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Die große Hartz-Hysterie
Deutschland in Angst: Die geplanten Sozialkürzungen versetzen nicht nur die wirklich Betroffenen in diffuse Untergangsstimmung. Die Strategen von CDU und FDP gehen bereits auf Distanz – zu sich selbst. Hauptprofiteur der lustvoll geschürten Panik ist die PDS.
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„Hartz IV muss weg.“ Durch das Land schwappt eine sommerliche Empörungswelle, die ihren Ausgangspunkt in den tristen Wohnquartieren von Leipzig-Grünau, Berlin-Marzahn und Hamburg-Steilshoop nahm und von dort nahezu alle Schichten der Bevölkerung erfasste. Die schon bisher ungeliebte Reformagenda 2010 von Bundeskanzler Gerhard Schröder, in der die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe die zentrale Rolle spielt, stößt auf erbitterten Widerstand, der mit den tatsächlich verabschiedeten Kürzungen kaum zu erklären ist. Denn nicht allen, die heute staatliche Transferleistungen beziehen, wird es ab Januar schlechter gehen. Erfolg oder Misserfolg der Reformen sind frühestens in einem Jahr zu besichtigen, wenn die Arbeitslosenzahl, wie von Schröder versprochen, sinkt. Oder, wie von seinen Kritikern befürchtet, auf neue Rekordstände klettert.
Doch die momentane Empörungswelle duldet kein Innehalten. Sie hat die Argumente
der Reformer fortgespült und ist nun dabei, auch die Reformbefürworter aus den Reihen von Union und FDP zu erfassen. Nicht ohne Grimmen wird im Kanzleramt registriert, dass sich unter der Wucht der Wut all jene von Schröder abwenden, die gestern noch mit ihm das Hartz-Paket durch den Bundesrat gepaukt hatten. Deutschland, so scheint es, kennt keine Parteien mehr – nur noch Hartz-Gegner. Vom „Raubzug gegen die Langzeitarbeitslosen“ spricht CDU-Präside Hermann-Josef Arentz. Eine „Politik gegen den historischen Kern der Sozialdemokratie“ hat SPD-Sozialexperte Ottmar Schreiner ausgemacht. Selbst Politiker, denen der Abbau des Wohlfahrtsstaats bislang gar nicht radikal genug ausfallen konnte, entdecken ihr Herz für die scheinbar oder tatsächlich Gebeutelten.
CDU-Wirtschaftsexperte Friedrich Merz etwa, der gerade noch den Kündigungsschutz
komplett abschaffen wollte, kritisiert die Arbeitsmarktreform als „Maut plus Dosenpfand hoch zehn“. CSU-Chef Edmund Stoiber, der im Quartalstakt die Sozialhilfe kürzen will, beklagt eine „soziale Schieflage“. FDP-Chef Guido Westerwelle findet das ganze Vorhaben „sehr weit weg vom Leben“. Vor allem aber offenbaren die Politiker, dass sie bei der Sommerdebatte anscheinend unter einer Art kollektivem Gedächtnisverlust leiden. Denn erst im vergangenen Dezember hatten sie – mit Ausnahme der von der PDS mitregierten Länder – der Reform im Bundesrat zugestimmt: FDP wie SPD, Union wie Grüne. Nun gerieren sich selbst die jeweiligen Parteivorsitzenden so, als hätten sie mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun: CDU-Chefin Angela Merkel entdeckte in der von ihr wesentlich mitgestalteten Reform den „sozialen Abstieg vieler“. Und Grünen-Chef Reinhard Bütikofer forderte, über die „Anrechnung eigenen Sparvermögens“ noch einmal „nachzudenken“. Mit einem besonders trickreichen Argument versuchen sich derzeit die ostdeutschen Minister-präsidenten Matthias Platzeck (SPD) oder Georg Milbradt (CDU) aus der Verantwortung zu stehlen. Aus Angst vor der Wut ihrer Wähler behaupten sie, im Bundesrat gegen die Reform gestimmt zu haben. Tatsächlich hatten sie ihr Veto aber lediglich gegen die neu geordneten Verwaltungszuständigkeiten eingelegt. Den geplanten Leistungskürzungen stimmten sie ausdrücklich zu.
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Befeuert wird die Hysterie von manchen Medien. Seit Wochen berichten Reporter der Super Illu („Der Osten brennt“) über Schicksale wie dem von Manja Kling aus Neubrandenburg, die nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll. Dabei zählt die allein erziehende Mutter mit ihren zwei Kindern zu den Gewinnern der Reform: Sie wird vom kommenden Jahr an sogar mehr in der Tasche haben als heute. Mit den Fakten nimmt es auch der Mitteldeutsche Rundfunk in seinem Nachrichtenmagazin Exakt nicht so genau. Musikalisch untermalt vom schwermütigen Gebimmel einer Friedhofsglocke, berichtete der Sender über den Fall von Hans-Jürgen Tengler, dem es jetzt „ans letzte bisschen Eigentum“ gehe: seine Gartenlaube. Dabei haben sich die Regeln ausgerechnet in diesem Punkt nicht geändert. Auch die Bild-Zeitung ruft zur Hartz-Hetzjagd und
veröffentlichte ein fiktives „Zusatzblatt Kind“ („Wiegen deine Playmobil-Figuren mehr als ein Kilo?“), das es – so Bild listig – natürlich „nie geben darf“. Der Gewinner des sommerlichen Durcheinanders aus berechtigten Bedenken, diffuser Angst und populistischer Polemik steht bereits fest: die PDS. In die Wahlkämpfe in Sachsen und Brandenburg wird sie mit dem viel versprechenden Motto ziehen: „Hartz IV – das ist Armut per Gesetz“. Und weil die Protestpartei sich auch als eine Art postsozialistischer Selbsthilfeverein in Szene setzen will, bietet sie neben der geballten Faust auch die helfende Hand.
Im PDS-Büro von Jüterbog, im Süden Brandenburgs, verspricht die Partei wie derzeit überall im Osten: „Hier Hilfe beim Ausfüllen des Hartz-Fragebogens“. Gleich am ersten Tag wurden über 60 Hilfesuchende angelockt – in der Hand die Fragebögen der Bundesagentur, Versicherungspolicen und Sparbücher. „Die Leute waren vollkommen hilflos“, sagt Maritta Böttcher. Die Frau, die es in der SED zur 1. Kreissekretärin gebracht hatte, saß bis zum Jahr 2002 als PDS-Abgeordnete im Bundestag. Inzwischen leitet sie die Bundesgeschäftsstelle der PDS in Berlin. Von dort wird ostweit der Widerstandswille gestärkt.
Kaum hatte die Bundesagentur für Arbeit an Hunderttausende Arbeitslose ihre Fragebögen verschickt, bekamen alle PDS-Kreisverbände eine mahnende Mail von der Genossin in der Zentrale: Es komme jetzt darauf an, „Partei für den Alltag“ zu sein und „überall vor Ort ein- bis mehrmals wöchentlich ein Hilfsangebot zu unterbreiten“. Es ist auch Hilfe zur Selbsthilfe für eine bereits totgesagte Partei. Mit kläglichen vier Prozent hatte die PDS vor zwei Jahren den Einzug in den Bundestag verfehlt, ihre Top-Funktionäre waren in tiefe Grabenkämpfe verstrickt. Nun stehen sie vor einem erstaunlichen Comeback. Was das Hochwasser für Kanzler Schröder im Wahlkampf 2002 war, das ist für die Postkommunisten „Hartz IV“ die letzte Rettung. Dabei kennen die Ostgenossen keinerlei Hemmungen. PDS-Bundesgeschäftsführer Rolf Kutzmutz polemisiert gegen den „brutalstmöglichen Sozialabbau“. Einen „wild entschlossenen Sozialräuber“ nennt die Berliner PDS-Frau Petra Pau Wirtschaftsminister Clement. Nur zu genau kennen die Genossen die verunsicherte ostdeutsche Seele. Eine diffuse Mischung aus berechtigter Furcht, chaotischer Informationspolitik der Bundesregierung, kompletten Falschinformationen und einem Wirrwarr aus immer neuen Reformvorschlägen macht den Ossis derzeit zu schaffen. Im Schnitt liegt die Arbeitslosigkeit zwischen Rügen und Thüringer Wald bei knapp 19 Prozent. Den Versprechungen der Politik, endlich Jobs zu schaffen, schenken sie längst keinen Glauben mehr.
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Auch Andreas Ehrholdt aus dem 400 Einwohner-Ort Woltersdorf weiß, was Arbeitslosigkeit bedeutet. Seinen Job als Transportarbeiter bei der Deutschen Reichsbahn hatte der Mann aus Sachsen-Anhalt gleich nach der Wende verloren. Danach kam er nie wieder richtig auf die Beine. Er versuchte es als Selbständiger, als Wachschützer, als Pizza-Bäcker. Ehrholdt schulte um auf Bürokaufmann. Nur einen Job fand er nicht. Dafür wurde er bekannt, seit er auf die Idee kam, in Magdeburg die Montagsdemonstrationen der Wende wiederzubeleben, diesmal im Kampf gegen Arbeitslosigkeit: „Das Maß ist an Sprüchen voll. Es ist an der Zeit loszumarschieren.“ Ehrholdt bastelte zu Hause 200 Plakate mit einem Demo-Aufruf und meldete bei der Polizei für den 26. Juli die erste Versammlung auf dem Domplatz an. Die Beamten meinten, er müsse angeben, wie viele Leute kommen. Ehrholdt zuckte die Schultern. „Machen wir 100“, schlug der Polizist vor. „Na ja, nicht so pessimistisch. 200 müssen es werden“, hielt der Organisator gegen. Am Ende kamen 600. Am vergangenen Montag kamen bereits 6000. Für diesen Montag hat Ehrholdt 12 000 Demonstranten angemeldet. Mehrere andere Städte ziehen nach – in Leipzig, Dresden, Suhl werden die Menschen auf die Straße gehen. Der Segen dafür kommt auch noch von einem prominenten Sozialdemokraten: „Wer arbeitslos wird, gerät mit Hartz IV in die Armutsfalle“, schreibt Theologe Friedrich Schorlemmer im Neuen Deutschland, „die SPD schaufelt sich ihr Grab.“ Die Wutwelle, die durch Ostdeutschland rollt, könnte demnächst die ersten politischen Folgen haben. Wahlforscher prognostizieren der PDS für die bevorstehenden Landtagswahlen große Zugewinne. In Brandenburg, wo einst Manfred Stolpe
54 Prozent errang, könnte dessen Nachfolger Platzeck Opfer jener Mischung aus Volkszorn und Panikmache werden, mit der PDS-Kandidatin Dagmar Enkelmann gegenwärtig durch die Säle zieht. Hartz IV, räumt SPD-Sozialminister Günter Baaske ein, „könnte uns das Genick brechen“. Die Wut trifft generell die Obrigkeit. Sachsens CDU-Ministerpräsident Milbradt muss um seine sicher geglaubte absolute Mehrheit fürchten. 44 Prozent sagten ihm vergangene Woche plötzlich nur noch die Wahlforscher voraus. Nun tönt er fast wortgleich wie die PDS, Hartz IV müsse gestoppt und verschoben werden.
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Tatsächlich wird die „größte Sozialreform der Geschichte“ (Clement) die gut drei Millionen Langzeitarbeitslosen der Republik höchst unterschiedlich treffen. Wer vor dem Sturz in die Arbeitslosigkeit viel verdient hat oder mit einem gut situierten Partner zusammenlebt, muss künftig teils drastische Leistungskürzungen hinnehmen. Viele Niedrigverdiener mit Kindern dagegen sowie die rund eine Million erwerbsfähigen Sozialhilfebezieher fahren besser als heute. Für sie zahlt der Staat künftig nicht nur Beiträge in die Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung. Sie dürfen sich – anders als derzeit – auch ein „angemessenes Kraftfahrzeug“ leisten und brauchen nicht länger zu fürchten, dass der Staat die Stütze bei Eltern oder Kindern zurückfordert. Genauso falsch ist der von Politikern aller Couleur verbreitete Eindruck, die Reform werde Langzeitarbeitslosen den letzten Cent ihres Privatvermögens nehmen und damit „diejenigen bestrafen, die Eigenvorsorge für das Alter treffen“, wie der saarländische CDU-Ministerpräsident Peter Müller klagt. Das Gegenteil ist richtig. So darf ein
50- jähriger Arbeitslosenhilfe-Bezieher derzeit lediglich Wertpapiere, Sparkonten oder Lebensversicherungspolicen im Wert von 10000 Euro besitzen. Hat er mehr auf der hohen Kante, kann ihn das Amt zwingen, erst einmal vom angesammelten Kapital zu leben. Sozialhilfebeziehern ist aktuell sogar nur ein so genanntes Schonvermögen von 1279 Euro erlaubt. Mit Hartz IV dagegen verbessern sich die Verhältnisse beträchtlich: Die Vermögensfreibeträge erhöhen sich auf 20000 Euro, anrechnungsfrei bleiben Riester-Renten, ein „angemessenes“ Eigenheim und das Vermögen von Eltern oder Kindern, die nicht im Haushalt leben.
Während die Politiker über eine angeblich bevorstehende neue „Enteignungswelle“ klagen, tauschen die Betroffenen in den einschlägigen Internet-Foren fleißig Tipps aus, wie sich die neuen Gesetze umgehen lassen: in der Wohngemeinschaft die gemeinsame Haushaltskasse auflösen? Das gut gefüllte Bankkonto zum Ablösen des Hauskredits einsetzen? Die Wertpapiere in einen gut ausgestatteten Neuwagen investieren? „Wenn bei Ihnen absehbar notwendige Ausgaben ins Haus stehen“, heißt es in den entsprechenden Merkblättern von Arbeitsloseninitiativen, „sollten Sie diese aus dem Vermögen tätigen, bevor Sie den Antrag auf Alg II abgeben.
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Wie überzogen die allgemeine Verarmungsdebatte ist, zeigt vor allem der internationale Vergleich. Selbst nach dem vermeintlichen Sozialraub durch Hartz IV liegt die deutsche Stütze noch immer auf einem ähnlich guten Niveau wie in Dänemark, Frankreich oder Schweden. Dass die Debatte um das geplante arbeitsmarktpolitische Großprojekt in der vergangenen Woche zusehends entglitt, hat sich die Bundesregierung zum erheblichen Teil selbst zuzuschreiben. Bis heute ist nicht klar, wie die lautstark angekündigte Förderung der Arbeitslosen neben dem Forderungskatalog aussehen soll. Als verhängnisvoll erwies sich vor allem die Entscheidung, bereits im vergangenen Monat das hoch komplizierte 16-seitige Antragsformular an die Arbeitslosen zu versenden, obwohl noch gar nicht alle Verwaltungsvorschriften erlassen und Arbeitsamtsberater kaum vorbereitet waren. Es kam, wie es kommen musste: Die überforderten Mitarbeiter an den Agentur-Hotlines gaben höchst widersprüchliche Auskünfte. Die Fragesteller blieben vielfach ratlos und verwirrt zurück. Bundeskanzler Gerhard Schröder, Fraktionschef Franz Müntefering und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement geben sich von alldem unbeeindruckt. Natürlich seien Nachbesserungen jederzeit denkbar, entfuhr es Schröder am Rande seiner Polen-Reise. Angesichts der komplexen und historisch einmaligen Reformprozesse müssten die Deutschen sich daran gewöhnen, dass zuweilen nachgesteuert wird. „Das ist nicht ehrenrührig“, sagt er. „Das ist sogar vernünftig.“ Der zuständige SPD-Experte Klaus Brandner hat die Forderungen bereits in einem Brief an Minister Clement aufgelistet. Per Verordnung müssten die Härtefallregelungen präzisiert, die Zuverdienstmöglichkeiten ausgeweitet und die geplanten Arbeitsförderungsmaßnahmen effizienter ausgestaltet werden. Auch der Auszahlungszeitpunkt für das neue Arbeitslosengeld II wird noch einmal geändert. Statt der bisher geplanten elf Zahlungen wird es im nächsten Jahr nun doch zwölfmal Staatsknete geben. Am Kern der Reform, das machten Müntefering und Schröder ebenfalls klar, wollen sie nicht rütteln lassen: Stehvermögen sei gefragt, sagt der Kanzler. Für die Horrorszenarien der PDS und die Wankelmütigkeiten der Union habe er kein Verständnis: „Das ist nun wirklich typisch deutsch und typisch Opposition.“ Clement weiß, dass insbesondere sein Schicksal mit Hartz IV verbunden ist. Eine Verschiebung der Reform, wie sie nun erneut von zahlreichen Kritikern gefordert wird, wird es mit ihm nicht geben, machte er erst jüngst vor Vertrauten deutlich, die sich im Ministerbüro um ihn versammelt hatten: „Dann könnte ich ja gleich nach draußen auf den Balkon treten“, sagte er – und setzte sich Zeige- und Mittelfinger zum symbolischen Todesschuss an die Schläfe.
Quelle: Stefan Berg, Alexander Neubacher, Michael Sauga und Steffen Winter, „Die große Hartz-Hysterie“, Der Spiegel, 9. August 2004.