Kurzbeschreibung

Gerhart Hauptmann (1862–1946) war ein deutscher Schriftsteller und Dramatiker, der zu einem der Hauptvertreter des Naturalismus wurde. Im Jahr 1912 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Sein erstes Drama, Vor Sonnenaufgang, wurde am 20. Oktober 1889 uraufgeführt und löste unmittelbar einen Skandal aus. Das Publikum war die von Hauptmann verwendete Sprache nicht gewohnt, in der er lokale Dialekte mit energischen Dialogen ergänzte. Der heikle Stoff steigerte den Eklat noch, indem er solche Themen wie Umweltschutz, Alkoholismus, Selbstmord und die Auswirkungen der Vererbung verquickte. (In dem Stück verliebt sich Alfred Loth, ein junger Sozialist, in Helene Krause, die Schwägerin eines ehemaligen Studienkollegen, der zu einem skrupellosen Kohlebergbauingenieur wird, nachdem man auf dem familieneigenen Land Kohlevorkommen entdeckt hat. Letzten Endes verlässt Alfred Helene, die Selbstmord begeht.) Aufgrund des im Theater aufbrandenden Tumults konnten die Schauspieler die Aufführung kaum zu Ende bringen. Diese Textpassage vermag die volle Wirkung des Stücks nicht zu vermitteln, doch sie gibt eine Kostprobe der von Hauptmann verwendeten Sprache und seiner Sensibilität für die Notlage der Unterschichten.

Gerhart Hauptmann, Vor Sonnenaufgang, Uraufführung und skandalträchtige Aufnahme durch das Publikum (20. Oktober 1889)

  • Gerhart Hauptmann

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DRAMATIS PERSONAE

KRAUSE, Bauerngutsbesitzer
FRAU KRAUSE, seine zweite Frau
HELENE, Krauses Tochter erster Ehe
MARTHA, Krauses Tochter erster Ehe
HOFFMANN, Ingenieur, verheiratet mit Martha
WILHELM KAHL, Neffe der Frau Krause
FRAU SPILLER, Gesellschafterin der Frau Krause
ALFRED LOTH
DOKTOR SCHIMMELPFENNIG
BEIBST, Arbeitsmann auf Krauses Gut
GUSTE, Magd auf Krauses Gut
LIESE, Magd auf Krauses Gut
MARIE, Magd auf Krauses Gut
BAER, genannt Hopslabaer
EDUARD, Hoffmanns Diener
MIELE, Hausmädchen bei Frau Krause
DIE KUTSCHENFRAU
GOLISCH, genannt Gosch, Kuhjunge
EIN PAKETTRÄGER

Erster Akt

[]

FRAU KRAUSE erscheint, furchtbar aufgedonnert. Seide und kostbarer Schmuck. Haltung und Kleidung verraten Hoffart, Dummstolz, unsinnige Eitelkeit.

HOFFMANN. Ah! da ist Mama! — Du gestattest, daß ich dir meinen Freund Doktor Loth vorstelle.

FRAU KRAUSE[1] macht einen undefinierbaren Knicks. Ich bin so frei! Nach einer kleinen Pause. Nein aber auch, Herr Doktor, nehmen Sie mir’s ock bei Leibe nicht ibel! Ich muß mich zuerscht muß ich mich vor Ihn’ vertefentieren – sie spricht je länger, um so schneller —, vertefentieren wegen meiner vorhinigten Benehmigung. Wissen Se, verstihn Se, es komm ein der Drehe bei uns eine so ane grußmächtige Menge Stremer ... Se kinn’s ni gleba, ma hoot mit dan Battelvulke seine liebe Not. A su enner, dar maust akrat wie a Ilster. Uf da Pfennig kimmt’s ins ne ernt oa, ne ock ne, ma braucht a ni dreimol rimzudrehn, au ken’n Toaler nich, ebb ma ’n ausgibbt. De Krausa-Ludwig’n, die iis geizig, schlimmer wie a Homster egelganz, die ginnt ke’m Luder nischt. Ihrer is gesturba aus Arjer, weil a lumpigte zwetausend ei Brassel verloern hoot. Ne, ne! a su sein mir dorchaus nicht. Sahn Se, doas Buffett kust’t mich zweehundert Toaler, a Transpurt ni gerechnet; na, d’r Beron Klinkow koan’s au ne andersch honn.

FRAU SPILLER ist kurz nach Frau Krause ebenfalls eingetreten. Sie ist klein, schief und mit den zurückgelegten Sachen der Frau Krause herausgestutzt. Während Frau Krause spricht, hält sie mit einer gewissen Andacht die Augen zu ihr aufgeschlagen. Sie ist etwa fünfundfünfzig Jahre alt; ihr Ausatmen geschieht jedesmal mit einem leisen Stöhnen, das, auch wenn sie redet, regelmäßig wie ‚m‘ hörbar wird.

FRAU SPILLER mit unterwürfigem, wehmütig geziertem Moll-Ton, sehr leise. Der Baron Klinkow haben genau dasselbe Buffett —m—.

HELENE, zu Frau Krause. Mama! wollen wir uns nicht erst setzen, dann . . .

FRAU KRAUSE wendet sich blitzschnell und trifft Helene mit einem vernichtenden Blick; kurz und herrisch. Schickt sich doas? (Frau Krause, im Begriff sich zu setzen, erinnert sich, daß das Tischgebet noch nicht gesprochen ist, und faltet mechanisch, doch ohne ihrer Bosheit im übrigen Herr zu sein, die Hände.)

FRAU SPILLER spricht das Tischgebet.
Komm, Herr Jesu, sei unser Gast.
Segne, was du uns bescheret hast.
Amen.

Alle setzen sich mit Geräusch. Mit dem Zulangen und Zureichen, das einige Zeit in Anspruch nimmt, kommt man über die peinliche Situation hinweg.

HOFFMANN, zu Loth. Lieber Freund, du bedienst dich wohl!? Austern?

LOTH. Nun, will probieren. Es sind die ersten Austern, die ich esse.

FRAU KRAUSE[2] hat soeben eine Auster geschlürft. Mit vollem Mund. In dar Saisong, mein’n Se woll?

LOTH. Ich meine überhaupt.

Frau Krause und Frau Spiller wechseln Blicke.

HOFFMANN, zu Kahl, der eine Zitrone mit den Zähnen auspreßt. Zwei Tage nicht gesehen, Herr Kahl! Tüchtig Mäuse gejagt in der Zeit?

KAHL. N..n..nee!

HOFFMANN zu Loth. Herr Kahl ist nämlich ein leidenschaftlicher Jäger.

KAHL.[3] D..d..die M..mm..maus, das ist ’n in..-in..infamtes Am..am..amfff..fibium.

HELENE platzt heraus. Zu lächerlich ist das; alles schießt er tot, Zahmes und Wildes.

KAHL.[4] N..nächten hab ich d..d..die alte Szss..sau vu ins t..tot g..g..geschossen.

LOTH. Da ist wohl Schießen Ihre Hauptbeschäftigung?

FRAU KRAUSE.[5] Herr Kahl tut’s ock bloßig zum Prifatvergnigen.

FRAU SPILLER. Wald, Wild, Weib pflegten Seine Exzellenz der Herr Minister von Schadendorf oftmals zu sagen.

KAHL.[6] I..i..iberm..m..murne hab’n mer T..t..-tau..t..taubenschießen.

LOTH. Was ist denn das: Taubenschießen?

HELENE. Ach, ich kann so was nicht leiden; es ist doch nichts als eine recht unbarmherzige Spielerei. Ungezogene Jungens, die mit Steinen nach Fensterscheiben zielen, tun etwas Besseres.

HOFFMANN. Du gehst zu weit, Helene.

HELENE. Ich weiß nicht — meinem Gefühl nach hat es weit mehr Sinn, Fenster einzuschmeißen, als Tauben an einem Pfahl festzubinden und dann mit Kugeln nach ihnen zu schießen.

HOFFMANN. Na, Helene — man muß doch aber bedenken . . .

LOTH, irgend etwas mit Messer und Gabel schneidend. Es ist ein schandhafter Unfug.

KAHL.[7] Um die p..poar Tauba . . . !

FRAU SPILLER, zu Loth. Der Herr Kahl —m—, müssen Sie wissen, haben zweihundert Stück im Schlage.

LOTH. Die ganze Jagd ist ein Unfug.

HOFFMANN. Aber ein unausrottbarer. Da werden zum Beispiel eben jetzt wieder fünfhundert lebende Füchse gesucht; alle Förster hier herum und auch sonst in Deutschland verlegen sich aufs Fuchsgraben.

LOTH. Was macht man denn mit den vielen Füchsen?

HOFFMANN. Sie kommen nach England, wo sie die Ehre haben, von Lords und Ladys gleich vom Käfig weg zu Tode gehetzt zu werden.

LOTH. Muhammedaner oder Christ, Bestie bleibt Bestie.

HOFFMANN. Darf ich dir Hummer reichen, Mama?

FRAU KRAUSE.[8] Meinswegen, ei dieser Saisong sind se sehr gutt!

FRAU SPILLER. Gnädige Frau haben eine so feine Zunge —m—!

FRAU KRAUSE, zu Loth. Hummer ha’n Sie woll auch noch nich gegassen, Herr Dukter?

LOTH. Ja, Hummer habe ich schon hin und wieder gegessen — an der See oben, in Warnemünde, wo ich geboren bin.

FRAU KRAUSE[9], zu Kahl. Gell, Wilhelm, ma weeß wirklich’n Gott manchmal nich mee, was ma assen sull?

KAHL. J..j..ja, w..w..weeß..weeß G..Gott, Muhme.

EDUARD will Loth Champagner eingießen. Champagner?

LOTH hält sein Glas zu. Nein! . . . danke!

HOFFMANN. Mach keinen Unsinn!

HELENE. Wie, Sie trinken nicht?

LOTH. Nein, Fräulein.

HOFFMANN. Na, hör mal an: das ist aber doch . . . das ist langweilig.

LOTH. Wenn ich tränke, würde ich noch langweiliger werden.

HELENE. Das ist interessant, Herr Doktor.

LOTH, ohne Takt. Daß ich langweiliger werde, wenn ich Wein trinke?

HELENE, etwas betreten. Nein, ach nein, daß . . . daß Sie nicht trinken . . . daß Sie überhaupt nicht trinken, meine ich.

LOTH. Warum soll das interessant sein?

HELENE, sehr rot werdend. Es ist . . . ist nicht das gewöhnliche.

Wird noch röter und sehr verlegen.

LOTH, tolpatschig. Da haben Sie recht, leider.

FRAU KRAUSE[10], zu Loth. De Flasche kust uns fufza Mark, Sie kinn a dreiste trink’n. Direkt vu Reims iis a, mir satz’n Ihn’ gewiß nischt Schlechtes vier, mir mieja salber nischt Schlechtes.

FRAU SPILLER. Ach, glauben Sie mich, —m—, Herr Doktor, wenn Seine Exzellenz der Herr Minister von Schadendorf —m— so eine Tafel geführt hätten . . .

KAHL.[11] Ohne men’n Wein kennt’ ich nich laben.

HELENE, zu Loth. Sagen Sie uns doch, warum Sie nicht trinken!

LOTH. Das kann gerne geschehen, ich . . .

HOFFMANN. Ä, was! alter Freund! Er nimmt dem Diener die Flasche ab, um nun seinerseits Loth zu bedrängen. Denk dran, wie manche hochfidele Stunde wir früher miteinander . . .

LOTH. Nein, bitte bemühe dich nicht, es . . .

HOFFMANN. Trink heut mal!

LOTH. Es ist alles vergebens.

HOFFMANN. Mir zu Liebe!

Hoffmann will eingießen, Loth wehrt ab; es entsteht ein kleines Handgemenge.

LOTH. Nein! . . . nein, wie gesagt . . . nein! . . . nein, danke.

HOFFMANN. Aber nimm mir’s nicht übel . . . das ist eine Marotte.

KAHL[12], zu Frau Spiller. Wer nich will, dar hat schunn. Frau Spiller nickt ergeben.

HOFFMANN. Übrigens, des Menschen Wille[13] . . . und so weiter. Soviel sage ich nur: ohne ein Glas Wein bei Tisch . . .

LOTH. Ein Glas Bier zum Frühstück . . .

HOFFMANN. Nun ja, warum nicht? Ein Glas Bier ist was sehr Gesundes.

LOTH. Einen Kognak hie und da . . .

HOFFMANN. Na, wenn man das nicht mal haben sollte . . . zum Asketen machst du mich nun und nimmer. Das heißt ja dem Leben allen Reiz nehmen.

LOTH. Das kann ich nicht sagen. Ich bin mit den normalen Reizen, die mein Nervensystem treffen, durchaus zufrieden.

HOFFMANN. Eine Gesellschaft, die trockenen Gaumens beisammenhockt, ist und bleibt eine verzweifelt öde und langweilige — für die ich mich im allgemeinen bedanke.

FRAU KRAUSE.[14] Bei a Adlijen wird doch auch a so viel getrunk’n.

FRAU SPILLER, durch eine Verbeugung des Oberkörpers ergebenst bestätigend. Es ist Schentelmen[15] leicht, viel Wein zu trinken.

LOTH, zu Hoffmann. Mir geht es umgekehrt; mich langweilt im allgemeinen eine Tafel, an der viel getrunken wird.

HOFFMANN. Es muß natürlich mäßig geschehen.

LOTH. Was nennst du mäßig?

HOFFMANN. Nun . . . daß man noch immer bei Besinnung bleibt.

LOTH. Aaah! . . . also du gibst zu: die Besinnung ist im allgemeinen durch den Alkoholgenuß sehr gefährdet. — Siehst du! deshalb sind mir Kneiptafeln — langweilig.

HOFFMANN. Fürchtest du denn, so leicht deine Besinnung zu verlieren?

KAHL.[16] Iiii . . . i..ich habe n..n..neulich ene Flasche Rrr . . . r..rü..rüd..desheimer, ene Flasche Sssssekt get..t..trunken. Obendraufd..d..d..ann n..och eine Flasche B..b..bordeaux, aber besuffen woar ich no n..nich.

LOTH, zu Hoffmann. Ach nein, du weißt ja wohl, daß ich es war, der euch nach Hause brachte, wenn ihr euch übernommen hattet. Ich hab’ immer noch die alte Bärennatur: nein, deshalb bin ich nicht so ängstlich.

HOFFMANN. Weshalb denn sonst?

HELENE. Ja, warum trinken Sie denn eigentlich nicht? Bitte, sagen Sie es doch.

LOTH, zu Hoffmann. Damit du doch beruhigt bist: ich trinke heut schon deshalb nicht, weil ich mich ehrenwörtlich verpflichtet habe, geistige Getränke zu meiden.

HOFFMANN. Mit anderen Worten, du bist glücklich bis zum Mäßigkeitsvereinshelden herabgesunken.

LOTH. Ich bin völliger Abstinent.

HOFFMANN. Und auf wie lange, wenn man fragen darf, machst du diese . . .

LOTH. Auf Lebenszeit.

HOFFMANN wirft Gabel und Messer weg und fährt halb vom Stuhle auf. Pf! gerechter Strohsack!! Er setzt sich wieder. Offen gesagt, für so kindisch . . . verzeih das harte Wort.

LOTH. Du kannst es gerne so benennen.

HOFFMANN. Wie in aller Welt bist du nur darauf gekommen?

HELENE. Für so etwas müssen Sie einen sehr gewichtigen Grund haben – denke ich mir wenigstens.

LOTH. Der existiert allerdings. Sie, Fräulein! — und du, Hoffmann! wißt wahrscheinlich nicht, welche furchtbare Rolle der Alkohol in unserem modernen Leben spielt . . . Lies Bunge, wenn du dir einen Begriff davon machen willst. — Mir ist noch gerade in Erinnerung, was ein gewisser Everett über die Bedeutung des Alkohols für die Vereinigten Staaten gesagt hat. — Notabene, es bezieht sich auf einen Zeitraum von zehn Jahren. Er meint also: der Alkohol hat direkt eine Summe von drei Milliarden und indirekt von sechshundert Millionen Dollar verschlungen. Er hat dreihunderttausend Menschen getötet, hunderttausend Kinder in die Armenhäuser geschickt, weitere Tausende in die Gefängnisse und Arbeitshäuser getrieben, er hat mindestens zweitausend Selbstmorde verursacht. Er hat den Verlust von mindestens zehn Millionen Dollar durch Brand und gewaltsame Zerstörung verursacht, er hat zwanzigtausend Witwen und schließlich nicht weniger als eine Million Waisen geschaffen. Die Wirkung des Alkohols, das ist das Schlimmste, äußert sich sozusagen bis ins dritte und vierte Glied. — Hätte ich nun das ehrenwörtliche Versprechen abgelegt, nicht zu heiraten, dann könnte ich schon eher trinken, so aber . . . meine Vorfahren sind alle gesunde, kernige und, wie ich weiß, äußerst mäßige Menschen gewesen. Jede Bewegung, die ich mache, jede Strapaze, die ich überstehe, jeder Atemzug gleichsam führt mir zu Gemüt, was ich ihnen verdanke. Und dies, siehst du, ist der Punkt: ich bin absolut fest entschlossen, die Erbschaft, die ich gemacht habe, ganz ungeschmälert auf meine Nachkommen zu bringen.

FRAU KRAUSE.[17] Du! — Schwiegersuhn! — inse Bargleute saufen woarhaftig zu viel: doas muuß woar sein.

KAHL. Die saufen wie d’Schweine.

HELENE. Ach, so was vererbt sich?

LOTH. Es gibt Familien, die daran zugrunde gehen, Trinkerfamilien.

[]

Zweiter Akt

[]

LOTH. Sie glauben gar nicht, wie sehr ich das Land liebe! Leider wächst mein Weizen zum größten Teil in der Stadt. Aber nun will ich’s mal durchgenießen, das Landleben. Unsereiner hat so ’n bißchen Sonne und Frische mehr nötig als sonst jemand.

HELENE, seufzend. Mehr nötig als . . . inwiefern?

LOTH. Weil man in einem harten Kampfe steht, dessen Ende man nicht erleben kann.

HELENE. Stehen wir andern nicht in einem solchen Kampfe?

LOTH. Nein.

HELENE. Aber — in einem Kampfe — stehen wir doch auch?!

LOTH. Natürlicherweise! Aber der kann enden.

HELENE. Kann — da haben Sie recht! — und wieso kann der nicht endigen — der, den Sie kämpfen, Herr Loth?

LOTH. Ihr Kampf, das kann nur ein Kampf sein um persönliches Wohlergehen. Der einzelne kann dies, soweit menschenmöglich, erreichen. Mein Kampf ist ein Kampf um das Glück aller; sollte ich glücklich sein, so müßten es erst alle andern Menschen um mich herum sein; ich müßte um mich herum weder Krankheit noch Armut, weder Knechtschaft noch Gemeinheit sehen. Ich könnte mich sozusagen nur als letzter an die Tafel setzen.

HELENE, mit Überzeugung. Dann sind Sie ja ein sehr, sehr guter Mensch!

LOTH, ein wenig betreten. Verdienst ist weiter nicht dabei, Fräulein, ich bin so veranlagt. Ich muß übrigens sagen, daß mir der Kampf im Interesse des Fortschritts doch große Befriedigung gewährt. Eine Art Glück, die ich weit höher anschlage als die, mit der sich der gemeine Egoist zufriedengibt . . .

HELENE. Es gibt wohl nur sehr wenige Menschen, die so veranlagt sind. — Es muß ein Glück sein, mit solcher Veranlagung geboren zu sein.

LOTH. Geboren wird man wohl auch nicht damit. Man kommt dazu durch die Verkehrtheit unserer Verhältnisse, scheint mir — nur muß man für das Verkehrte einen Sinn haben: das ist es! Hat man den, und leidet man so bewußt unter den verkehrten Verhältnissen, dann wird man mit Notwendigkeit zu dem, was ich bin.

HELENE. Wenn ich Sie nur besser . . . welche Verhältnisse nennen Sie zum Beispiel verkehrt?

LOTH. Es ist zum Beispiel verkehrt, wenn der im Schweiße seines Angesichts Arbeitende hungert und der Faule im Überflusse leben darf. Es ist verkehrt, den Mord im Frieden zu bestrafen und den Mord im Kriege zu belohnen. Es ist verkehrt, den Henker zu verachten und selbst, wie es die Soldaten tun, mit einem Menschenabschlachtungsinstrument, wie es der Degen oder der Säbel ist, an der Seite stolz herumzulaufen. Den Henker, der das mit dem Beile täte, würde man zweifelsohne steinigen. Verkehrt ist es dann, die Religion Christi, diese Religion der Duldung, Vergebung und Liebe, als Staatsreligion zu haben und dabei ganze Völker zu vollendeten Menschenschlächtern heranzubilden. Dies sind einige unter Millionen, müssen Sie bedenken. Es kostet Mühe, sich durch alle diese Verkehrtheiten hindurchzuringen; man muß früh anfangen.

HELENE. Wie sind Sie denn nur so auf alles dies gekommen? Es ist so einfach, und doch kommt man nicht darauf.

LOTH. Ich mag wohl durch meinen Entwicklungsgang darauf gekommen sein, durch Gespräche mit Freunden, durch Lektüre, durch eigenes Denken. Hinter die erste Verkehrtheit kam ich als kleiner Junge. Ich log mal sehr stark und bekam dafür die schrecklichsten Prügel von meinem Vater; kurz darauf fuhr ich mit ihm auf der Eisenbahn, und da merkte ich, daß mein Vater auch log und es für ganz selbstverständlich hielt, zu lügen; ich war damals fünf Jahre, und mein Vater sagte dem Schaffner, ich sei noch nicht vier, der freien Fahrt halber, die Kinder unter vier Jahren genießen. Dann sagte der Lehrer auch mal: sei fleißig, halt dich brav, dann wird es dir auch unfehlbar gut gehen im Leben. Der Mann lehrte uns eine Verkehrtheit, dahinter kam ich sehr bald. Mein Vater war brav, ehrlich, durch und durch bieder, und ein Schuft, der noch jetzt als reicher Mann lebt, betrog ihn um seine paar tausend Taler. Bei ebendiesem Schuft, der eine große Seifenfabrik besaß, mußte mein Vater sogar, durch die Not getrieben, in Stellung treten.

HELENE. Unsereins wagt es gar nicht — wagt es gar nicht, so etwas für verkehrt anzusehen, höchstens ganz im stillen empfindet man es. Man empfindet es oft sogar, und dann — wird einem ganz verzweifelt zumut.

LOTH. Ich erinnere mich einer Verkehrtheit, die mir ganz besonders klar als solche vor Augen trat. Bis dahin glaubte ich: der Mord werde unter allen Umständen als ein Verbrechen bestraft; danach wurde mir jedoch klar, daß nur die milderen Formen des Mordes ungesetzlich sind.

HELENE. Wie wäre das wohl . . .

LOTH. Mein Vater war Siedemeister,[18] wir wohnten dicht an der Fabrik, unsere Fenster gingen auf den Fabrikhof. Da sah ich auch noch manches außerdem: Es war ein Arbeiter, der fünf Jahre in der Fabrik gearbeitet hatte. Er fing an, stark zu husten und abzumagern . . . ich weiß, wie uns mein Vater bei Tisch erzählte: Burmeister — so hieß der Arbeiter — bekommt die Lungenschwindsucht, wenn er noch länger bei der Seifenfabrikation bleibt. Der Doktor hat es ihm gesagt. — Der Mann hatte acht Kinder, und ausgemergelt wie er war, konnte er nirgends mehr Arbeit finden. Er mußte also in der Seifenfabrik bleiben, und der Prinzipal tat sich viel darauf zugute, daß er ihn beibehielt. Er kam sich unbedingt äußerst human vor. — Eines Nachmittags, im August, es war eine furchtbare Hitze, da quälte er sich mit einer Karre Kalk über den Fabrikhof. — Ich sah gerade aus dem Fenster, da merkte ich, wie er stillsteht — wieder stillsteht, und schließlich schlägt er lang auf die Steine. — Ich lief hinzu — mein Vater kam, andere Arbeiter kamen, aber er röchelte nur noch, und sein ganzer Mund war voll Blut. Ich half ihn ins Haus tragen. Ein Haufe kalkiger, nach allerhand Chemikalien stinkender Lumpen war er; bevor wir ihn im Hause hatten, war er schon gestorben.

HELENE. Ach, schrecklich ist das!

LOTH. Kaum acht Tage später zogen wir seine Frau aus dem Fluß, in den die verbrauchte Lauge unserer Fabrik abfloß. — Ja, Fräulein! wenn man dies alles kennt, wie ich es jetzt kenne — glauben Sie mir! —, dann läßt es einem keine Ruhe mehr. Ein einfaches Stückchen Seife, bei dem sich in der Welt sonst niemand etwas denkt, ja, ein Paar rein gewaschene, gepflegte Hände schon können einen in die bitterste Laune versetzen.

HELENE. Ich hab auch mal so was gesehen. Hu! schrecklich war das, schrecklich!

LOTH. Was?

HELENE. Der Sohn von einem Arbeitsmann wurde halbtot hier hereingetragen. Es ist nun . . . drei Jahre vielleicht ist es her.

LOTH. War er verunglückt?

HELENE. Ja, drüben im Bärenstollen.

LOTH. Ein Bergmann also?

HELENE. Ja, die meisten jungen Leute hierherum gehen auf die Grube. — Ein zweiter Sohn desselben Vaters war auch Schlepper und ist auch verunglückt.

LOTH. Beide tot?

HELENE. Beide tot . . .

Anmerkungen

[1] „FRAU KRAUSE. Ich bin so frei! Nein, aber auch, Herr Doktor, nehmen Sie mir’s doch beileibe nicht übel! Ich muß mich zuerst, zuerst muß ich mich vor Ihnen entschuldigen, entschuldigen wegen meines vorherigen Benehmens. Wissen Sie, verstehen Sie, es kommen in einem fort bei uns eine so sehr große Menge Stromer . . . Sie können’s nicht glauben, man hat mit dem Bettelvolk seine liebe Not. So einer, der stiehlt akkurat [genau] wie eine Elster. Auf den Pfennig kommt’s uns nicht etwa an, nein doch, nein, man braucht ihn nicht dreimal herumzudrehen, auch keinen Taler, eh’ man ihn ausgibt. Die Krause-Ludwig, die ist geizig, schlimmer als ein Hamster, genau, die gönnt keinem Luder etwas. Ihr Mann ist aus Ärger gestorben, weil er lumpige zweitausend in Breslau verloren hat. Nein, nein! so sind wir durchaus nicht. Sehen Sie, das Büfett kostet mich zweihundert Taler, der Transport nicht gerechnet; nun, der Baron Klinkow kann’s auch nicht anders haben.“
[2] „FRAU KRAUSE. In dieser Saison, meinen Sie wohl?“
[3] „KAHL. Die Maus ist ein infames Amphibium.“
[4] „KAHL. Heute Nacht habe ich die alte Sau von uns totgeschossen.“
[5] „FRAU KRAUSE. Herr Kahl tut’s auch bloß zum Privatvergnügen.“
[6] „KAHL. Übermorgen haben wir Taubenschießen.“
[7] „KAHL. Um die paar Tauben!“
[8] „FRAU KRAUSE. Meinetwegen, in dieser Saison sind sie sehr gut!“
[9] „FRAU KRAUSE. Gelt, Wilhelm, man weiß wirklichen Gottes manchmal nicht mehr, was man essen soll?“
[10] „FRAU KRAUSE. Die Flasche kostet uns fünfzig Mark, Sie können ihn dreist [getrost] trinken. Direkt von Reims ist er, wir setzen Ihnen gewiß nichts Schlechtes vor, wir mögen selbst nichts Schlechtes.“
[11] „KAHL. Ohne meinen Wein könnte ich nicht leben.“
[12]KAHL. Wer nicht will, der hat schon.“
[13] des Menschen Wille: „ . . . ist sein Himmelreich.“
[14] „FRAU KRAUSE. Bei den Adligen wird doch auch so viel getrunken.“
[15] Schentelmen: „gentlemen.“
[16] „KAHL. Ich habe neulich eine Flasche Rüdesheimer, eine Flasche Sekt getrunken. Obendrauf dann noch eine Flasche Bordeaux, aber besoffen war ich nicht.“
[17] „FRAU KRAUSE. Du! — Schwiegersohn! — unsere Bergleute saufen wahrhaftig zu viel: das muß wahr sein.“
[18] Siedemeister: „Seifensieder.“

Quelle: Gerhart Hauptmann, Vor Sonnenaufgang. Soziales Drama (orig. 1889), herausgegeben von Brigitte E. Schatzky. Oxford: Oxford University Press, 1964, Dramatis Personae, S. 38; I. Akt, S. 57–65; II. Akt, S. 79–83; Anmerkungen, S. 146–51.

Gerhart Hauptmann, Vor Sonnenaufgang, Uraufführung und skandalträchtige Aufnahme durch das Publikum (20. Oktober 1889), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/reichsgruendung-bismarcks-deutschland-1866-1890/ghdi:document-1782> [23.04.2024].