Kurzbeschreibung

2017 zog mit der Alternative für Deutschland (AfD) zum ersten Mal seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland eine rechtsextreme Partei in den Bundestag ein. Der niederländisch-amerikanische Politikwissenschaftler Cas Mudde erörtert in diesem Artikel aus dem Guardian den Wahlerfolg der Partei im Kontext der Entwicklungen in anderen europäischen Ländern und erklärt ihre Rolle in Deutschland.

Was der Aufstieg der AfD für Deutschland und Europa bedeutet (September 2017)

Quelle

Was der überwältigende Erfolg der AfD für Deutschland und Europa bedeutet

Die rechtsradikale Partei profitierte von der Tatsache, dass die Einwanderung das wichtigste Wahlkampfthema war. Doch kann dieser Durchbruch von Dauer sein?

1991 erlebte Belgien seinen (ersten) schwarzen Sonntag, als der populistische rechtsradikale Flämische Block 6,8 % der Stimmen im Land erhielt. Seitdem haben viele andere westeuropäische Länder eine ähnliche Erfahrung gemacht, von Dänemark bis zur Schweiz. Und jetzt hat sogar das stets stabile Deutschland seinen eigenen schwarzen Sonntag, und der ist schwärzer als die meisten erwartet hatten.

Die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) zieht nicht nur in den Bundestag ein, sondern wird mit ziemlicher Sicherheit drittstärkste Kraft, mit erstaunlichen 13,3 %, was laut der Wahltagsbefragung einen Zuwachs von 8,8 Prozentpunkten bedeutet. Darüber hinaus erzielten sowohl die Mitte-Rechts CDU/CSU als auch die Mitte-Links SPD mit 32,5 % bzw. 20 % ihre schlechtesten Wahlergebnisse der Nachkriegszeit. Das bedeutet, dass die AfD zwei Drittel der Stimmen der SPD und 40 % der Stimmen der CDU/CSU erhalten hat.

Aus Umfragen der deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender geht hervor, dass die AfD ihre Hochburgen im ehemaligen kommunistischen Osten des Landes hat. Während sie in Westdeutschland im Durchschnitt 11 % der Stimmen erhielt, waren es in Ostdeutschland 21,5 %, also fast doppelt so viel. Dies deckt sich mit ihren Ergebnissen bei den Landtagswahlen, bei denen die AfD im Osten ebenfalls ihre größte Unterstützung erhielt.

Die AfD erhielt mehr Stimmen von bisherigen Nichtwählern (1,2 Millionen) als von der CDU/CSU (1 Million) oder der SPD (500.000). In vielerlei Hinsicht ist dies ein Anti-Merkel-Votum, das den Widerstand gegen ihre umstrittene Willkommenspolitik gegenüber Flüchtlingen widerspiegelt, die nicht nur einige Wähler der etablierten Parteien zum Wechsel veranlasste, sondern auch bisherige Nichtwähler mobilisierte. Dieselbe Umfrage zeigt zum Beispiel auch, dass 89 % der AfD-Wähler der Meinung sind, dass Merkels Einwanderungspolitik die „Sorgen des Volkes“ (d. h. der deutschen Bürger/innen) ignoriert; 85 % wollen stärkere nationale Grenzen; und 82 % sind der Meinung, dass 12 Jahre Merkel genug sind. Mit anderen Worten: Die AfD hat eindeutig von der Tatsache profitiert, dass die Einwanderung das wichtigste Thema bei diesen Wahlen war.

Bedeutet dieses schockierende Ergebnis, dass die AfD in Zukunft die dritte Kraft in der deutschen Politik sein wird? Es gibt viele Gründe, dies zu bezweifeln. Zunächst einmal ergab die Umfrage, dass erstaunliche 60 % der AfD-Wähler „gegen alle anderen Parteien“ stimmten und nur 34 % aus Überzeugung für die AfD. Dies steht in krassem Gegensatz zu den Wählern aller anderen Parteien. Mehr als 70 % sagten, dass es gut wäre, wenn man außerhalb Bayerns die CSU wählen könnte – die CSU ist eine viel konservativere und rechtere Partei als Merkels CDU, tritt aber nur im südlichen Bundesland zur Wahl an – während 86 % der Meinung sind, dass sich die Partei nicht genug von „rechtsextremen Positionen“ distanziert.

Kurz gesagt, die Beziehung zwischen der AfD und ihren Wählern ist schwach und wird hauptsächlich durch die Ablehnung anderer Parteien und weniger durch die Unterstützung der AfD selbst bestimmt. Und über ihre eigenen Wähler hinaus scheint die AfD immer noch sehr umstritten zu sein. Nur 12 % aller Deutschen waren mit der politischen Arbeit von Alice Weidel, der gemeinsamen Vorsitzenden der AfD mit Alexander Gauland, zufrieden. Das war der mit Abstand niedrigste Wert aller Parteivorsitzenden; sogar deutlich niedriger als die 44% für die höchst umstrittene Sahra Wagenknecht, stellvertretende Vorsitzende der radikalen Linken.

Hinzu kommt, dass der Durchbruch bei Wahlen etwas anderes ist als die Beharrlichkeit bei Wahlen. Den meisten neuen Parteien im Allgemeinen und den populistischen radikalen Parteien im Besonderen fällt es schwer, eine große, kohärente Fraktion im nationalen Parlament zu bilden. Dies gilt insbesondere für rechtspopulistische Parteien in Deutschland, wie wir bereits in den 1990er Jahren mit den Republikanern und der Deutschen Volksunion in den Landesparlamenten gesehen haben. Auch die AfD hat in mehreren Landtagen mit Querelen zwischen „Gemäßigten“ und „Extremisten“ zu kämpfen. Dies wird in ihrer rund 90-köpfigen Bundestagsfraktion noch schlimmer sein, in der mehrere ideologische und regionale Unterfraktionen vertreten sein werden, von einigen wenigen „bürgerlichen Konservativen“ bis hin zu einer Mehrheit von populistischen Rechtsradikalen und einigen Extremisten.

Die deutschen Ergebnisse werden die Rückkehr des „Aufstiegs des Populismus“ befeuern, der 2016 und Anfang 2017 dominiert hat, aber durch die Wahlen in den Niederlanden und – insbesondere – in Frankreich etwas gedämpft wurde. Wie alle anderen Wahlen sind auch die deutschen Wahlen in erster Linie nationale Wahlen, aber es gibt auch allgemeinere Lehren zu ziehen.

Erstens: Während die rechtspopulistischen Parteien 2016, auf dem Höhepunkt der Hysterie über die „Flüchtlingskrise“, in den Umfragen ihren Höhepunkt erreichten, liegen ihre Wahlergebnisse 2017 immer noch nahe bei oder sogar über ihren historischen Spitzenwerten. Das gilt für die niederländische Freiheitspartei, den französischen Front National und nun auch für die AfD in Deutschland. Umfragen zufolge wird dies auch für die österreichische Freiheitliche Partei gelten, die nach den Parlamentswahlen im nächsten Monat in die Koalitionsregierung eintreten soll.

Zweitens haben sich in den letzten Jahren mehrere rechtspopulistische Parteien radikalisiert und in populistische rechtsradikale Parteien umgewandelt, wie die AfD, die Partei der Finnen in Finnland und Ukip in Großbritannien. Dies führt immer zu internen Kämpfen und zum Austritt „gemäßigterer“ Kader, die oft ihre eigene neue Partei gründen, während die große Mehrheit der Anhänger/innen bei der radikaleren Partei bleibt, wie es auch beim Front National in den 1990er Jahren und der österreichischen Freiheitlichen Partei in den frühen 2000er Jahren der Fall war.

Drittens schließlich gewinnen rechtspopulistische, radikale Parteien in immer mehr europäischen Ländern Stimmen und Sitze, während die etablierten rechten und vor allem linken Parteien diese langsam aber stetig verlieren. Das bedeutet, dass die Parteiensysteme immer stärker zersplittert sind und eher von einer oder zwei mittleren als von großen Parteien dominiert werden. In einer solchen zersplitterten Struktur können rechtspopulistische Parteien sehr einflussreich werden, auch wenn sie eher hinderlich als konstruktiv sind, selbst wenn sie „nur“ 10 oder 15 % der Stimmen erhalten.

Im Moment behaupten Kommentatoren, die deutsche Politik habe eine „seismische Erschütterung“ erlebt. Das ist richtig, aber das aktuelle Wahlergebnis zeigt vor allem eine Abkehr von den etablierten Parteien und keine Neuausrichtung auf die AfD. Damit dies geschehen kann, muss die AfD eine kohärente und geschlossene Fraktion bilden, in der es wenig interne Kämpfe und persönliche Skandale gibt. Ausgehend von der deutschen Geschichte und den europäischen Präzedenzfällen ist das höchst unwahrscheinlich.

Quelle: Cas Mudde, “What the Stunning Success of AfD Means for Germany and Europe”, The Guardian, 24. September 2017.

Übersetzung: GHDI staff