Kurzbeschreibung

Im Jahr 1999 veröffentlichten der britische Premierminister Tony Blair und der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder ein gemeinsames Strategiepapier, um eine Agenda für die europäischen Mitte-Links-Parteien zu skizzieren. Zehn Jahre später analysiert der Politikwissenschaftler Helmut Wiesenthal den Einfluss und die Probleme dieser Agenda mit besonderem Bezug auf die SPD.

Der „Dritte Weg“ Gerhard Schröders und Tony Blairs (Rückblick, 2010)

Quelle

Was ist schiefgelaufen auf dem „Dritten Weg“?

[] Mit Konzepten eines „Dritten Wegs“ versuchten sozialdemokratische Parteien, sich nach einer längeren Oppositionsphase neu zu erfinden: so Bill Clintons New Democrats in 1992, Tony Blairs New Labour 1997 und Gerhard Schröders Neue Mitte ein Jahr später. Es galt, eine Alternative zu Thatcherismus und Reaganomics auf der einen Seite und den gescheiterten Projekten des Sozialismus auf der anderen zu formulieren. []

Was vom Dritten Weg bleibt

Was ist aus den Konzepten des Dritten Wegs bzw. der Neuen Mitte geworden? Einige ihrer Elemente haben tatsächlich Eingang in sozialdemokratische Regierungspraxis gefunden, aber wurden später in der Opposition wieder fallengelassen. Das gilt v.a. für die von der Globalisierung nahegelegte Akzeptanz flexibler Märkte, die Ergänzung der bevorzugten Nachfrage- durch eine wettbewerbsorientierte Angebotspolitik und eine engere Partnerschaft von Regierung und Wirtschaft, die sich in niedrigeren Unternehmenssteuern und verbesserten Investitionsanreizen äußerte. Anders als zuvor waren Sozialdemokraten auch bereit, sich als Anwalt des Mittelstands und Förderer von Selbständigkeit auszuweisen. Zum Abbau der Arbeitslosigkeit gemäß dem Motto „Beschäftigung vor Welfare“ setzte man auf Flexibilität und den Abbau von „Überregulierung“. Minderwertige Beschäftigungsformen wurden ausdrücklich gutgeheißen, weil jede Variante bezahlter Arbeit als besser denn Arbeitslosigkeit angesehen wurde.

Fragt man nach Themen und Gesichtspunkten aus der „Dritter Weg“-Diskussion, die auch in Oppositionszeiten aktuell geblieben sind, so findet man an erster Stelle die nachhaltige Aufwertung der Bildungspolitik, die einerseits stärker als früher auf öffentliche Hilfen zur frühkindlichen Erziehung und Bildung setzt und andererseits der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Universitäten hohen Wert zumisst. Selbstverständlicher als in der Vergangenheit erscheint auch das Gebot der sozialen Inklusion durch Erwerbsbeteiligung, was sich zum einen in der Ablehnung von Alimentierungsvorschlägen á la bedingungslosem Grundeinkommen äußert und zum anderen in der Bereitschaft, den Individuen ein gewisses Maß an persönlicher Verantwortung hinsichtlich ihrer Lern- und Veränderungsbereitschaft abzuverlangen. Formeln wie „keine Rechte ohne Verpflichtung“ oder „fördern und fordern“ scheinen heute mit dem Solidaritätspostulat vereinbar.

Akzeptiert ist auch die Etablierung einer „privaten“ Säule der sozialen Sicherung – in Gestalt der Zusatzversicherungen für Altersrenten und Gesundheitsleistungen. Damit wurde de facto die Abkehr von der Idee eines allzuständigen Staats vollzogen. Dieser muss nicht mehr als alleiniger Anbieter und Finanzier auftreten, sondern darf sich als Organisator und Garant auf die Gewährleistungsfunktion beschränken: „legal welfarism“ statt „fiscal welfarism“. Auch ergab sich im Wettbewerb mit den Grünen ein erweitertes Verständnis von Umwelt- und Energiepolitik, dem es nicht mehr nur um Arbeitsplätze, sondern auch um die Sicherung der Zivilisationsgrundlagen geht. Schließlich färbte auch New Labours medienorientierte Form der politisch-kulturellen Kommunikation („spin doctoring“) auf die SPD ab.

Der Dritte Weg bei Schröder und Blair

Andere Elemente des Dritten Wegs sind in ihrem Stellenwert für sozialdemokratische Politik sehr bald abgewertet worden. Das betrifft insbesondere den Vorrang von Arbeitsmarkt-Inklusion vor Transferansprüchen. Im Sinne einer strikten Outsider-Orientierung postulierte das Schröder/Blair-Papier „Teilzeitarbeit und geringfügige Arbeit sind besser als gar keine Arbeit“. Die Wahlniederlagen regten offenbar zur Rückbesinnung auf die Stammwählerschaft an, die zum überwiegenden Teil in regulären Beschäftigungsverhältnissen steht und sich durch eine dezidiert outsider-orientierte Politik bedroht sieht. Der Kurswechsel zum Insider-Schutz manifestiert sich im Plädoyer für Mindestlöhne und „gute Arbeit“ sowie in der Ablehnung aller atypischen („prekären“) Jobs.

Ebenfalls verschwunden ist die positive Besetzung von individueller „entrepreneurship“ im Sinne der (Befähigung zur) erfolgreichen Selbstbehauptung am Markt. Wollte man laut Schröder/Blair-Papier noch „das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen (an die soziale Sicherung, H.W.) in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln“, so hat heute die Bewahrung des zu Boomzeiten und vor der demographischen Wende entstandenen Sicherungsniveaus Vorrang.

Andere Themen, die in der britischen Variante des Dritten Wegs Beachtung fanden, blieben in der deutschen Sozialdemokratie von vornherein randständig oder bedeutungslos. []

Aus dem Schicksal des Dritten Wegs lernen

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War der SPD-Wahlerfolg von 1998 nicht unwesentlich durch den Wunsch nach einem Ende des „Sozialabbaus“ der Kohl-Regierung befördert, so provozierte das Schröder/Blair-Papier – wenige Monate nach dem Rückzug Oskar Lafontaines – einen Schock in der SPD. Mitglieder und Gewerkschafter waren durch die Oppositionsrhetorik der vergangenen Jahre denkbar schlecht auf eine pro-aktive Position zu Globalisierung und technologisch-strukturellem Wandel vorbereitet. Was vielleicht noch vor der Wahl als Modernitätsausweis getaugt hätte, erschien ein Jahr nach der Wahl als zynische Inszenierung eines Traditionsbruchs, für den man keine unabweisbare Notwendigkeit erkennen mochte. So beklagte man die „Umwandlung der SPD zu einer Partei (..), die von ihrer Geschichte endgültig Abschied nimmt“ (Arno Klönne).

Höchstens einer Minderheit leuchtete ein, warum bisherige Grundüberzeugungen aufgegeben werden sollten: die Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit als Gleichheit im Ergebnis; ein Fortschrittsverständnis, das im Wachstum öffentlicher Ausgaben aufgeht; die Unterstellung, der Staat könne die Individuen jederzeit vor den Risiken und Folgen des wirtschaftlichen Wandels schützen und ihnen eigene Vorsorgepflichten ersparen; und nicht zuletzt ein peinlich verkürzter Zeithorizont staatlicher Verantwortung, in dem sich der zunehmende Anteil der Rentenbezieher ignorieren lässt.

Der Verzicht auf einen schwierigen Prozess der Selbstaufklärung hatte fatale Wirkungen. Sie manifestierten sich am Schicksal der Agenda 2010 und dem enormen Verschleiß an Parteivorsitzenden. []

Aus dem Schicksal des Dritten Wegs lernen

Wie sehr die teils gescheiterte, teils versäumte Selbstaufklärung der SPD auf die Gesellschaft zurückwirkt, ist an der Gründung der WASG und ihrer Vereinigung mit der PDS ablesbar. Daraus resultierte das heutige Fünf-Parteiensystem mit seinen veränderten Koalitionsoptionen. Sie sind der SPD Veranlassung, sich den Positionen der orthodox-linken Kritik anzunähern. Ähnlich wie die Linkspartei – aber oft wider besseres Wissen – bestreitet die SPD-Führung nun, dass die Konzepte des Dritten Wegs geeignet waren (bzw. noch sind), den Zielen sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Prosperität näher zu kommen. Als vermeintlich bessere Alternativen werden genannt: weniger Markt und mehr politische Intervention, die striktere Regulierung von Arbeitsverhältnissen, die höhere Besteuerung von Unternehmen und vermögenden Haushalten, die Rückkehr zur Politik der Arbeitszeitverkürzung und, last but not least, die wenig realistische Aussicht, den Beschränkungen nationaler Wirtschafts- und Sozialpolitik durch engere Koordination im Rahmen der EU zu entkommen.

Von Linkspartei und einer tendenziell sozialdemokratisierten Union unter Druck gesetzt, gilt der SPD die Ausrichtung am „median voter“ nicht mehr als opportun. Man setzt darauf, durch Rückbesinnung auf markt- und kapitalkritische Traditionen den linken Rand des Parteienspektrums zurückgewinnen und gleichzeitig im Bündnis mit einer oder zwei Parteien der Mitte wieder an die Regierung gelangen zu können. Doch diese „Strategie“ hat ihren Preis, nämlich wiederum jene schwierigen Klärungsprozesse zu vertagen, die die Partei befähigen, Wirtschafts, Sozial- und Gesellschaftspolitik auf der Höhe der Zeit zu betreiben.

Ohne diskursive Vorbereitung auf die Welt, wie sie ist, droht nur die Wiederholung des Musters aus unverstandenen Reformen, schmerzvoller Wählerenttäuschung, Identitätskrise der Partei und zwangsläufigem Machtverlust, also ein erneuter Marsch durch den Sumpf der oben beschriebenen Dilemmata. Jetzt wäre noch Zeit, die Lehren aus dem Schicksal des „Dritten Wegs“ zu ziehen.

Quelle: Helmut Wiesenthal „Was ist schiefgelaufen auf dem ,Dritten Weg‘?“, Heinrich Böll Stiftung, 21. Juni 2010. Online verfügbar unter: https://www.boell.de/de/navigation/akademie-dritte-weg-sozialdemokratie-9474.html