Kurzbeschreibung

1997 hat Bundespräsident Roman Herzog (CDU) die „Berliner Rede“ ins Leben gerufen, um Themen von grundlegender Bedeutung für das Land anzusprechen. Sein Nachfolger, Johannes Rau (SPD), setzte die Tradition fort. Rau thematisiert darin die Vertrauenskrise in Politik und Gesellschaft und ermutigt seine Mitbürgerinnen und Mitbürger, sich aktiv für ein „besseres und menschlicheres Deutschland“ einzusetzen.

Bundespräsident Johannes Raus Berliner Rede (12. Mai 2004)

Quelle

Vertrauen in Deutschland – eine Ermutigung

Berliner Rede 2004 von Bundespräsident Johannes Rau

I.

Das ist die letzte „Berliner Rede“, die ich als Bundespräsident halte. Ich habe in den vergangenen Jahren bei dieser Gelegenheit meine Position zu grundsätzlichen Fragen formuliert. Ich habe Orientierung zu geben versucht, wie die Menschen sie von den politischen Repräsentanten ihres Landes erwarten. Ich habe über die Integration von Zuwanderern gesprochen, über Fortschritt nach menschlichem Maß, über die notwendige Gestaltung der Globalisierung und über Deutschlands Rolle in der Welt.

Ich will heute über das Thema sprechen, das ich in der politischen Debatte derzeit für das wichtigste halte. Und ich wende mich dabei an alle, denen die Zukunft unseres Landes am Herzen liegt – an die, die heute Verantwortung tragen und auch an die, die Verantwortung übernehmen könnten und übernehmen müssten, damit unser Land aus einer schwierigen Lage herauskommt und neue Zuversicht und neue Dynamik gewinnt.

Ich meine nicht die Steuerpolitik, ich rede nicht über das Renten- oder das Gesundheitssystem. Ich rede auch nicht über den notwendigen Umbau des Föderalismus, nicht über die dringend erforderliche Veränderungen in unserem Bildungswesen und auch nicht über die gerechte Umgestaltung des Sozialstaats.

Nein, ich will über das sprechen, was die Grundlage ist für jegliche Veränderung. Ich will über das sprechen, was nach meiner Erfahrung die notwendigen Veränderungen in unserem Land überhaupt erst möglich macht: Ich rede von Vertrauen und Verantwortung.

II.

Seit Jahren schon wird uns ein Bild immer wieder vor Augen gestellt: Wir stehen vor einem riesigen Berg von Aufgaben und Problemen. Wenn wir nicht alles anders machen als bisher, so drohen uns, heißt es, Niedergang, Zusammenbruch, Abstieg oder andere Katastrophen.

Untergangsszenarien und Apokalypsen sind ja eigentlich Mittel von politischen Außenseitern, die gesellschaftliche Veränderungen erzwingen wollen. Heute kommen solche Beschreibungen oft auch von Verantwortlichen aus der Mitte von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Das Ziel ist das Gleiche: Untergangsszenarien sollen mithelfen, bestimmte Ziele durchzusetzen und dafür Mehrheiten zu gewinnen.

Heute, da so viel von Zukunft die Rede ist, ist so wenig Zuversicht zu spüren, so wenig Selbstvertrauen und so wenig Vertrauen in die Zukunft. Viele scheinen von der Zukunft vor allem Schlechtes zu erwarten. Dafür gibt es manchen Grund, und viele Sorgen sind berechtigt.

Entscheidend ist aber: Wo Vertrauen fehlt, regiert Unsicherheit, ja Angst. Angst vor der Zukunft ist der sicherste Weg, sie nicht zu gewinnen. Angst lähmt die Handlungsfähigkeit und trübt den Blick für das, was in Staat und Gesellschaft tatsächlich grundlegend verändert werden muss, was neuen Bedingungen angepasst werden soll und was auf jeden Fall bleiben muss.

Die Zukunft kommt ja nicht einfach auf uns zu. Wir müssen sie nach unseren eigenen Vorstellungen gestalten. Wir wollen schließlich, dass wir auch in Zukunft friedlich und in Freiheit miteinander leben können – in einer Gesellschaft, in der Leistung etwas gilt und die Gerechtigkeit und Solidarität leben.

Wenn wir diese Zukunft gestalten wollen, wenn wir sie menschlich gestalten wollen, dann brauchen wir zweierlei: Vertrauen in die, die für uns Verantwortung tragen und die Bereitschaft, selber Verantwortung zu übernehmen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir die notwendigen Veränderungen schaffen können. Genauso fest glaube ich aber, dass der Mangel an Vertrauen und Verantwortungsbereitschaft der eigentliche Grund für die massive Verunsicherung ist, für die an vielen Stellen pessimistische Stimmung und für die mangelnde Kraft zur Veränderung.

Wir alle wissen: Vertrauen kann man nicht anordnen, nicht befehlen. Vertrauen kann man nicht beschließen. Vertrauen muss wachsen. Vertrauen wächst zwischen einzelnen Menschen, in Gemeinschaften und muss eine ganze Gesellschaft prägen.

Ohne Vertrauen können Menschen nicht friedlich miteinander leben.

Ohne Vertrauen werden wir unsere Probleme nicht lösen.

Erst Vertrauen schafft das Klima für wirtschaftlichen Erfolg, für wissenschaftlichen und sozialen Fortschritt, für technische Innovation.

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XIII.

Auch heute ist unsere Gesellschaft nicht starr. Sie ist in Bewegung.Wir haben wagemutige Unternehmer, international renommierte Forscher und Wissenschaftler, kreative Ingenieure und hervorragend qualifizierte Arbeitnehmer. Sie schauen nach vorn und bringen unser Land voran.

Es gibt viele gesellschaftliche Initiativen. Ehrenamtliches Engagement und Netze, die für sozialen Halt sorgen, die Neues ausprobieren im kleinen und werben für Veränderung im großen. Was an einem Ort gelingt, kann durch die neuen Kommunikationsmittel schnell Schule machen und oft weltweit Bedeutung bekommen.

Ich sehe, dass immer mehr Menschen, auch unter den jüngeren, den Wert der Familie und den Wert von beständigen, verlässlichen Bindungen wieder erkennen. Ich sehe, dass Kinder mehr Zeit und Aufmerksamkeit geschenkt bekommen – das gibt ihnen unschätzbaren Halt und ein Grundvertrauen, das durch nichts zu ersetzen ist.

Gegen alle pessimistischen Töne dürfen wir auch nicht übersehen, wie viele traditionelle oder neue Organisationen und soziale Zusammenhänge funktionieren und wie viel Engagement und Solidarität in Nachbarschaftshilfe, in Selbsthilfegruppen und in vielfältigen Formen ehrenamtlicher Arbeit lebendig sind.

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82 Millionen Menschen leben in unserem Land, das sind 82 Millionen verschiedene Erfahrungen, Begabungen, Stärken und Talente. Vieles davon fließt in unsere Unternehmen, in die Schulen und Hochschulen, in Kunst und Kultur. Dies Potenzial wird für unser Gemeinwesen noch viel zu wenig erschlossen.

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XIV.

Es gibt genug Gründe für Vertrauen in Deutschland. Es gibt noch mehr Gründe, Verantwortung zu übernehmen und sich einzumischen.

Es gibt genug Gründe, darauf zu vertrauen, dass wir in Deutschland die Zukunft meistern werden. Es gibt noch mehr Gründe, sich einzusetzen für unser Vaterland, in dem wir gerne leben.

Es liegt an jedem von uns, dieses Land, unser Land jeden Tag ein Stück besser und menschenfreundlicher zu machen.

Quelle: Johannes Rau, „Vertrauen in Deutschland – eine Ermutigung“, Berliner Rede, 12. Mai 2004. Online verfügbar unter: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2004/05/20040512_Rede.html