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Damit die Deutschen nicht aussterben
Die jüngsten Prognosen des Statistischen Bundesamtes über die künftige Entwicklung der Bevölkerung Deutschlands sind eindeutig. Ohne Veränderung der Geburtenrate und ohne Zuwanderungen wird sie bis Ende der neunziger Jahre um rund eine Million Menschen, im dann folgenden Jahrzehnt um 2,8 Millionen, zwischen 2011 und 2020 um 4,4 Millionen und zwischen 2021 und 2030 um 5,6 Millionen, insgesamt also um etwa 14 Millionen Menschen abnehmen.
Mit dieser Bevölkerungsabnahme geht eine nachhaltige Veränderung der Altersstruktur einher. Der Bevölkerungsanteil der über 60jährigen steigt von gegenwärtig reichlich einem Fünftel bis 2030 auf weit über ein Drittel. Der Anteil der über 80jährigen steigt im gleichen Zeitraum von knapp 4 v. H. auf knapp 7 v. H. der Bevölkerung. Etwa jeder 15. Einwohner Deutschlands ist dann älter als 80 Jahre. Der Anteil der unter 20jährigen geht demgegenüber von gegenwärtig einem Fünftel auf etwa ein Sechstel der Bevölkerung zurück. Die Zahl der über 60jährigen ist also um 2030 mehr als doppelt so hoch wie die Zahl der unter 20jährigen. Um 1950 lagen die Zahlenverhältnisse von über 60jährigen und unter 20jährigen genau umgekehrt.
Tendenziell unterscheidet sich diese Bevölkerungsentwicklung nicht von der anderer Industrieländer. Doch ist sie in Deutschland deutlich weiter fortgeschritten. Während sich in fast allen anderen Industrieländern das Wachstum der einheimischen Bevölkerung nur stark verlangsamt hat oder allenfalls zum Stillstand gekommen ist, ist die Bevölkerungszahl in Deutschland bereits rückläufig. Damit ist die Bevölkerungsentwicklung Deutschlands den Entwicklungen in vielen anderen Industrieländern etwa eine Generation voraus, was unter anderem bedeutet, daß Deutschland als erstes Land Erfahrungen mit einer zahlenmäßig schrumpfenden einheimischen Bevölkerung sammeln muß.
Gegenläufig zur Bevölkerungsentwicklung in den Industrieländern, namentlich in Deutschland, entwickelt sich die Bevölkerung in der übrigen Welt. Hier befinden sich die meisten Länder trotz stark abnehmender Kinderzahl pro Familie noch in einer Phase schnellen Wachstums, die nach Meinung der Vereinten Nationen bis Mitte des nächsten Jahrhunderts anhalten wird.
Bis dahin dürfte sich die Weltbevölkerung von derzeit etwa 5,5 Milliarden auf reichlich 11 Milliarden Menschen verdoppeln. Im gleichen Zeitraum wird sich der Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung von etwa 14 v. H. auf etwa 7 v. H. halbieren. Der Anteil der Bevölkerung Deutschlands würde sogar von gegenwärtig 1,5 v. H. auf 0,6 v. H. zurückgehen.
Die Bevölkerung Deutschlands hat nun verschiedene Optionen:
– Sie kann Vorsorge treffen für ihren zahlenmäßigen Rückgang und den Anstieg des alten Bevölkerungsteils.
– Sie kann ihren zahlenmäßigen Rückgang durch Zuwanderer ausgleichen und dadurch zugleich den Anstieg des alten Bevölkerungsteils verlangsamen.
– Sie kann versuchen, ihre Geburtenrate wieder auf ein bestandserhaltendes Niveau zu heben.
– Sie kann alle drei Vorgehensweisen miteinander verknüpfen.
– Sie kann alles treiben lassen.
Jede dieser Optionen hat ihre spezifischen Vor- und Nachteile.
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Allerdings ist weder die Politik noch die Bevölkerung auf diese Veränderungen eingestellt. Faktisch folgen beide der vierten Strategie und lassen der Entwicklung ihren Lauf. Diese Strategie ist die bei weitem risikoreichste. Ihr Scheitern ist beinahe unvermeidlich. Ob die Schäden, die sie schon jetzt in Wirtschaft und Gesellschaft anrichtet, jemals reparabel sind, ist ungewiß. Deshalb ist für Deutschland ein klares bevölkerungspolitisches Konzept zu entwickeln und hierüber der notwendige politische und gesellschaftliche Konsens herbeizuführen. Kernstücke dieses Konzepts sind:
1. Die Entlastung der Zukunft
Politik und Gesellschaft ignorieren weitgehend die Folgen ihres gegenwärtigen Handelns auf die fernere Zukunft, wobei die fernere Zukunft inzwischen längst zur Gegenwart geworden ist. Die Folge ist deren bedrohliche Überfrachtung. Dies gilt für praktisch alle Lebensbereiche, einschließlich der Bevölkerungsentwicklung. Die Negierung von Zukunftsinteressen ist damit existenzbedrohend geworden. Die gesamte politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung ist deshalb dringend auf ihre langfristige Zukunftsfähigkeit zu überprüfen und gegebenenfalls umzugestalten. Diese Aufgabe ist von der Regierung und der Opposition, den sie tragenden Parteien, der Wissenschaft und Wirtschaft und allen hierzu befähigten Organisationen, Institutionen und Individuen zu leisten.
2. Die Förderung von Kindern
Bis vor etwa einer Generation konnte sich die Bevölkerung darauf verlassen, daß ohne größeren kollektiven Aufwand eine zumindest bestandserhaltende Zahl von Kindern geboren werden würde. Entsprechend gering konnten der Stellenwert von Familienpolitik und die gesellschaftliche Wertschätzung von Kindererziehung sein. Familienpolitik war über lange Zeit kaum mehr als eine politische Restgröße.
Der Grundsatz „Kinder haben die Menschen immer“ (Konrad Adenauer) gilt inzwischen nicht mehr. Damit hat sich die wichtigste Voraussetzung fast aller Politikbereiche, vor allem aber der Wirtschafts- und Sozialpolitik, nachhaltig verändert. Das demographische Fundament, auf dem alle Politik ruht, hat an Tragfähigkeit eingebüßt. Dies erfordert eine durchgreifende Revision politischer Prioritäten.
Stärker als bisher muß Politik unter Beachtung ihrer demographischen Konsequenzen formuliert und praktiziert werden. Dabei muß Familienpolitik einen hohen Rang bekommen. Innerhalb der Sozialpolitik muß sie sogar zum ersten Glied in der Kette aller weiteren sozialpolitischen Maßnahmen werden. Denn ohne solides demographisches Fundament wird das gesamte System sozialer Sicherheit notleidend.
Konkret: Erst wenn die einsichtigen materiellen und immateriellen Bedürfnisse von Kindern innerhalb und außerhalb des Familienverbandes befriedigt sind, können durch die Gesellschaft weitere sozialpolitische Aufgaben erfüllt werden. Die Geburt von Kindern darf in Deutschland nicht aus Gründen materieller Bedürftigkeit unterbleiben. Die Bevölkerung muß erkennen, daß die Erziehung von Kindern ihre vitalste Aufgabe überhaupt ist.
3. Die Formulierung und Praktizierung einer konsequenten Einwanderungspolitik
Bis zum Ende der neunziger Jahre dürfte der Schwund der einheimischen Bevölkerung Deutschlands noch weitgehend durch die Zuwanderung deutschstämmiger Aussiedler ausgeglichen werden können. Weitere Zuwanderungen dürften, zumindest aus demographischen Gründen, nicht erforderlich sein. Mehr noch, sie dürften sowohl die derzeitigen Lebensbedingungen der einheimischen Bevölkerung als auch deren langfristige Altersstruktur verschlechtern. Würden sie dennoch zugelassen – wofür es gute Gründe geben kann –, läge dies ausschließlich im Interesse der Zuwanderer.
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Quelle: „Damit die Deutschen nicht aussterben“, in Marion Dönhoff et al., Ein Manifest. Weil das Land sich ändern muss. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1992, S. 40–50.