – und möglichst schnell – bestraft werden.

Die Statistik zeigt aber auch ganz deutlich: Wo Integration – durch Bildung, Ausbildung und Arbeit – gelungen ist, da sind Gewalt und Kriminalität bei jungen Ausländern nicht stärker verbreitet als bei jungen Deutschen.

Übrigens: ein Skinhead mit Springerstiefeln wirkt auf mich auch dann nicht weniger gefährlich, wenn er womöglich einen deutschen Pass hat.

XII.

Unsere Gesellschaft ist immer noch stark von christlichen Traditionen geprägt, doch sie ist stärker säkularisiert, als viele wahrnehmen. Erleben inzwischen nicht manche, die selber ohne religiöse Prägung sind, im muslimischen Nachbarn zum ersten Mal einen Menschen, der seinen Glauben im Alltag lebt? Und müssen nicht umgekehrt gläubige Muslime besonders in unseren Großstädten oft den Eindruck haben, tatsächlich in einer Welt der „Ungläubigen“ zu leben, gegen die sie sich nur durch besonders strenges Festhalten am Althergebrachten glauben schützen zu können? Strenge islamische Erzieher und Eltern befürchten für ihre Kinder eine ähnliche Abkehr von der Religion, wie es bei uns Eltern mit ihren Kindern seit Jahrzehnten erleben.

Die Freiheit des Glaubens und der Religion gilt für alle Menschen in unserem Land, nicht nur für Christen. Dazu gehört auch die Freiheit, dem Glauben Ausdruck zu geben – in Gottesdienst und gottesdienstlichen Räumen. Darum gibt es inzwischen in vielen Städten Moscheen in Deutschland.

An den Anblick dieser Moscheen, wenn sie denn wie klassische Moscheen aussehen, haben sich viele erst gewöhnen müssen. Ich füge hinzu: Vielen würde das leichter fallen, wenn Christen in islamischen Ländern das gleiche Recht hätten, ihren Glauben zu leben und auch Kirchen zu bauen.

Ich bin dafür, dass in unseren Schulen islamischer Religionsunterricht erteilt werden kann. Das sollte in deutscher Sprache geschehen, durch staatlich ausgebildete und anerkannte Lehrer und auf der Grundlage von Unterrichtskonzepten, die von anerkannten islamischen Partnern erarbeitet und von den Schulministerien genehmigt werden.

Das bedeutet: Wir brauchen eine akademische islamische Religionslehrerausbildung, wir brauchen verlässliche islamische Partner, mit denen diese schwierigen Fragen erörtert werden können.

Unsere Verfassung baut auf die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften. Der Islam ist nicht wie eine Kirche strukturiert. Deshalb brauchen wir eine andere Form verlässlicher, institutioneller Kooperation mit den Muslimen in Deutschland. Wir brauchen auf der Grundlage unserer Verfassung eine Regelung, die den berechtigten Interessen der Mitbürger muslimischen Glaubens entspricht.

Worauf wir bestehen müssen, auch im Interesse aller Kinder, die hier leben, will ich klar sagen: In unseren staatlichen und privaten Schulen werden die Kinder – auch im Religionsunterricht – im Sinne der Grundwerte unserer Verfassung erzogen.

XIII.

Ich habe vorhin davon gesprochen, dass wir das Grundrecht auf Asyl, so wie es seit einigen Jahren neu gefasst worden ist, nicht zur Disposition stellen sollen.

Allerdings führt das geltende Recht in vielen einzelnen Fällen immer wieder zu Entscheidungen, die auch viele von denen für falsch und unvertretbar halten, die im Grundsatz für eine restriktive Asylpraxis eintreten. Ich bekomme viele Briefe, in denen sich Abgeordnete und Unternehmer, Schulklassen, Kirchengemeinden und engagierte Bürger gegen die Abschiebung von einzelnen Flüchtlingen einsetzen. Ich kann das oft sehr gut verstehen.

In den meisten Fällen stellt sich aber heraus, dass diesen Menschen nicht geholfen werden kann. Sie können nicht hier bleiben, weil das gegen geltendes Recht verstieße.

Ich frage mich, ob die Behörden nicht einen größeren Entscheidungsspielraum brauchten, damit sie der jeweils besonderen Situation besser gerecht werden können. Wer das auch will, muss im Parlament für entsprechende Änderungen eintreten. Meine Sympathie dafür hat er.

XIV.

Wir brauchen eine neue, gemeinsame Anstrengung für das Zusammenleben in unserem Lande. Wir müssen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und des politischen und staatlichen Handelns umdenken.

Wir müssen die Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen, wenn wir sie erfolgreich gestalten wollen – ohne Angst und ohne Träumereien. Gelungene Integration ist in unserem eigenen, vitalen Interesse. Sie mobilisiert Kräfte, die wir für eine gute Zukunft brauchen.

Bestimmen wir klar unsere Interessen und Ziele.

Entscheiden wir, wie wir Integration gestalten wollen.

Legen wir realistische Ziele fest.

Bildung und nochmals Bildung – das ist die grundlegende Voraussetzung für jede Integration. Integration muss ein zentraler Bestandteil jeder Bildungspolitik werden.

Einwanderung darf nicht dem Zufall überlassen bleiben. Wir brauchen gut durchdachte, praktikable Konzepte, die niemanden überfordern. Wir brauchen den Mut, das Richtige auch dann zu tun, wenn es nicht immer und überall populär ist.

Wir brauchen einen breiten Konsens über Integration und Zuwanderung. Darum bitte ich alle, die in unserer Gesellschaft Auftrag und Stimme haben: Streiten Sie über den besten Weg zu diesem Ziel. Aber so, dass weder Angst geschürt, noch Illusionen geweckt werden.

Wir brauchen auch europäische Abstimmung in der Migrationspolitik. Aber das darf keine Ausrede dafür sein, im eigenen Land nicht zu tun, was getan werden kann.

Viele ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger engagieren sich in unserem Land: in Organisationen und Vereinen, als Selbständige und Unternehmer, die Arbeitsplätze schaffen und Ausbildungsplätze anbieten. Dafür danke ich ihnen.

Ich möchte Sie alle ermutigen:

Beteiligen Sie sich am gesellschaftlichen Leben – in den Stadtteilen und den Schulen, in Gewerkschaften oder in Sportvereinen. Nur wenn möglichst viele mittun, werden wir den ganzen Reichtum erschließen können, der aus dem Zusammenleben von unterschiedlichen Menschen entstehen kann.

Mein dringender Appell ist: Lernen Sie Deutsch! Wenn wir miteinander leben, müssen wir einander verstehen. Wer in Deutschland aufwächst oder neu zu uns kommt, muss Deutsch sprechen und verstehen.

Die Förderung der Integration ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe allererster Ordnung. Wir müssen sie wirklich ernst nehmen. Sie sollte uns so wichtig sein, dass wir dafür eine gesetzliche Grundlage schaffen.

Wir brauchen die Diskussion darüber, wie wir Einwanderung gestalten wollen und welche Regeln dafür nötig sind.

Ich wünsche mir ein vielfältiges und lebendiges Deutschland – friedlich und weltoffen.

Daran zu arbeiten lohnt jede Mühe.

Es kommt nicht auf die Herkunft des einzelnen an, sondern darauf, dass wir gemeinsam die Zukunft gewinnen.

Quelle: Johannes Rau, „Ohne Angst und ohne Träumereien: Gemeinsam in Deutschland leben“, Berliner Rede im Haus der Kulturen der Welt am 12. Mai 2000. http://www.bundespraesident.de/Reden-und-Interviews/Berliner-Reden-,12090/Berliner-Rede-2000.htm