Quelle
I.
Lord Augustus Loftus wurde im Dezember 1865 zum britischen Botschafter am preußischen Hof ernannt. Als er sein Amt Mitte Februar 1866 antrat, schrieb er:
Bei meiner Ankunft in Berlin fand ich eine sehr „geladene“ politische Atmosphäre vor – „Il sentait la poudre“[1], wie ein Franzose sagen würde.
II.
Am 7. März 1866 erhielt Loftus den folgenden Brief vom britischen Außenminister Lord Clarenden:
[…] Österreich wird eher dem Krieg ins Auge sehen als der Demütigung, die Preußen ihm zufügen will; und beim Verfolgen dieses Kurses liegt es meiner Meinung nach völlig richtig. Ein katastrophaler Krieg ist besser als eine freiwillige Schmach. Aber was, im Namen all dessen, das vernünftig, anständig und menschlich ist, kann die Rechtfertigung eines Krieges auf Seiten Preußens sein? […]
Ich wünschte, Sie würden eine Gelegenheit ergreifen, Herrn Bismarck zu sagen, dass […] wir ihn ernsthaft bitten, innezuhalten, bevor er einen Krieg anfängt, bei dem keiner die Ergebnisse oder das Ende vorhersehen kann.
Es ist unmöglich, dass irgendwelche wohl begründeten Beschwerden, die Preußen gegenüber Österreich haben mag, nicht durch Verhandlungen beigelegt werden könnten. […]
Ich weiß nicht, mit welcher Art von Widerstand Österreich rechnen kann oder welche Unterstützung es in Süddeutschland finden würde. Doch ich bin sicher, dass jegliche schwere Schädigung des Landes, die das derzeitige Machtgleichgewicht zerstörte, für den Rest Europas ein Unglück sein und als solches auch Unmut verursachen würde – tatsächlich scheint es, je mehr man die Frage erwägt, umso sicherer zu sein, dass Preußen die öffentliche Meinung Europas gegen sich aufbringen wird als eine aggressive und unvernünftige Macht; und dies wünschen wir nicht. Abgesehen von den Familienbanden ist Preußen die große protestantische Macht Europas, gegenüber der wir naturgemäß verwandtschaftliche Gefühle hegen, und es wäre tief zu bedauern, wenn wir es, weil mutwilliger Störer des europäischen Friedens, als einen gemeinsamen Feind betrachtet fänden; und noch bedauernswerter, wenn wir uns im Laufe der Ereignisse gezwungen sähen, in irgendeiner Form gegen es Partei zu ergreifen.
III.
Als Loftus diese Ansichten bei einem Treffen am 11. März 1866 dem preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck übermittelte, bot Bismarck die folgenden Gedanken hinsichtlich des Verhältnisses Preußens zu Österreich an:
Ich könnte die Worte Richelieus[2] zu seiner fallen gelassenen Geliebten verwenden: „Nous ne sommes pas ennemis: mais nous ne nous aimons plus.“[3]
IV.
Das Königreich Sachsen war 1866 Österreichs Bündnispartner. Unmittelbar bevor der Krieg Mitte Juni 1866 ausbrach, zeichnete Loftus eine Bemerkung des sächsischen Regierungschefs Freiherr (später Graf) Friedrich Ferdinand Beust zu der Möglichkeit auf, den Krieg durch gegenseitiges Entgegenkommen zu vermeiden. „Le vin“, sagte Freiherr von Beust, „est tiré, il faut le boire.“[4]
V.
Loftus beobachtete Bismarcks Haltung am Abend des Kriegsausbruchs zwischen Preußen und Österreich:
Ich war spätabends am 15. Juni bei Graf Bismarck. Wir waren bis zu später Stunde in seinem Garten spazieren gegangen und gesessen, als es zu meinem Erstaunen Mitternacht schlug. Graf Bismarck zog seine Uhr hervor und sagte: „À l’heure qu’il est nos troupes sont entrées en Hanovre, Saxe, et Hesse-Cassel.“[5] Er fügte hinzu, „Der Kampf wird heftig sein. Preußen könnte verlieren, aber es wird auf alle Fälle tapfer und ehrenvoll kämpfen. Werden wir geschlagen“, sagte Graf Bismarck, „dann werde ich nicht hierher zurückkehren. Ich werde im letzten Angriff fallen. Man kann nur einmal sterben; und falls geschlagen, ist es besser zu sterben.“
VI.
Im Juni 1866 fiel die liberale Regierung Großbritanniens und mit einiger Verzögerung wurde Lord Clarenden im Juli als Außenminister durch Lord Stanley ersetzt. Kurz danach gab Loftus seine Einschätzung der deutschen Lage ab:
Damals schrieb ich an Lord Stanley, dass ich eine Machtvergrößerung Preußens nicht mit Unzufriedenheit oder Sorge für England sehen könnte. Es war der große protestantische Staat Kontinentaleuropas. Es verkörperte die Intelligenz, den Fortschritt und den Wohlstand Deutschlands. Es wird eine maßgebliche Macht für die Friedenssicherung in Mitteleuropa werden. Es wird allmählich bei der konstitutionellen Regierungsform Fortschritte machen und die Rolle eines Vermittlers in Europa spielen. Wir haben mit ihm viel gemeinsam – unsere Rasse, unsere Religion, unsere gemeinsamen Interessen sind allesamt mit Preußen verwoben und unsere politischen Interessen sollten übereinstimmen. Weshalb, fuhr ich fort, sollte es Deutschland nicht gestattet sein, sich so zu konstituieren, wie es beliebt und so wie Italien es getan hat?
VII.
In einem Brief an Lord Stanley vom 4. August 1866 – verfasst unmittelbar nach dem am 26. Juli in Nikolsburg vereinbarten Vorfrieden – setzte Loftus seine Analyse fort:
Die Annexion aller norddeutschen Staaten bis zum Main wird Preußen einen Bevölkerungszuwachs von vier Millionen Menschen bescheren. So werden in einem Monat mit einer Schnelligkeit und einem Erfolg, die in der Geschichte ihresgleichen suchen, Veränderungen bewirkt worden sein, die selbst Graf Bismarck in seinen begeistertsten Augenblicken niemals erwarten hätte können. Tatsächlich ist der Erfolg der preußischen Waffen so gewaltig, so unerwartet gewesen, dass er sich mit einiger Wahrscheinlichkeit als Verlegenheit und sogar als Gefahr für das politische System erweisen könnte, das Bismarck zu bilden sucht. Sein Ziel und das der Militärpartei ist die Schaffung eines großen und mächtigen Preußen, das sich von der Ostsee bis an den Main erstreckt, und das völlige Kontrolle über die Seehäfen an den nördlichen Küsten sowie die wichtige und strategische Seestellung der Elbherzogtümer innehat. Andererseits hegt die liberale Partei in Preußen und Deutschland den Wunsch, ein geeintes Deutschland unter einer starken Macht – nämlich Preußen – zu schaffen. Dieses soll von einem nationalen Parlament vertreten werden, welches auf Grundlage der in der Frankfurter Nationalversammlung formulierten Verfassung zu bilden ist. Doch zu diesem Zweck (und sie [die Liberalen] halten den günstigen Zeitpunkt für gekommen) muss Preußen in Deutschland aufgehen, während es das Ziel Bismarcks war, Deutschland in Preußen aufgehen zu lassen.
Auf diesen Punkt wird sich die öffentliche Agitation jetzt richten, nicht nur in Preußen, sondern in ganz Deutschland. Die während des jüngsten Konflikts in den süddeutschen Staaten gezeigte Schwäche und ihre politische Zerrüttung liefern einen überzeugenden Beweis, dass es keine wesentliche Stärke oder Tatkraft geben kann, wo ein Mangel an Einheit herrscht; und die durch den Bürgerkrieg gesammelte traurige Erfahrung steht als Warnung für die süddeutsche Bevölkerung, dass die Wiederholung eines ähnlichen Unglücks allein durch die Errichtung eines einigen Deutschland unter einem einzigen Oberhaupt vermieden werden kann, wobei eine nationale Vertretung das Verbindungsglied zwischen den einzelnen Staaten bildet.
Meiner bescheidenen Meinung nach ist ein großer Schritt zur Erreichung dieser Zielsetzung getan worden, und der rasche Ablauf der Ereignisse wird Preußen – wenn nicht gegenwärtig, so in nicht allzu großer Ferne – dazu zwingen, bereitwillig oder widerwillig die Nation um sein Banner zu scharen und sich an die Spitze Deutschlands zu setzen.
Graf Bismarck verfährt derzeit klug, indem er seine Ambitionen auf den Erwerb Norddeutschlands beschränkt. Preußen könnte momentan keinen Krieg mit Frankreich riskieren, und ohne Zusammenstoß mit Frankreich wird keine deutsche Einheit geschaffen werden.
Aber es gibt einen weiteren Beweggrund, der für Graf Bismarck große Bedeutung haben muss – nämlich den Wunsch, die bereits erreichten Vorteile nicht zu gefährden. Falls in diesem Augenblick dem König von Preußen die Kaiserkrone angetragen würde, und zwar im Verbund mit jener von der Nationalversammlung in Frankfurt 1849 verabschiedeten Verfassung und mit dem von jener Versammlung beschlossenen Wahlrecht, dann würde das gesamte Regierungssystem in Preußen untergehen. Die Adelspartei mit ihrer beschränkten Auffassung konstitutioneller Rechte würde hinweggefegt werden und in Preußen würde eine moralische Revolution von ebenso großer Tragweite stattfinden wie die unglaublichen Erfolge, die seine Waffen begleiteten.
Aus diesen Gründen wird Graf Bismarck daher bis zum Äußersten jedem Druck wiederstehen, der ihn über die Grenzen der in Nikolsburg vereinbarten Präliminarien hinaus treiben wollte, und er wird sich mit der Schaffung eines großen und mächtigen Preußen zufrieden geben, ohne die Krone auf das Haupt seines Souveräns setzen zu wollen.
Ich darf bemerken, dass Graf Bismarck mit großartigem Erfolg eine Phase seines ehrgeizigen Vorhabens durchschritten hat – nämlich die des „Niederreißens.“ Die zweite Phase beginnt gerade – nämlich das Werk des Wiederaufbaus. Bei der Durchführung dieser letzteren Phase wird Graf Bismarck auf größere Schwierigkeiten stoßen – Schwierigkeiten allerdings, die seine Energie und sein eiserner Wille erfolgreich meistern könnten. Die Anforderungen einer theoretisch konstitutionellen, praktisch jedoch absoluten Monarchie – die reaktionäre Neigung einer siegreichen Militärpartei – die stark „partikularistischen“ Gefühle in den enteigneten Staaten, die nicht von einem Tag auf den anderen ausgemerzt werden – der Fanatismus einer Adelspartei, deren politische Ansichten mit einer vergangenen Zeit verknüpft sind – und der lebhafte Druck der Fortschrittspartei, unbeirrt durch die Niederlage, werden die Staatskunst, das Geschick und die Geduld des Grafen Bismarck hart auf die Probe stellen. […]
Dies sind keine zu unterschätzenden Probleme, die er [Bismarck] zu überwinden haben wird. Durch diese Untiefen wird er das Staatsschiff steuern müssen, und er wird Glück haben, wenn er beim Umschiffen der „Skylla“ nicht zur „Charybdis“ getrieben wird.
Kühn im Entwurf und energisch in der Tat, ungehemmt durch Skrupel und ungerührt von Prinzipien, regierend mittels Furcht, wo er durch Liebe nicht gewinnen kann, hält dieser unerschrockene, geschickte und mächtige Minister nun die bedeutendste Rolle in Händen, die vielleicht je einem Staatsmann zugefallen ist. Vom Erfolg seiner Politik hängt nicht nur die zukünftige Bedeutung und Prosperität seines Landes ab, sondern auch die Wahrung von Sicherheit und Frieden in Europa.
Anmerkungen
Quelle: Lord Augustus Loftus, The Diplomatic Reminiscences of Lord Augustus Loftus, second series, 1862–1879, 2 vols. London: Cassell, 1894, vol. 1, S. 39, 43–45, 60, 69, 99, 105–8. Online verfügbar unter: https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=hvd.32044103165486&view=1up&seq=1&skin=2021.