Kurzbeschreibung

Das Gespräch des Autors Landolf Scherzer mit Annegret S., einer Buchhändlerin in Thüringen, verdeutlicht die beruflichen Unsicherheiten, die in Folge der Vereinigung auf die Bürger der ehemaligen DDR zukamen. Nach der Wende sei das Leben so spannend gewesen wie sonst nur in Büchern, meint die Gesprächspartnerin, die trotz vieler Widrigkeiten ihre eigene Buchhandlung eröffnet hat und der es „im Vergleich zu anderen noch gut“ ginge. Trotzdem sieht sie sich als Verliererin der Vereinigung.

Privatisierung einer Volksbuchhandlung (ca. 1993)

  • Landolf Scherzer

Quelle

Der zwölfte Tag

Während der Landrat in Schmalkalden über das Wohl und Wehe des Kreises Bad Salzungen, über Aufteilung oder Fortbestand, verhandelt, fahre ich – dieses Mal allerdings angemeldet – zu seinem Freund René. Und weil ich schon eine Stunde vor der Verabredung mit ihm in Stadtlengsfeld bin, gehe ich in das Café, das ich kenne. Nur eine etwa vierzigjährige Frau mit wuschligen schwarzen Haaren und noch jugendlich strahlenden braunen Augen sitzt dort. Trinkt Kakao. Ich setze mich zu ihr, und anscheinend ist sie froh darüber, denn ohne daß ich mühsam ein Gespräch beginnen muß, erzählt sie, daß sie Kurpatientin in der hiesigen alten Wasserburg sei. Dort würden neuerdings auch Frauen mit psychischen Problemen behandelt. Nein, sie hätte es natürlich nicht mit dem Kopf, aber wäre, wie andere Frauen auch, schlecht über die Wende gekommen. Allerdings ginge es ihr im Vergleich zu anderen noch gut. Ihre Zimmergenossin beispielsweise, eine ehemalige LPG-Vorsitzende – nach der Wende LPG weg, Mann weg, Häuschen weg und Grund und Boden weg! Sie dagegen hätte nach der Wende sogar dazugewonnen []

Sie stellt sich vor und läßt mir ein Glas Rotwein bringen. „Annegret S. Buchhändlerin in einer Thüringer Kleinstadt.“ 1970 hätte sie ihre Lehre als Buchhändlerin in der Volksbuchhandlung begonnen, die ihr inzwischen sozusagen „gehören“ würde. „Schon als Kind bestand die Welt für mich eigentlich nur aus Büchern. Wenn ich in die Bibliothek ging, nahm ich heimlich auch den Leseausweis meiner Mutter und den meines Vaters mit. Für mich lieh ich Märchenbücher aus, für meine Mutter Liebesromane und für meinen Vater Kriminal- oder Indianerbücher. Und alle habe ich gelesen.“

Seit fast dreißig Jahren Buchhändlerin, kenne sie aus der Weltliteratur natürlich die aufregendsten Geschichten. Aber nach der Wende hätte sie nichts mehr lesen müssen, da hätte sie die spannendsten Geschichten live erlebt.

Beispielsweise, als die Volksbuchhandlung dem Volk zur Privatisierung angeboten worden ist.

„Aber ich konnte mir trotz aller Phantasie damals nicht vorstellen, daß in unserem Laden keine Bücher, sondern vielleicht Matratzen oder Kochtöpfe oder Hamburger verkauft und wir sechs Buchhändlerinnen keine neue Arbeit finden würden. Also meldete ich mich bei der Gebäudewirtschaft und sagte: „Ich werde einen Kredit nehmen und die Buchhandlung pachten!“ Doch damals hatte ein Wessi schon Ansprüche angemeldet, und einen Kredit konnte ich nur bekommen, wenn er mir einen langfristigen Mietvertrag gewährte. Ich nahm all mein bißchen Mut zusammen und fuhr mit dem Trabi zu ihm nach Köln. Und der schickte mir eine Woche später wirklich einen Zehn-Jahres-Mietvertrag, und ich erhielt den Kredit und pachtete unsere Buchhandlung! Doch als ich schon das erste Geld für die Renovierung ausgegeben hatte, schrieb er mir noch einen Brief. Und teilte mit, daß er andere Pläne hätte, er nähme seine Zusage zurück. Danach mußte ich den Käufern, die er herschickte, das Haus zeigen. Ein Türke wollte ein Döner-Restaurant daraus machen. []

In letzter Not, damals war ich wirklich reif für die Psychiatrie, hat mir die Gebäudewirtschaft, ihr gehörte das Haus trotz des Westanspruchs ja noch, einen unkündbaren Zwölf-Jahres-Mietvertrag für die Buchhandlung gewährt. Egal, wer das Haus kauft.“

Nach dem Mietvertrags- und Kreditkrimi hätte sie angenommen, das Schlimmste sei vorbei. Aber dann wäre die Nacht vom 30. April zum 1. Mai gekommen. „Da bin ich abends als Buchhandels-Halbtagskraft ins Bett, daß heißt, ich bin in der Nacht überhaupt nicht ins Bett gegangen – und am Morgen, am Kampftag der Werktätigen, als Unternehmerin aufgestanden. Plötzlich war ich die Chefin der fünf Kolleginnen geworden, mit denen ich jahrelang zusammen gearbeitet hatte, während der Arbeitszeit einkaufen gegangen war, zum Arzt, Kaffee gekocht.

[] Doch nun kostete es plötzlich mein Geld, wenn eine von ihnen wie früher während der Arbeitszeit Kaffee kochte oder zu lange Pause machte. Vor einigen Wochen mußte ich das einer Kollegin sehr deutlich sagen. Ich saß mit ihr hinten im Büro, schimpfte, bis sie plötzlich heulte. Sie heulte so gottserbärmlich, daß ich blöde Gans plötzlich mitheulen mußte. Ich, die Unternehmerin!“

Quelle: Landolf Scherzer, Der Zweite. Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1997 (die Originalausgabe erschien 1997 im Aufbau-Verlag; Aufbau ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG)