Quelle
Im folgenden Winter [1882/83] erlebten wir dann die Cour und die Hofbälle. Für die Eltern war es eine mühsame Anstrengung, ich bin ihnen für das Opfer dankbar, so ein Fest am Berliner Hof hatte Glanz, historische Überlieferung und eine gewisse phantastische Schönheit.
Schon Unter den Linden langsames Vorrücken der Wagenreihe, bei jedem Stillstand wohlwollende oder schnoddrige Bemerkungen der dichtgedrängten Menge, aufgeregte berittene Schutzleute. Diplomaten und Würdenträger hatten Vorfahrkarten, kamen außer der Reihe weiter, solche Protektion ärgerte uns andere, deren Kutscher nur die üblichen Karten vorn im Hut eingesteckt trugen. Endlich, endlich durchfuhr man das gewaltige Portal und befand sich im Hof; das Licht ließ das Tiefgrau der alten Mauern, die Schneemassen, die aufgereihten Wachen undeutlich erkennen. Kaum gelangte man von der Stelle, schließlich hielt man vor der strahlend erleuchteten Tür, der Wagenschlag wurde aufgerissen, und unser eigener Diener nahm die Mäntel in Empfang. Garderobenräume wurden erst unter dem neuen Regiment eingeführt. Langsam schritten wir die Treppen hinauf, wärmten uns an den flackernden Kaminen. Es begann die unübersehbare, prachtvolle Flucht der Säle. Seit Jahrhunderten haben sie sich nicht allzusehr verändert, damastbespannte Wände mit Ahnenbildern, schwere, goldene, geschnitzte Sessel aus der Zeit des ersten Königs. An allen Türpfosten zwei wachestehende Gardedukorps. Ausgesuchte reiche Bauernsöhne; wie angegossen umspannte die weiße und rote Uniform die herrlich gewachsenen Gestalten. Dicht an ihnen vorbei rauschten die Damen, Diamanten auf den bloßen Schultern, zogen die Exzellenzen mit ihren Sternen und Ordensbändern, sie standen regungslos monumental im silbernen Adlerhelm, den Säbel gezogen. Jugendlich schlank die Pagen in ihren rotbestickten Röcken, ihrem Spitzengefältel, die hübschesten Selektaner von Adel aus dem Lichterfelder Kadettenhaus wurden ausgesucht. Überall die goldbestickten Uniformen der Offiziere, der hohen Beamten, der Herren vom Hof. Von der Kleidsamkeit, der Schönheit jenes tausendfachen Kerzenlichtes macht die heutige Menschheit sich keinen Begriff, und in diesem strahlenden Geflimmer funkelten all die Diamanten, leuchtete der Farbenschmelz der seidenen und samtenen Kleider. Allerdings war der Umriß der Damen an den Courtagen nicht eigentlich gut, als großer Bausch wurde die zehn Fuß lange, aus zwei bis drei Stoffbahnen bestehende Schleppe über dem Arm getragen. Mit preußischer Korrektheit verteilte man die Gäste, je nach der Kategorie, in verschiedene Säle: die Exzellenzendamen, die übrigen verheirateten Frauen, vorgestellte junge Mädchen und die noch vorzustellenden. Wir letzteren betrugen, da im vergangenen Jahr die Cour ausfiel, zwischen zwanzig und dreißig, das galt für viel, eine Generation später waren an hundert jährlich zur Stelle. Bei uns Unvorgestellten ging es ganz gemütlich zu. Man kannte sich oder lernte sich kennen, alle hatten etwas Courfieber, in einer Ecke, hinter den Säulen, probierte man noch einmal die große Verbeugung, man frug ängstlich, ob der Ausschnitt wirklich nicht zu tief sei? Der uns zuerteilte Kammerherr, Graf Oeynhausen, war freundlich und nett. Als wir uns in Bewegung setzten, ging als erste Prinzessin Ratibor mit einer Cousine, eigentlich hatten die beiden Fräulein Maybach, Töchter des Eisenbahnministers, den Vorrang, taktvoll hielten sie sich jedoch zurück. Nun kam das Gefürchtete, die lange, berüchtigte Bildergalerie, die Lästerallee, in der schon seit Stunden sämtliche Offiziere eingekeilt standen. Nur eine schmale Gasse blieb frei, durch diese mußten wir durch, und bei sichtlich Verängsteten oder irgendwie Auffallenden ergingen sich oft die Leutnants in halblauten Glossen. Das klingt sehr ungezogen, ist aber menschlich. Alle, auch die Gediegensten, die unbeweglich festgenagelt dastehen müssen, werden sich durch schnöde Bemerkungen über die Vorbeikommenden zerstreuen. Ein Bekannter hatte Berta und mir den Rat gegeben, „möglichst harmlos und befriedigt auszusehen.“ So geschah es auch, unsere Tänzer grüßten freundlich, nur unsere Namen hörten wir murmeln, während wir die endlose Gasse hinunterzogen.
In einem der folgenden Säle warteten, ordenstrotzend, die Generäle, und da stand Moltke. Ich kam ganz dicht an ihm vorbei und sah ihn in freudiger Erregung an; Kindern wird eingeschärft: „es schickt sich nicht, Menschen anzustarren“, das, so fürchte ich, habe ich getan. Vermutlich sagte er sich – die da muß ich aus Schlesien kennen – er machte mir eine tiefe Verbeugung. Beglückt versank ich in eine Reverenz, wie sie eigentlich nur gekrönten Häuptern zukommt.
Dann, in der Königinnenkammer, ließ eine jede die Courschleppe fallen, der Kammerherr, Graf Kanitz, hatte das Amt, sie schön auszubreiten, feierlich bewegte man sich vor. Im Thronsaal leise Musik, Lichtgeflirr, Goldglanz, ein geradezu unwahrscheinliches Diamantgefunkel; unter dem Thronhimmel stand groß, stattlich und gütig der Kaiser, neben ihm, halb sitzend, halb liegend, die gebrechlich gewordene Kaiserin Augusta. Zu beiden Seiten waren sämtliche Prinzen und Prinzessinnen aufgereiht und begrüßten durch ein Lächeln alle ihre vorbeiziehenden Bekannten, man erwiderte nur durch einen respektvoll freundlichen Gesichtsausdruck, denn nur vor dem Kaiserpaar sollte man sich verneigen. Unglaublich das Ausstrahlen, der Glorienschein aller Krondiamanten! Jetzt entfernte sich die Schleppe meiner Vorgängerin, mein Name wurde genannt, jetzt machte ich die langsame tiefe Verneigung!
Es folgte das Konzert im Weißen Saal, wieder saß man in Kategorien, wir Neulinge unter der Musikgalerie. Zweifellos waren die künstlerischen Darbietungen vorzüglich, alle waren jedoch zerstreut, es gab zu viel zu sehen. […]
Quelle: Marie von Bunsen, Die Welt, in der ich lebte. Erinnerungen 1860–1912, unveränderte Neuaufl. Biberach, 1959, S. 90ff.; abgedruckt in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hrsg., Deutsche Sozialgeschichte 1870–1914. Dokumente und Skizzen. München: C. H. Beck, 1982, S. 359–61.