Quelle
I. Fontanes Kommentar zu Ifflands Die Jäger (30. Januar 1878)
Fontane störte sich an der Begeisterung des Theaterpublikums für das Wiederaufleben des moralisierenden Dramas Die Jäger (1873) von August Wilhelm Iffland. In einer Kritik der Aufführung vom 30. Januar 1878 schrieb er:
[…] Der Ton, der durch das ganze Stück hin klingt, ist der der Sentimentalität. Es war dies der Ton der Jahrzehnte, in denen das Stück entstand; daher die große Wirkung desselben in und zu seiner Zeit; aber diese Zeit liegt nun zurück, und so gewiß wir aus den Hexenprozessen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts heraus sind, so gewiß sind wir auch aus den Rührseligkeiten des achtzehnten heraus. […] Wir sind entweder viel, viel weiter oder viel, viel mehr zurück, und beides ist ein Vorteil. Nur noch der Philister, mit seinem ewigen Hange, zwischen zwei Stühlen zu sitzen, wird in diesem Stücke nach wie vor seine Rechnung finden. Denn so gut es in seiner Art ist, so gewiß hat es sich überlebt. […]
II. Fontanes Kommentar zu Ibsens Gespenster (1889)
Fontane begrüßte die Gründung des Ensembles Freie Bühne und dessen epochemachende erste Spielzeit, die unter anderem Inszenierungen von Henrik Ibsens Gespenster und Gerhard Hauptmanns Vor Sonnenaufgang einschloss. Nach der Premiere von Gespenster am 29. September 1889 schrieb Fontane:
Der Verein „Freie Bühne“ eröffnete gestern die Reihe seiner für diesen Winter geplanten acht Vorstellungen auf der Bühne des Lessing-Theaters, und zwar mit Ibsens „Gespenstern“, eine Wahl, die mir in doppelter Hinsicht die richtige zu sein schien: einmal in Huldigung gegen Ibsen, der (wenigstens aufs Dramatische hin angesehen) als Ältester wie als Haupt der neuen realistischen Schule dasteht, zum zweiten aus gebotener Klugheit. Die „Gespenster“ erlebten schon vor zwei, drei Jahren eine Vormittagsaufführung auf dem Residenztheater, damals noch unter Direktor Annos Leitung, und erzielten einen großen, wenn auch von den Gegnern der Schule hart bestrittenen Erfolg. […]
So viel über das Spiel. Darf auch noch über das Stück selbst ein Wort gesagt werden? Es gibt schon eine ganze Ibsen-Literatur, und speziell der Inhalt der „Gespenster“, die darin veranschaulichte Lehre von der Heimsuchung der Sünden der Väter an ihren Kindern, diese These von der Erbkrankheit in ihren schrecklichsten Formen als beständige Begleiterin der Erbsünde, mußte notwendig einen heißen Streit entflammen. In diesen Streit aufs neue eintreten mag ich um so weniger, als ich nur wiederholen könnte, was ich schon gesagt habe. Wo wären wir, wenn das Gesetz von Anfang an gegolten hätte. Die Vereisung abzuwarten, wäre nicht nötig geworden, wir wären an „Versumpfung“ längst zugrunde gegangen. Und wenn das Ibsensche Stück trotzdem auch gestern wieder eine große Wirkung geübt hat, so muß es an etwas anderem liegen. […] Es wird jetzt im Streit mit der realistischen Schule so viel auf die Dichtungen einer voraufgegangenen Literaturepoche hingewiesen, auf eine Glanzzeit, die, während sie das Ideale betonte, Größeres zu schaffen und die Menschen ungleich glücklicher zu machen verstand. Es fragt sich, ob es wahr ist. Aber wenn wahr, ebenso wahr ist es, daß diese großen Schöpfungen, die selbst den Vertretern der entgegengesetzten Richtung nach wie vor als solche gelten, im wesentlichen aufgehört haben, die Menschheit, „die jetzt dran ist“, noch lebhaft zu interessieren. Die klassischen Aufführungen schaffen seit geraumer Zeit das Seitenstück zu den leeren Kirchen. Der Aufführungspomp ist ein trauriger Notbehelf. Und in dieser Not sprang der Realismus ins Dasein, der das Kunstheil auf dem entgegengesetzten Wege suchte. Wenn es das Paradies nicht mehr sein konnte, so sollt’ es dafür ein Garten des Lebens sein. Auf dem nach diesem Ziel hin eingeschlagenen Wege hat es für manchen ein Verweilen an Stellen gegeben, daran vorüberzugehen vielleicht besser gewesen wäre. Zuletzt aber, nach mancher Irrfahrt, wird auch auf diesem Wege, davon bin ich überzeugt, das Schöne gefunden werden, und wenn es gefunden ist, so wird es eine schärfere Darstellung finden als vordem, weil das Auge mittlerweile schärfer sehen lernte. […]
Die nächste Aufführung (20. Oktober) wird Gerhart Hauptmanns soziales Drama „Vor Sonnenaufgang“ bringen. Möge ein gleich guter Stern auch über der Aufführung dieses zweiten Stückes stehn, was der Fall sein wird, wenn Künstler und Theaterdirektoren fortfahren, die Sache der „Freien Bühne“ wie bisher zu stützen. Es mag dies unter Umständen recht schwer sein, aber das ganz ungewöhnliche Interesse, womit das Publikum, und zwar ein Publikum, wie’s besser und verständnisvoller nicht gedacht werden kann, gestern der Aufführung folgte, muß auch für die das Unternehmen unterstützenden Herren ein Sporn sein, aller Schwierigkeiten mit Freuden Herr zu werden.
III. An Friedrich Stephany (10. Oktober 1889)
Berlin, 10. Oktober 1889
[…] Und nun Gerhart Hauptmann, der neue Räuberhauptmann, neben dem Ibsen bloß ein Cadet. […] Es steckt nur in all diesen neuen Stücken was drin, was die alten nicht haben und sie verhältnismäßig dürftig und oft tot erscheinen läßt. Der Realismus wird ganz falsch aufgefaßt, wenn man von ihm annimmt, er sei mit der Häßlichkeit ein für allemal vermählt; er wird erst ganz echt sein, wenn er sich umgekehrt mit der Schönheit vermählt und das nebenherlaufende Häßliche, das nun mal zum Leben gehört, verklärt hat. […]
IV. An seinen Sohn Theodor Fontane (19. Oktober 1889)
Berlin, 19. Oktober 1889.
Mein lieber alter Theo.
Seit dem Sommer habe ich nicht geschrieben, und überblicke ich die zwischenliegende Zeit, so liegt das „Urland deutscher Siege“ (so ungefähr war Albedylls Ausdruck) vor mir. Divisionen hüben und drüben, Zeltlager, Verpflegungskolonnen und Bäckereien, und dazwischen jagt, hoch zu Roß, ein Schimmelreiter, der, noch umleuchtet von der Freude, seinen Kaiser gesehen zu haben, in eine halbrevolutionäre Bäckerbande einbricht und den Gehorsam wiederherstellt und mit dem Gehorsam das, woran alles hängt: das Brot. Knesebeck, der spätere Feldmarschall, machte dadurch Karriere, daß er in der Rheinkampagne den Mut gehabt hatte, einen Graben, über den die Artillerie nicht weg konnte, mit einem Brottransport, den er führte, zu füllen; vielleicht erwächst auch Dir aus dem Brot das Glück, um so mehr, als Du’s nicht opfertest (was immer mißlich bleibt), sondern schufst. Im übrigen hat mir der ganze Vorfall, der viele seinesgleichen hat, wieder gezeigt, wie kipplich alles steht und wie sehr wir des Glückes und der Siege bedürfen, um über die Fährlichkeiten, die von allen Seiten, und zwar im eigenen Lager drohen, leidlich hinwegzukommen. Alles ist verdemokratisiert, verwelft, verkatholisiert oder ganz allgemein vergrätzt und verärgert und gehorcht nur, weil jeder im Geiste die Kanonen aufgefahren sieht, die Kreis schließen und hineinkartätschen. Aber eines Tages fehlen auch die, mit denen man Kreis schließen kann, und dann ist es vorbei. Man braucht kein Schwarzseher zu sein, um solche Zeiten vor sich aufsteigen zu sehen, und ich habe nur den einen Trost in der Seele: es kommt immer ganz anders. Wie Louis Schneider mal eine Zusammenstellung gemacht hat, um mit Hilfe von Zeitungsausschnitten aus der Zeit von 1780 bis 1870 zu beweisen, „daß in jedem Jahre gesagt worden sei, so schlecht war das Theater noch nie“, so könnte man auch Zitate zusammenstellen, um zu beweisen, daß es in jedem Jahre geheißen hat: „im nächsten geht die Welt unter, oder doch beinahe.“ Irgendeine Sünd- oder Sintflut ist immer vor der Tür, aber dabei leben die Menschen vergnüglich weiter und backen Hochzeitskuchen.
An solchem Hochzeitskuchen nimmt auch Friedel heute teil; die Schwester seines Freundes E. wurde heute nachmittag getraut und Mama war natürlich in der Kirche. Solche Paare werden immer in der Jerusalemer Kirche getraut, und die Traurede hub an: „Es ist ein kühner und heldenmütiger Schritt, den Sie vorhaben.“ Wahr, aber ungewöhnlich.
Wir leben sehr unruhig, namentlich ich, Gesellschaften, Besuche von außerhalb und vor allem viel Theater. Darunter auch Aufführungen auf der sogenannten „Freien Bühne“, die vom kleinen Brahm geleitet wird. Morgen wieder, mittags von 12 bis 2, ein Realissimus von Drama, das wütende Kämpfe im Geleite haben wird; ich als Gonfaloniere der „Neuen“ in vorderster Reihe. Was man nicht alles erlebt.
Wie immer Dein alter Papa.
V. An Friedrich Stephany (22. Oktober 1889)
Kurz nachdem er die Premiere von Hauptmanns Vor Sonnenaufgang am 20. Oktober 1889 besucht und unmittelbar nachdem er seine zweiteilige Kritik dazu verfasst hatte, stellte Fontane in seinen Briefen an Friedrich Stephany, seinen Redakteur bei der Vossischen Zeitung, Überlegungen über Ibsens und Hauptmanns Beiträge zum deutschen Theater an. Fontane war überzeugt, dass die Behauptung vieler Berliner Theaterkritiker, Hauptmann habe kein wirkliches Talent, unsinnig war.
Berlin, 22. Oktober 1889
Hochgeehrter Herr und Freunde.
Gestern abend, nachdem ich die 2. Hälfte meiner Kritik abgeliefert hatte, habe ich mir noch den Genuß gemacht, in einer Zeitungsbude die sämtlichen Abendzeitungen zu kaufen, um mich dann daheim in die Meinungen der Kollegenschaft zu vertiefen. Es war mir sehr genußreich; mir steckt von dem „alten Berliner“ (aus den 30er Jahren her) gerade noch genug im Geblüt, um mich über gute Witze, selbst wenn ich sie verwerfen muß, zu amüsieren, und so habe ich mich über Lindau und Landau und über den Unbekannten im Kleinen Journal herzlich amüsiert […]. Aber – und das ist der Grund, warum ich schreibe – alle diese Kritiken […] sind Schimpfereien und Ulkereien, als Ulke zum Teil sehr gut, aber, auf das Eigentlichste hin angesehn, oberflächlich und böswillig, entweder ohne jedes wahre Kunstverständnis geschrieben oder unter Zurückdrängung aller besseren Einsicht. Es ist lächerlich, diesen jungen Kerl (Hauptmann) so mit der landläufigen Phrase, daß er auch ein bißchen Talent habe, abspeisen zu wollen. Das ist gar nichts, „ein bißchen Talent“ hat jeder, das kann man von jedem dritten Menschen sagen, Hauptmann hat ein sehr großes, ein seltenes Talent, vor allem aber, und das muß ich immer wieder betonen – und darf es betonen, weil ich von den Dingen, die hier in Frage kommen, wirklich mehr verstehe als die andern –, vor allem spricht sich in seinem Stück ein stupendes Maß von Kunst aus, von Urteil und Einsicht in alles, was zur Technik und zum Aufbau eines Dramas gehört. Möglich, daß er die blinde Henne war, die das Korn zufällig fand und aufpickte, möglich, aber nicht wahrscheinlich. Bezwingen Sie, nach Möglichkeit, Ihre persönliche Abneigung gegen die Richtung (Gefühle respektiere ich durchaus), aber lassen Sie mich, als „alten Knopp“, die festeste Überzeugung aussprechen, daß hinter einem Manne, der so was schreiben kann, mehr steckt als hinter der andern Blase, die alle bloß nach der „Tantieme“ schielen.
Ihr Th. F.
VI. Fontanes Kommentar zu Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889)
Fontanes Kritik zu Hauptmanns Stück Vor Sonnenaufgang bietet eine nützliche Zusammenfassung, sie zeigt darüber hinaus aber auch, inwiefern Stil und Themen des naturalistischen Theaters kulturelle Konventionen auf eine Weise brachen, die Fontanes Zustimmung fand.
I
Es ist (so wenigstens stehe ich zu der Sache) nie ganz leicht, zu kritisieren, und mitunter ist es schwer. Ein solcher Fall war gestern gegeben. Nur wer den Mut hat, frisch, fromm, fröhlich und frei rundweg zu verabscheuen oder rundweg in den Himmel zu heben, dem wird auch dies Gerhart Hauptmannsche soziale Drama kein großes Kopfzerbrechen machen; wer diesen Mut aber nicht hat, vielmehr sich mit jeder neuen Szene vor immer neue Fragen gestellt sieht, der wird sich der Schwierigkeit der Beantwortung all dieser Fragen bewußt werden und einen schweren Schreibetag haben.
[…]
Eine sonderbare, eine gruselige Geschichte. Überall im Lande haben wir jetzt Gegenden, wo Bauern und mitunter bloße Kätner über Nacht reich geworden sind, und in eine solche Gegend führt uns das Stück. Es ist ein schlesisches Dorf am Rande des Gebirges, und das Haus, in das wir eintreten, ist nicht nur städtisch tapeziert und mit Bildern ausgestattet, es hat auch elektrische Klingeln und Telephon. Durch letzteres wird sogar gesprochen. Bewohnt ist das Haus, soweit es „herrschaftlich“ ist, von fünf Personen, von denen vier den alten Stamm bilden: Bauer Krause, seine viel jüngere Frau zweiter Ehe und zwei Töchter erster Ehe. Die ältere Tochter ist bereits mit einem Ingenieur Hoffmann verheiratet, der nun der fünfte im Hause, seiner Stellung nach aber der erste ist. Er hat das Geschäftliche in die Hand genommen und das Vermögen, das er vorfand, schwindelhaft gesteigert, dabei zugleich für die Modernisierung des Hauses Sorge getragen. Ja, Klingeln und Telephon sind da, Pferd’ und Wagen auch, sogar ein „Eduard“, Livreediener aus Berlin. In Wahrheit aber ist dies auf den Vornehmheitsschein gestellte Haus ein furchtbares Haus, ein Haus mit einem Gespenst in jedem Winkel. Der alte Bauer lebt, als hochgradiger Säufer, eigentlich nur noch in der Schenke, die Frau zweiter Ehe, eine Kuhmagd von vordem oder doch nicht viel was andres, spielt sich, wenn’s ihr paßt, auf die „gnädige Frau“ hin aus, die mit dem Ingenieur Hoffmann verheiratete ältere Tochter hat, vom Vater her, das Fuselbedürfnis geerbt, und ihr Gatte, Hoffmann, der Dirigens des Hauses, ist Phraseur und rücksichtsloser Genußmensch, der nur sich kennt und seinem Vergnügen alles unterordnet. Ehe sich uns diese Schnaps- und Sündensippe vollzählig vorstellt, machen wir die Bekanntschaft Alfred Loths, eines ehemaligen Schul- oder Studiengenossen Ingenieur Hoffmanns. Alfred Loth kam hierher, um die Arbeiterfrage, besonders die der Kohlengrubenarbeiter, an Ort und Stelle studieren zu können. Er ist idealer, sozialdemokratisch angeflogener Politiker und lebt von Artikel- und Bücherschreiben, ein anständiger Kerl, etwas verrannt, starker Doktrinär und Prinzipienreiter, aber durchaus ehrlich und zuverlässig. Unter seinen Prinzipien steht Bekämpfung des Alkoholismus obenan. Er gehört zu denen, die kraft ihrer Kraft wieder eine tüchtigere Menschensorte herstellen wollen, um dann, von der verbesserten Rasse, zur Menschenbeglückung fortzuschreiten. Gesundheit natürlich erste Bedingung, Grundlage. Dieser mit Menschheiterhebungsgedanken gesättigte Alfred Loth, den man kurz als einen Abstinenzfanatiker charakterisieren kann, steckt nun also in einer Schnapshöhle. Scharfe Beobachtung scheint nicht seine Spezialität; er merkt nichts. Vielleicht deshalb nicht, weil er sich, wie so oft die Doktrinäre, sofort für die jüngere Tochter Helene zu interessieren beginnt. Und sie für ihn. Mit dieser Helene steht es übrigens anders wie mit den andern Mitgliedern des Hauses. Ein Letzter Wille ihrer verstorbenen Mutter hatte sie vor etlichen Jahren, erziehungshalber, nach Herrnhut geführt, und das Eintreten Alfred Loths in ihres Vaters Haus ist ihr gleichbedeutend mit einer Wiederanknüpfung an Zeiten, wo sie noch Menschen sah und Menschen hörte. Mit einer von Augenblick zu Augenblick wachsenden Macht drängt sich ihr die Überzeugung auf, daß ihre Rettung aus dem Sumpf, in dem sie steckt, nur durch diesen wie durch eine göttliche Fügung in ihr Haus gekommenen einfachen Mann bewirkt werden kann, der nicht blendet und besticht, der aber ehrlich ist und Grundsätze hat. Und was das beste ist, der sie liebt. Es kommt zu keiner feierlichen Verlobung, aber sie sind verlobt, und Helene zählt die Stunden, die sie freimachen und in andere Verhältnisse hinüberführen sollen. Wenn nötig durch Flucht. Da führt das Schicksal, zu Heil oder Unheil, den Arzt des Gebirgsdorfes ins Haus, den Dr. Schimmelpfennig, in dem Alfred Loth, wie tags zuvor in Hoffmann, abermals einen Genossen aus alten Verbindungszeiten wiedererkennt, einen Genossen, der aber den Grundsätzen von damals treugeblieben ist. In einer wundervollen Szene, der dramatisch bedeutendsten des Stücks, entrollt der pessimistische, zugleich wie Loth von Idealen getragene Schimmelpfennig ein Bild des Krauseschen Hauses und Familienlebens vor dem entsetzt aufhorchenden Freunde, der sich nun vor die Wahl gestellt sieht, entweder mit seinen Prinzipien oder mit seinem Liebesversprechen zu brechen. Er wählt das letztere, schreibt ein Abschiedswort und verläßt das Haus. Als Helene, wenige Minuten später, von furchtbaren Ahnungen erfaßt, nach ihm sucht und nichts findet als das Abschiedswort, reißt sie verzweifelt und rasch entschlossen einen Hirschfänger von der Wand und stürzt auf die Nebenstube zu. Gleich danach kommt eine Magd, um Helenen eine Bestellung zu machen, und als sie, sie suchend, zuletzt in das angrenzende Zimmer getreten, stürzt sie mit einem Schrei des Entsetzens wieder hinaus, und durch das öde Haus hin klingt die Kunde von dem blutig Geschehenen. Die Szene bleibt leer, während der Vorhang niedergeht.
Dies ist der Inhalt des Stücks, den ich in dieser Skizze, seinem Kern und Wesen nach, glaube richtig wiedergegeben zu haben. Aber was ich nicht wiedergegeben habe, weil es sich nicht wiedergeben läßt, das ist der Ton, in dem das Ganze gehalten. Und deshalb ist jede Wiedergabe derart immer unvollkommen und meist auch schädigend. Der Ton ist, bei Arbeiten wie diese, die viel von der Ballade haben, nahezu alles, denn er ist gleichbedeutend mit der Frage von Wahrheit oder Nichtwahrheit. Ergreift er mich, ist er so mächtig, daß er mich über Schwächen und Unvollkommenheiten, ja selbst über Ridikülismen hinwegsehen läßt, so hat ein Dichter zu mir gesprochen, ein wirklicher, der ohne Reinheit der Anschauung nicht bestehen kann und diese dadurch am besten bekundet, daß er den Wirklichkeiten ihr Recht und zugleich auch ihren rechten Namen gibt. Bleibt diese Wirkung aus, übt der Ton nicht seine heiligende, seine rettende Macht, verklärt er nicht das Häßliche, so hat der Dichter verspielt, entweder weil seine Gründe doch nicht rein genug waren und ihm die Lüge oder zum mindesten die Phrase im Herzen saß, oder weil ihn die Kraft im Stich ließ und ihn sein Werk in einem unglücklichen Momente beginnen ließ. Ist das letztere der Fall, so wird er’s beim nächsten Male besser machen, ist es das erstere, so tut er gut, sich „anderen Sphären reiner Tätigkeit“ zuzuwenden. Gerhart Hauptmann aber darf aushalten auf dem Felde, das er gewählt, und er wird aushalten, denn er hat nicht bloß den rechten Ton, er hat auch den rechten Mut und zu dem rechten Mute die rechte Kunst. Es ist töricht, in naturalistischen Derbheiten immer Kunstlosigkeit zu vermuten. Im Gegenteil, richtig angewandt (worüber dann freilich zu streiten bleibt), sind sie ein Beweis höchster Kunst.
Das ungefähr waren meine Betrachtungen, als ich das Stück Gerhart Hauptmanns gelesen. Er erschien mir einfach als die Erfüllung Ibsens. Alles, was ich an Ibsen seit Jahr und Tag bewundert hatte, das „Greift nur hinein ins volle Menschenleben“, die Neuheit und Kühnheit der Probleme, die kunstvolle Schlichtheit der Sprache, die Gabe der Charakterisierung, dabei konsequenteste Durchführung der Handlung und Ausscheidung alles nicht zur Sache Gehörigen – alles das fand ich bei Hauptmann wieder, und alles, was ich seit Jahr und Tag an Ibsen bekämpft hatte: das Spintisierige, das Mückenseigen, das Bestreben, das Zugespitzte noch immer spitzer zu machen, bis dann die Spitze zuletzt abbricht, dazu das Verlaufen ins Unbestimmte, das Orakeln und Rätselstellen, Rätsel, die zu lösen niemand trachtet, weil sie vorher schon langweilig geworden sind, alle diese Fehler fand ich bei Gerhart Hauptmann nicht. Kein von philosophisch-romantischen Marotten gelegentlich angekränkelter Realist, sondern ein stilvoller Realist, das heißt von Anfang bis Ende derselbe.
So stand ich zu dem jungen Dichter und seinem Stück, und so gewappnet und gefeit (wie ich glaubte) trat ich gestern ins Theater. Und ich bin auch in meinen Grundanschauungen unerschüttert geblieben, kann aber andererseits nicht in Abrede stellen, daß die Wirkung der Aufführung eine von der Lektüre sehr verschiedene war. Sie war nicht geringer, sie war nur ganz anders. […] Im Publikum wurden dabei, je nach der Parteistellung, mehr oder weniger heftige Beifalls- oder Mißfallenszeichen laut, ein zustimmendes oder ein verhöhnendes Lachen, auch wohl eins jener kritischen Impromptus, darin die Berliner exzellieren. […] Man sah einen schwer Betrunkenen und einige Imbeziles. Durch stärkeres Betonen der Brutalitätselemente, die der Dichter, in vollem künstlerischem Bewußtsein, hier vorgeschrieben hat, wäre diese Nichtwirkung freilich leicht in eine starke Wirkung umzusetzen gewesen, aber es ist mir nachträglich doch ganz sicher, daß das dem Grusel auch nicht aufgeholfen, sondern nur einfach das Widerliche (mit vielleicht sehr bedenklichen Folgen für den Ausgang des Stücks) an die Stelle des prosaisch Indifferenten gesetzt hätte. Und so hatten denn Oberleitung und Regie von zwei Übeln das kleinere gewählt. Das aber nahm ich, als Resultat dieser Aufführung, für mich persönlich mit heim, daß der Realismus, auch der künstlerischste, wenn er aus dem Buch auf die Bretter tritt, doch gewissen Bühnengesetzen unterworfen bleibt, und daß Züge lebendigen Lebens, die dem realistischen Roman, auch wenn sie häßlich sind, zur Zierde gereichen, auf der Bühne prosaisch wirken, wenn man ihnen die Locken ihrer Kraft nimmt, oder abstoßend, wenn man ihnen ihre Echtheit beläßt. […]
II
[…]
Über Hauptmanns Drama wird noch viel gestritten und manche vieljährige Freundschaft ernster oder leichter gefährdet werden, aber über eines wird nicht gestritten werden können, über den Dichter selbst und über den Eindruck, den sein Erscheinen machte. Statt eines bärtigen, gebräunten, breitschultrigen Mannes mit Klapphut und Jägerschem Klapprock erschien ein schlank aufgeschossener junger blonder Herr, von untadligstem Rockschnitt und untadligsten Manieren, und verbeugte sich mit einer graziösen Anspruchslosigkeit, der wohl auch die meisten seiner Gegner nicht widerstanden haben. Einige freilich werden aus dieser Erscheinung, indem sie sie für höllische Täuschung ausgeben, neue Waffen gegen ihn entnehmen und sich gern entsinnen, daß der verstorbene Geheime Medizinalrat Casper sein berühmtes Buch über seine Physikats- und gerichtsärztlichen Erfahrungen mit den Worten anfing: „Meine Mörder sahen alle aus wie junge Mädchen.“
Quelle: Teil I (über Iffland): Theodor Fontane, Sämtliche Werke, Bd. 22, Causerien über Theater, herausgegeben von Edgar Gross. München: Nymphenburger Verlagshandlung, 1964, S. 636; Teil II (über Ibsen): Theodor Fontane, Sämtliche Werke, Bd. 22, S. 705–09; Teile III–V (an Friedrich Stephany; an seinen Sohn; an Friedrich Stephany): Theodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe, herausgegeben von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, zweiundzwanzig Dünndruckbände in vier Abteilungen, Abteilung IV, Briefe, Bd. 3, 1879–1889. München: Carl Hanser Verlag, 1980, S. 728–32; Teil VI (über Hauptmann): Theodor Fontane, Sämtliche Werke, Bd. 22, S. 710–18.