Quelle
Die Bewaffnung mit Identität
Eine ethnologische Analyse des deutschen Normalisierungs-Nationalismus am Beispiel Hans-Jürgen Syberbergs
1.
Die Gefahr steckt schon in den scheinbar harmlosen Sätzen, wie sie von demokratisch ausgewiesenen Damen aus dem Präsidium des Evangelischen Kirchentages ausgesprochen werden können oder vom arglosen ostdeutschen Bildungsbürgertum, Oberärzten aus Rostock oder Dresdner Rechtsanwälten mit Hausmusikerfahrung: „Wir können vor unserer Identität nicht davonlaufen“, sagen sie verständig, oder: „Nach der Wiedervereinigung Deutschlands brauchen wir wieder eine gesamtdeutsche Identität.“ Oder schon so aggressiv, daß besonnene Nationalisten mit Bundesrepublikerfahrung abwiegeln: „Fünfundvierzig Jahre Umerziehung haben Ost- und Westdeutschen ihre Identität ausgetrieben.“ Aus dieser „kleinen“ Identitätsphilosophie (die mit Hegels großer wenig zu tun hat) entsteht derzeit in der konzentrierten Anstrengung einer noch halb verdeckt agierenden, reputierlichen, nicht nazistischen Rechten der Normalisierungs-Nationalismus der Deutschen, eine Rekonstruktion. Man greift hinter Hitler zurück, grenzt sich gegen den vulgären antisemitischen und antidemokratischen Terror der Nazis mit klaren, ernstgemeinten Worten ab. Aber kann man bei solch einem Sprung anderswo landen als im Wilhelminismus, in der Tradition von 1871, im hochindustrialisierten, technisch avancierten, ehrgeizigen, tüchtigen Machtstaat mit dem Mitte-Auftrag? Und endete der nicht auch, und zwar noch ohne faschistische Halbidioten, in der europäischen Schlangengrube von 1918, der giftigen, hochgerüsteten Konkurrenz rivalisierender Bestialstaaten?
Dabei ist die Lage unbestreitbar verworren. Von der „Vernachlässigung des Nationalen durch uns alle“ reden auch ziemlich unverdächtige Leute, zum Beispiel Mitglieder der Führung der SPD: Identitätsphilosophie. Der Kampf der französischen und deutschen Filmregisseure gegen die Hollywoodisierung – Kampf um Identität. Haben die Kroaten nicht ein ursprüngliches Recht auf ihre für viele Jahrzehnte unterdrückte Nation? Selbst die linken baskischen Nationalisten schicken freundliche Telegramme nach Zagreb. Ist die Dominanz amerikanischer Massenkultur nicht wirklich ein Problem? Inzwischen fragen wir uns, ob wir die Widerstandsenergien des Black Nationalism weiter feiern können, wenn wir die Gewaltverherrlichung und den Sexismus im Punk der deutschen Ost-Skins zum Teufel wünschen? Andererseits – kann man wirklich die ganze Rock-Emotionalität abwürgen, nur weil sie auch von faschistischen Gefühlen – Vergewaltigungsphantasien, Schwulenfeindlichkeit, Springerstiefel-Brutalität – in Dienst genommen werden kann? Die bewußte Separation von Feministinnen hielten wir doch bisher für politically correct? Was läßt sich also gegen deutsche Identität sagen, wo doch Franzosen (Augstein schreibt es jede Woche) und Polen (der Freiheitsheld Walesa!) viel nationaler sind als die Deutschen?
Einerseits gilt: Selbstzuschreibungen, politische Subjektivitäten, Zusammengehörigkeitsgefühle, miteinander verkettete Kommunikationsmethoden sind unvermeidbar, legitim. Nationen sind empirisch, nicht ideologisch. Andererseits steckt in der Mythisierung von gemeinsamer Geschichte, Sprache, Landnahme und Kultur der Keim von Xenophobie und Nationalismus. Auch eine geringfügige Unschärfe im Blick kann uns Deutsche wieder zu Verbrechern machen. Gegen die achselzuckende Unbekümmertheit der Normalisierer gilt Alexander Kluges raffiniert-einfache Formel: „In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod.“ Der Mittelweg unserer neuerdings wieder forcierten Arglosigkeit, klug „Pragmatismus“ genannt.
2.
Ich präpariere den Normalisierungs-Nationalismus am Beispiel des Regisseurs Hans-Jürgen Syberberg heraus, einer zugegebenermaßen ein wenig exzentrischen Species. Arnulf Baring, Jochen Thies, Reiner Zitelmann, Brigitte Seebacher-Brandt oder Christian Meier, die middle-of-the-road-Leute dieser Richtung, würden sich schütteln. Wozu der pathetische Protest gegen „Siegerästhetik“ und „Umerziehung“? Warum die verschmockte, hochkulturelle, neoklassische Attitüde? Wozu gar (um Himmels willen) der antisemitische Unterton (wer mit den Juden ging wie mit den Linken machte Karriere ...)? Alles Unsinn, würden sie sagen – wir treiben den Deutschen jetzt erstmal die Idee aus, etwas Besonderes gelernt zu haben, den »Sonderweg«, das unnatürlich gespreizte Schuldbewußtsein, wir pragmatisieren sie zu Franzosen und Engländern. Am Rand dieses Wegs mag man dann noch das Berliner Stadtschloß wieder aufbauen und ein paar preußische Tugenden rehabilitieren, aber bitte keine Übertreibungen, sonst plärren gleich die Holländer, Habermas schreibt einen Essay und im „Spiegel“ bekommen die linksliberalen Mainstreamer von gestern erneut das Übergewicht.
Aber Syberberg ist kein Solitär, sondern ein Symptom, der hochsensible, untaktisch offenherzige Repräsentant der Identitätsphilosophie einer nach der Vereinigung wiedererstarkenden deutschen Bildungsbourgeoisie. Er steckt mit einem Bein im feinen nationalrevolutionären Lager, der Mathes- und Seitz-Kultur, bei den Rechts-Foucaultianern, mit dem anderen aber tief in der hergebrachten Innerlichkeit jener Deutschlehrertruppe, die das berühmte Lied „Die Amis haben uns unseren Hölderlin/Bratwurst weggenommen und durch Negermusik und Hamburger ersetzt“ intonieren. Syberbergs wagnerianischer Antisemitismus (ein hochmütiges Ressentiment gegen die Ästhetik von Adorno, Bloch, Benjamin, Marcuse, Kracauer) mag man abziehen, dazu schwingen sich Steffen Heitmanns Verehrer noch nicht auf, vielleicht nie wieder auf. Ansonsten bot Syberberg schon an der Jahreswende 89/90 das, was Botho Strauß und Alain Finkielkraut erst 1993 rausließen und was die schwächeren der von Arbeitslosigkeit, Aids und polnischen Autoknackern geängstigten Absolventen integrierter Oberstufen frühestens 1995 denken werden. Der Normalisierungs-Nationalismus, dargestellt am Beispiel des verstiegenen, aber keineswegs untypischen (und keineswegs gleichgültigen) Künstlers Syberberg enthält sechs Ingredienzen, sechs Diskurse.
(1) Das ist erstens die ganz gewöhnliche Mythisierung von Geschichte, also die Herauspräparierung der Helden- und Leidensstories, der „Epen“, der großen symbolischen Erzählungen, in denen die nationalen Ikonen modelliert werden. […]
(2) Der zweite Lernschritt ist die Landnahme, auch eine bekannte Konstruktion. Syberberg hat da einen Preußen-Tick, den nicht jeder Normalisierungs-Nationalist mitmachen mag, „Preußen als das Rückgrat Europas“, Preußen als Kleistland („Kleist brachte sich um, als er sein Land im Elend sah und keinen Ausweg für sich“). Wirksam und plausibel ist aber die Behauptung einer unlöslichen Verbindung zwischen Land und „Menschenkulturen“. Entscheidend ist das „Gedächtnis“ – „ganz gleich wer da noch wohnt“. […]
(3) Das dritte Motiv ist Authentizität und Ethnizität, das Plädoyer für „Natur“ und gegen die „Plastikwelt“, gegen die „billigen, bequemen, schnellen Wegwerfwaren wie Punk, Pop und Junk“, also das in nationalen Kreisen auf der ganzen Welt beliebte Verdammungsurteil gegen Massen- und gegen kulturelle Phänomene. […]
(4) Zur Feier der „Echtheit“ und „Ursprünglichkeit“ gesellt sich der Klassikdiskurs, nichts Neues natürlich, im deutschen Sprachraum zuletzt von Hans Sedlmeier (Verlust der Mitte), Emil Staiger und Dutzenden anderen immer wieder aufgewärmt, aber fürs nationale Biotop doch von konstitutiver Bedeutung. […]
(5) Typisch deutsch, von anderen Nationalbewegungen also nur teilweise nachvollziehbar, ist die Ostromantik, verbunden mit der Theorie vom Mitte-Auftrag der Deutschen. „Schwer der Gang, härter die Winde“, dichtet Syberberg – »und wer nach dem Osten ging, wußte, was ihn erwartete.« Die Westbindung wird abgetan, propagiert wird Äquidistanz: »Und wenn wir sie nicht wollten, nicht die Amerikaner und nicht die Russen?« Die Zukunft Deutschlands: »Eins sein in der Mitte.« In Anknüpfung an alte geopolitische Konzepte wird die große europäische Macht Deutschland auf den Osten und den Südosten orientiert: […]
(6) Bleibt der älteste und gleichzeitig utopischste Diskurs, der, dem bei uns noch die härtesten Widerstände entgegengesetzt werden, auch von hartgesottenen Normalisierern: die Kritik des totalen Friedens, umgekehrt: die Enttabuisierung des Kriegs. »Der Krieg im alten Sinn«, schreibt Syberberg »war auch ein kulturelles Phänomen. Er entsprach dem naturgemäßen Sein der seßhaften Menschen.« Es gibt Tugenden, die im Krieg besonders leuchten. […]
3.
Die Rede von der »Identität«, heißt das, ist gefährlich. Die Deutschen stecken nach der Vereinigung mitten im Prozeß einer nationalen Identitätskonstruktion, aber im Sinn einer (Hitler aussparenden) Rückwärtsrevidierung. Wo das enden dürfte, ist mit Händen zu greifen: Beim trotzigen Ethnozentrismus der Maxime: Deutschland zuerst. Beim Rückgriff auf die sozialkonservative Binnenmoral eines fehlkonstruierten Nationalstaates. Bei Normalisierung im Sinn von robuster Reduktion von Komplexität, kurz bei Tonio Krögers Sehnsucht nach der blonden Inge, nach den »Wonnen der Gewöhnlichkeit«. Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts eine Rückkehr an seinen Anfang, eine lakonische Kreiselbewegung der Geschichte über fünfzig Millionen Toten – unprätentiös ausgedrückt wäre das entweder zum Speien oder zum Fürchten.
Natürlich heißt das nicht, daß der Terminus »Identität« vergiftet sein muß. Das insinuiert der Satz von Diedrich Diederichsen: »Wer ohne primäre Not Identität verlangt, stiftet oder verehrt, ist ein Faschist.« Dieser Gedanke transportiert zwar die richtige Erkenntnis, daß der Überlebenskampf bedrängter »Nationen«, seien es Völker, Rassen, Jugendkulturen oder sexuelle und religiöse Minderheiten, legitimer ist als die Separation dominierender Kulturen zwecks Entfaltung und Durchsetzung ihrer Eigenheiten. Mit der empörten Replik eines aufgebrachten Normalisierers – ihr wollt der Gay Community zugestehen, was ihr den Deutschen verweigern wollt – könnte man noch fertig werden. Aber es ist nun einmal unvermeidbar, daß Gruppen (also »nations«, »communities«, »Bewegungen«) Subjektivitäten, soziale Konstruktionen, Formen der Kohäsion entwickeln. Nicht die »Nation« und ihr »Patriotismus« ist das Problem, sondern das Zuschleifen des Patriotismus zu einer Waffe.
Deswegen wäre es nicht deutsch-national, wenn sich die Deutschen wie die Franzosen auf einen Kanon, auf ein Kern-Curriculum einigten, falls Heine, Börne, Glassbrenner und Tucholsky genauso dazugehörten wie die Weimarer Klassik. Deswegen wäre es kein Kulturchauvinismus, wenn sich die deutsche und französische Filmindustrie Abspielstätten für ihre Produkte erhielte; falls dieser Protektionismus nicht den elitären Hochmut gegen Pop, Massenkultur und amerikanische Kunst transportierte. Deswegen ist die sorgsame Förderung der rätoromanischen Sprache für einige Tausend Schweizer Bürger keine nationalistische Marotte, sondern eine Rettung von Vielfalt.
Worum es geht, ist, den Gedanken Herders festzuhalten: Jede Sprache, jede Kultur, jeder Code ist ein Gedanke Gottes. Worum es gleichzeitig geht: den Gedanken Fichtes abzuweisen: Deutsch gegen Welsch, Reinheit gegen Vermischung. Die aufklärerische Utopie, die Welt wäre am schönsten, wenn alle Menschen dieselbe »Weltsprache« sprächen, ist arm. Die nationalistische Utopie, die Welt müsse am jeweils eigenen Wesen genesen, ist obskur, terroristisch. Europa, diese Völkermischzone par excellence, muß ohne solche Abziehbilder leben.
Bleibt die bange Frage nach den wiedervereinigten Deutschen. Hans-Jürgen Syberberg, so steht zu befürchten, ist kein Spinner, kein Outcast, sondern ein eitel-unvorsichtiger Avantgardist. Er hat politischen Rohstoff aufgegriffen, der vierzig Jahre unbeachtet auf der Straße lag – und er versteht sich auf Verknüpfungen. Teilen die Ökologen nicht seine Verachtung der Plastikwelt? Kann man die Affekte gegen Jazz und amerikanische Populärkultur nicht geschickt an die linke Kritik der Kulturindustrie anhängen? Läßt sich die Auflösung der Westbindung nicht fabelhaft als gesamteuropäischer Idealismus nach dem Motto „wir lieben Vaclav Havel und Lech Walesa“ verkaufen? Deutschland bewegt sich, Deutschland muß sich bewegen. Aber wohin?
Quelle: Peter Glotz, „Die Bewaffnung mit Identität“, in Die falsche Normalisierung, die unmerkliche Verwandlung der Deutschen 1989 bis 1994, Essays Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main, 1S. 42–50.