Einleitung
Nach der Niederlage Napoleons und seiner Vertreibung aus den deutschen Staaten im Jahr 1814 erlebte Mitteleuropa ein halbes Jahrhundert des Friedens. Der Deutsche Bund (1815–1866) war eine lose Föderation bestehend aus 39 souveränen, unabhängigen Staaten. Diese Vereinigung war weit entfernt von dem geeinten deutschen Nationalstaat, so wie nationalistische Deutsche ihn sich vorstellten: Innerhalb der Grenzen des Deutschen Bundes waren Teile des habsburgischen Kaiserreichs (Österreich), Enklaven nicht-deutschsprachiger Völker sowie einige (aber nicht alle) Hoheitsgebiete Preußens vereint. In den fünfzig Jahren seines Bestehens taten deutsche Nationalisten ihre zunehmend detaillierten Vorstellungen dieses Staates mit immer mehr Eifer kund: Unaufhörlich sprachen und schrieben sie über die ideale Gestalt dieses zukünftigen Deutschlands und diskutierten, ob es eine Verfassung, ein repräsentatives Parlament und vielleicht sogar eine republikanische Regierungsform annehmen solle.
Die rasante Zunahme an Zeitungen und Zeitschriften trug insbesondere nach 1830 dazu bei, dass die Botschaft der Nationalisten einen größeren Teil der Bevölkerung Mitteleuropas als je zuvor erreichte. Dabei fühlten sich in erster Linie ähnlich gut gebildete Mitglieder der städtischen Elite angesprochen. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen lebte jedoch auf dem Land, wo Unsicherheit und Not an der Tagesordnung waren. In den 1840er Jahren wehrten sich Kritiker des Status quo zunehmend lautstark gegen Alleinherrscher. Katastrophale Ernten taten ihr Übriges und trugen somit zum Ausbruch der deutschen (und gesamteuropäischen) Revolutionen von 1848–49 bei. Zwischen März und Mai 1848 wurde die Frankfurter Nationalversammlung per allgemeinem und gleichem Mehrheitswahlrecht (von Männern) gewählt und zum ersten Mal einberufen. Im Laufe des Folgejahres diskutierten die Abgeordneten grundlegende gesellschaftliche, wirtschaftliche und nationale Fragen, verfügten jedoch nicht über die Durchsetzungsgewalt, um den Mitgliedsstaaten ihre Entscheidungen aufzuzwingen. Angesichts einer staatlich geführten konservativen Opposition zum Paulskirchenparlament sah sich die Frankfurter Nationalversammlung spätestens im März 1849 zur Auflösung gezwungen. Im Folgemonat lehnte Preußens König Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone ab, die er als Bürde anstatt einer Ehre betrachtete.
In den 1850er Jahren – die weder so öde noch so reaktionär waren, wie Historiker/innen einst annahmen – nahm die industrielle Revolution in Deutschland an Fahrt auf und mündete in einer Marktwirtschaft. Dieser industrielle Durchbruch verschaffte Preußen neuen Reichtum und internationales Ansehen, da sich viele der Regionen mit den rasantesten Industrialisierungsraten auf preußischem Hoheitsgebiet befanden. Die preußischen Staatsmänner waren jedoch weder stark noch mutig genug, um dem Habsburgerreich seine Vormachtstellung in Mitteleuropa streitig zu machen. Auch die Idee eines „Dritten Deutschlands“ fand keine Anhängerschaft. Eine Grundvoraussetzung dafür, dass Preußen in den frühen 1860er-Jahren seine Macht behaupten konnte, waren der Ausbau und die Reform der preußischen Armee. Als der preußische König Wilhelm I. jedoch neue Rekruten anwerben wollte, stieß er damit auf den Widerstand der Liberalen im preußischen Parlament. Der daraus resultierende Verfassungskonflikt glich einer Konfrontation zwischen Absolutismus und dessen Gegenpolen: Liberalismus, Konstitutionalismus und Parlamentarismus. Im September 1862 ernannte der preußische König deshalb Otto von Bismarck zu seinem Ministerpräsidenten, um diesen toten Punkt zu überwinden. Zunächst blieb Bismarck damit erfolglos: Politische Unterdrückung allein brachte die liberale Opposition nicht von ihrem Kurs ab. Nach und nach kam Bismarck zu dem Schluss, dass ein militärischer Showdown mit Österreich die internen und externen Probleme Preußens lösen könne. So wurde der Rahmen für die dramatischen Ereignisse von 1866–71 gesteckt.
Überblick
Die deutsche Einigung im Jahr 1871 war ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung. Sie schuf einen Nationalstaat mit 41 Millionen Bürger/innen im Herzen Europas. Das neue Deutsche Reich, eine Föderation bestehend aus 26 mehr oder weniger autonomen Königreichen, Großherzogtümern, Fürstentümern und Stadtstaaten, galt als militärische Antriebs- und Wirtschaftskraft Europas. Der Rest der Welt beneidete es um seine fortschrittliche Wissenschaft, Technik, Bildung und kommunale Verwaltung, während seine künstlerische Avantgarde dem Unruhezustand der europäischen Kultur Ausdruck gab. Nach dem Ausscheiden Otto von Bismarcks aus dem Amt im Jahr 1890 spielte Deutschland eine entscheidende Rolle bei der Auslösung der Katastrophe, die der Erste Weltkrieg bedeutete. Die Weimarer Republik der 1920er Jahre stellte ein Experiment in Demokratie dar, doch nach Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler im Januar 1933 wurde Deutschland unter den Nazis zu einer kriminellen Macht, die Völkermord beging und die Welt in einen zweiten, noch verheerenderen Konflikt stürzte. Zwischen 1949 und 1990 folgte eine kurze Epoche zweier souveräner deutscher Staaten. Heute ist das geeinte Deutschland wieder das wirtschaftliche Kraftpaket Europas und hat sich sein Ansehen als solide, verlässliche Nation zurückgewonnen.
Die Geschichte hätte aber auch eine andere Wendung nehmen können.
Am 22. August 1862 kämpften zwei Schwimmer im Golf von Biskaya in der Nähe des beliebten französischen Ferienortes Biarritz gegen eine teuflische Strömung an.[1] Unter ihnen war Prinzessin Katharina Orlowa, die energiegeladene zweiundzwanzigjährige Frau des russischen Botschafters in Brüssel. Der andere, ebenfalls begeisterte Schwimmer war Otto von Bismarck, der zu dieser Zeit Preußens diplomatischer Gesandter in Frankreich war. Nach seiner Ankunft in Biarritz schrieb Bismarck seiner Frau Johanna über den Blick von seinen Gemächern im Palais Beauharnais, „mit reizender Aussicht auf die blaue See, die ihren weißen Schaum zwischen wunderlichen Klippen hindurch gegen den Leuchtthurm treibt.“ […] „Bin lächerlich gesund, und so glücklich […].“[2] Bismarck war zwar von der Landschaft beeindruckt; noch mehr war er aber von der verheirateten Fürstin begeistert, die „lustig, klug und liebenswürdig“ war, aber auch eine verbotene Liebe darstellte. Halb so alt wie er, nannte sie ihn „Onkel“, während er sie „Kathi“ rief. Historiker/innen fragen sich bis heute, ob Bismarck tatsächlich verliebt war und ob die Beziehung rein platonisch blieb. Rettungsschwimmer vor Ort hatten währenddessen ein Auge auf andere lauernde Gefahren. Sie hatten eine Vereinigung gegründet, um Schwimmer vor der atlantischen Strömung zu retten, von der sie wussten, dass sie Schwimmende leicht auf hohe See hinaustragen konnte. Laut des Berichts des Rettungsschwimmvereins wurde Fürstin Orlowa an jenem Augusttag zuerst von der Strömung erfasst; Bismarck versuchte, sie zu retten, doch bald schon waren beide in Seenot geraten. Ein Leuchtturmwärter, Pierre Lafleur, schaffte es, zuerst die Fürstin, dann den Gesandten zu retten, beide halb tot. Später wurde Bismarck Pate von Lafleurs Sohn, der, als Lafleur kurze Zeit später selbst selbst ertrank, seinen Vater verlor.
Vier Wochen nach Bismarcks Nahtoderlebnis wurde er am 23. September 1862 zum neuen Ministerpräsidenten Preußens ernannt. Bereits im Alter von 47 Jahren hatte er sich einen Ruf für seine konservativen Ansichten und seine Denunziation von Revolutionären im Jahr 1848 erarbeitet. Preußens Kriegsminister hatte König Wilhelm I. überzeugt, dass Bismarck der richtige Mann war, um den Widerstand der Liberalen im preußischen Parlament gegen seine Heeresreform zu durchbrechen. Wilhelm hatte dieser Widerstand, der bald zu einem ausgewachsenen Konflikt zwischen der Monarchie und dem Parlament herangewachsen war, so sehr entmutigt, dass er bereits seine Abdankungserklärung unterzeichnet hatte. Der Geschichtsausgang stand auf Messers Schneide. Einige Zeitgenoss/innen rechneten mit einer bürgerlich-liberalen Revolution, vergleichbar mit dem Pariser Aufstand im Jahr 1830, der die französische Bourbon-Dynastie ins Exil getrieben hatte. Andere fürchteten einen Staatsstreich gegen das Parlament, ähnlich der Machtergreifung Louis Napoleons im Jahr 1851. Weder die Revolution noch der Staatsstreich traten ein – ebenso wenig wie der doppelte Ertrinkungstod am Strand von Biarritz. Stattdessen stellte Bismarcks Ernennung 1862 die nationalen und internationalen Weichen, durch welche Preußen in weniger als zehn Jahren in der Lage war, die sogenannte „deutsche Frage“ zu lösen. Dies gelang, indem Österreich abgekapselt, die liberale Opposition überrumpelt, der „ewige Feind“ Frankreich besiegt und ein geeintes Deutsches Reich geschaffen wurde.
Um zu klären, wie sich Vergangenes tatsächlich zugetragen hat, sind „was wäre wenn“ – Szenarien – auch kontrafaktische Geschichte genannt – nicht immer die beste Option. Der Historiker Thomas Nipperdey hat bekanntermaßen erklärt: „Am Anfang war Bismarck“ – und so sollten wir also auch bei Bismarck ansetzen. Warum beziehen wir uns wie selbstverständlich auf das „Bismarcksche Deutschland“ oder auf Bismarck als Gründer und Architekt der deutschen Reichseinigung? Bestätigt Bismarcks historische Bedeutung die Geschichtstheorie des „großen Mannes“ (oder gar der „großen Persönlichkeit“)? Oder gibt es eine ertragreichere Weise, in welcher Fragen nach dem Zustandekommen der deutschen Reichseinigung, dem tatsächlichen Sitz der Macht im zweiten Deutschen Reich sowie zu unerschlossenen Möglichkeiten in dieser Zeit gestellt werden können?
Historiografische Debatte und
offene Fragen
Die zentralen Debatten über Bismarcks
Deutschland können in zwei Hauptgruppen unterteilt werden.
Einerseits haben Geschichtsforschende die Bedeutung des Kaiserreichs
in seiner Gesamtheit für die neuere deutsche Geschichte erörtert.
Eine strittige Frage hierbei betrifft die Ursprünge des
Nationalsozialismus und des Dritten Reiches: Geht diese Entwicklung
auf die Epoche vor 1918 zurück? Andererseits gibt es
Wissenschaftler/innen, die allein die Zeit von Bismarcks Aufstieg
(1866–1890) erforschen. Eine Frage, die sie hierbei besonders
beschäftigt, betrifft die deutsche Reichseinigung im Jahr 1871 und
ob diese tatsächlich eine Bismarcksche „Revolution von oben“ war,
wie sie oft dargestellt wird.
Das Deutsche Kaiserreich
(1871–1918)
Zum ersten Fragenkomplex gehören vier
Debatten, die das Bismarcksche und Wilhelminische Deutschland in
einem gemeinsamen Interpretationsrahmen bündeln.
(1) Gab es einen besonderen Weg, einen deutschen „Sonderweg“, der von der Mitte des 19. Jahrhunderts geradewegs zum Dritten Reich führt? Schon vor dem Ersten Weltkrieg und erneut in der Zwischenkriegszeit weckte Deutschlands angebliche Besonderheit positive Assoziationen: Die Vorstellung wurde bereitwillig von denjenigen deutschen Historikern aufgegriffen, die annahmen, ihre Nation sei so vielen für den „Westen“ typischen Entwicklungsschwierigkeiten entgangen. In den 1970er-Jahren wurden die Pole der Sonderweg-These jedoch umgekehrt, was dem Bedürfnis der deutschen Gesellschaft entsprach, die Bedeutung und Ursachen des Nationalsozialismus und des Holocausts zu ergründen. Die Idee eines negativen deutschen Weges hin zur Moderne wurde von einer Gruppe relativ junger deutscher Historiker/innen hervorgebracht, von denen viele an der Universität Bielefeld lehrten. Die prominentesten unter ihnen waren Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka. Diese Akademiker/innen suchten die Ursachen im Deutschen Kaiserreich und schlossen, dass die deutsche Geschichte damals bereits begonnen hatte, aus dem Ruder zu laufen. Deutschland hatte 1848 keine bürgerliche Revolution erlebt, im Gegensatz zu Großbritannien im Jahr 1688 und Frankreich 1789. Deutschlands „fehlende Revolution“, abermals im Unterschied zu Großbritannien und Frankreich, bewahrte die Vorrangstellung der vorindustriellen Eliten – insbesondere adeliger Junker mit Großgrundbesitz in Ostpreußen, aber auch der militärischen, bürokratischen und höfischen Eliten. Laut dieser These stärkte die Reichseinigung im Jahr 1871 das Ansehen und die Macht der traditionellen preußischen Elite, baute deren Dominanz in Deutschland aus und versperrte damit mögliche Entwicklungswege hin zu Liberalismus, Parlamentarismus und Demokratie. Zudem entstand eine „Matrix der autoritären Gesellschaft“ auf der Grundlage antidemokratischer Traditionen, die innerhalb der Familie, in Schulen, in der Studentenschaft und anderswo gefördert wurden. Laut den „Bielefeldern“ brachten diese Merkmale des Deutschen Kaiserreichs die deutsche Geschichte vom üblichen westlichen Kurs hin zur liberalen Demokratie ab und schufen gleichzeitig die Voraussetzungen für Hitler und die Nationalsozialisten.[3]
Seit den 1980er Jahren haben Kritiker/innen der Sonderweg-These diese Stück für Stück widerlegt. Obwohl es seit dieser These immer noch keinen Konsens unter Historiker/innen gibt, erkennen Forschende mittlerweile an, dass das Deutsche Kaiserreich viel moderner, dynamischer und auf bürgerliche (anstatt adelige) Interessen ausgerichtet war, als die „Bielefelder“ annahmen. Die deutsche Reichseinigung war keine schlichte, eigenhändig von Bismarck angeordnete „Revolution von oben“. Die Liberalen waren beispielsweise erfolgreicher, als bisher angenommen worden war. Das Bürgertum war nicht „feudalisiert“, im Gegenteil: Im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Raum hatte es die praktische Vorherrschaft inne. Und Deutschland kehrte auch nicht von einem westlichen Kurs ab, der auf direktem Weg zu einer liberalen Demokratie führen würde, weil es dieses „typische“ westliche Muster gar nicht gibt. Kritiker/innen der Sonderweg-These haben zudem die zahlreichen geschichtlichen Brüche nach 1919 betont, welche die Vorstellung einer kontinuierlichen Entwicklung von Bismarck hin zu Hitler schwächen. Zu solchen Brüchen gehören die Kriegsniederlage, die Revolution und der knapp vermiedene Bürgerkrieg 1918–19, die Hyperinflation von 1923, die Weltwirtschaftskrise nach 1929 und das kurzsichtige Kalkül antidemokratischer Eliten im Januar 1933, die fälschlicherweise glaubten, Hitler zwar ins Kanzleramt hieven, ihn aber trotzdem in Schach halten zu können.
(2) Auch Historiker/innen, die die grundlegende Demokratisierung der deutschen Gesellschaft erforschen, betrachten die Bismarcksche und die Wilhelminische Zeit stets gemeinsam. Gemeint ist damit das Vordringen der Politik bis in die untersten Gesellschaftsschichten und in die kleinsten Gruppierungen des Bundes. Kurzfristig trug Bismarcks Entscheidung, das allgemeine Wahlrecht für Männer bei Nationalwahlen ab 1867 einzuführen, zweifellos zu einer raschen Ausdehnung der politischen Nation bei, doch Forschende sind sich weiterhin uneinig über die langfristigen Auswirkungen. Hat beispielsweise der wirtschaftliche Abschwung nach 1873 die Voraussetzungen für einen „politischen Massenmarkt“ geschaffen, auf dem Antisemitismus und andere Formen der Volksaufwiegelung eingesetzt wurden, um die Stimmen von Wählern zu gewinnen, die von der wirtschaftlichen Modernisierung benachteiligt wurden? Wann begann das Zeitalter der „Massenpolitik“? Und wenn die Verfassung des Deutschen Kaiserreichs auf einer Mischung aus Parlamentarismus und Monarchie beruhte, welche Hoffnungen gab es dann für zunehmend demokratischere Vorgehensweisen und Ergebnisse? Diese Fragen können nicht allein mit Tunnelblick auf das Bismarcksche oder Wilhelminische Deutschland beantwortet werden. Die zynische Ausbeutung materieller Missstände und kultureller Ängste mag nach der Jahrhundertwende ein neues Hoch erreicht haben. Doch der Soziologe Max Weber kam bereits vorher zu dem Schluss, dass Bismarck 1890 der Nachwelt eine Nation „ohne alle und jede politische Erziehung“ hinterlassen hatte. Zu dieser Zeit, so Weber, lag die Fähigkeit der deutschen Nation „zu eigenem politischen Denken […] tief unter dem Niveau, welches sie in dieser Hinsicht zwanzig Jahre vorher [d.h. 1870] bereits erreicht hatte“.[4]
(3) Inwieweit war das zweite Deutsche Reich ein tatsächlicher Nationalstaat? Hieraus ergeben sich zwei miteinander verbundene Fragestellungen. Einerseits: Wo lagen die Schnittstellen lokaler, regionaler, nationaler und kosmopolitischer Identitäten in der Selbstwahrnehmung der Deutschen? War die Liebe zur Heimat mit diesen neuen nationalstaatlichen Zuneigungen und Zugehörigkeitsgefühlen vereinbar? Und machte es tatsächlich einen Unterschied, dass das Deutsche Kaiserreich ein föderaler Staatenbund war?[5] Andererseits wurde auch nach dem Ausschluss deutschsprachiger Teile des Habsburgerreichs im Jahr 1866, welcher eine „kleindeutsche“ Antwort auf die deutsche Frage bedeutete, weiter über die nationale Mission Deutschlands diskutiert. Radikale nationalistische Vereinigungen wie der Alldeutsche Verband wurden um 1890 gegründet, zu eben jenem Zeitpunkt, als Bismarcks System kontinentaler Bündnisse den Weg freizumachen begann für die „Weltpolitik“ im Sinne Kaiser Wilhelms II. Nach 1900 kämpften radikale Nationalist/innen miteinander und mit der Berliner Regierung um die Wahrung der Symbole nationaler Autorität. Viele dieser Konflikte fanden jedoch ihren Ursprung bereits in der Ära Bismarck.
(4) Die vierte und letzte Reihe an ragen über das Deutsche Kaiserreich insgesamt bezieht sich auf die Vormachtstellung bürgerlicher Interessen und Werte. Diese Fragen zeigen auf, inwieweit das Zweite Reich dem Deutschland ähnlicher war, das wir heute kennen, als der Großmacht Friedrichs des Großen. Wie modern war das Kaiserreich? Wie bürgerlich war das Kaiserreich? War die deutsche Gesellschaft eine Untertanen-Gesellschaft (anstatt einer Bürgergesellschaft)? Diese Fragen wurden bereits vor langer Zeit von Hans-Ulrich Wehler und Thomas Nipperdey gestellt – sie fachen jedoch weiterhin historische Debatten an. Es scheint manchmal, als ob Historiker/innen alles vor 1890 als „unmodern“ und alles nach 1890 als hypermodern betrachten.[6] Doch lange bevor Bismarck sein Amt verließ, war Deutschland bereits zu einer vollständig kapitalistischen Industriewirtschaft geworden, die politische Kultur wurde von einer Massenpresse und -parteien geprägt, und erkennbar moderne Zukunftsängste durchzogen jetzt schon die deutsche Gesellschaft. Obwohl sich Wissenschaftler/innen mittlerweile mit der Aussage, dass das Kaiserreich sowohl „autoritär“ als auch „modern“ war, zufriedengeben, wissen sie dennoch, dass damit das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Von beständigem Interesse bleibt beispielsweise die Frage, ob das deutsche Volk Reformen akzeptiert hätte, um ein Abgleiten hin zu Krieg und Revolution 1914–18 zu vermeiden?[7]
Bismarcks Deutschland
(1866–1890)
Was ist mit dem zweiten Fragenkatalog – jenen
Fragen, die Wissenschaftler/innen veranlasst haben, sich
ausschließlich mit der Ära Bismarck auseinanderzusetzen? Natürlich
bedeutet ein Scheuklappenfokus auf die 1870er- und 1880er-Jahre,
unter falschen Voraussetzungen anzufangen. Es ist jedoch möglich,
vier wichtige Fragen auszumachen, die unter Bezug auf Dokumente und
Abbildungen in Band 4 allein beantwortet werden können.
Verständlicherweise beginnen wir dabei mit Bismarck selbst.
(1) Der „Bismarck-Mythos“ existierte vor 1890 nur im Ansatz und wuchs erst nach Bismarcks Ausscheiden aus dem Amt exponentiell an: Bis zum Jahr 1914 waren Bismarck-Denkmäler in ganz Deutschland errichtet worden. Ihre Verbreitung war ein Meisterstück der Manipulation von Gedächtniskulturen: Bismarck buchstäblich und bildhaft auf ein Podest zu stellen, sollte liberale Traditionen diskreditieren und autoritäre billigen. Wenn sich die Bismarck-Forschung mittlerweile aber nicht mehr um die Frage „Mensch oder Mythos?“ dreht, warum reißt der Strom an Biografien, die Verlage auch im 21. Jahrhundert weiterhin veröffentlichen, nicht ab?[8] Wie werden Bismarcks Leistungen heute im Vergleich zu vor 50 (oder vor 100) Jahren beurteilt? Und wie trennt man seine Strategien und Errungenschaften von seinen Fehltritten und Misserfolgen? Bei jeglichen Versuchen, diese Fragen zu beantworten, sind Bismarcks komplexe Persönlichkeit und seine undurchschaubaren Motive von zentraler Bedeutung: Hatte Bismarck mit seinen drei Einigungskriegen (1864–71) wirklich vor, ein neues Deutschland zu gestalten? Spielten Beweggründe, seine persönliche Macht auszubauen, beim Entwurf der Reichsverfassung 1866–67 bereits eine Rolle? Welche Bedeutung muss seiner Arbeitsbeziehung zu den drei deutschen Kaisern beigemessen werden? (Es gab schließlich nur drei, und Bismarck hatte ein außerordentlich gestörtes Verhältnis zu den letzten beiden.) Warum hatte sich Bismarck bei der sogenannten „zweiten Reichsgründung“ in den Jahren 1878–79 vom Liberalismus abgewandt? Und warum nahm seine Begeisterung für Überseekolonien in weniger als zwölf Monaten (1884–85) zu und wieder ab?
Das Lesepublikum wird feststellen, dass Kurzbeschreibungen von Bismarcks Herrschaftssystem – bonapartistische Diktatur, Cäsarismus, charismatische Führung, versteckter Despotismus – die Sachlage nicht erschöpfend erklären können. Bismarck befolgte drei Regeln der Staatskunst, die in keines dieser Schemata passen. Er wählte oft Strategien, um kurzfristige Notsituationen abzuwenden, anstatt langfristige Ziele zu erreichen. Dazu gehörte, dass er sich seine Optionen offenhielt, bis sämtliche Alternativen ausgeschöpft waren. Und er verstand die Realpolitik – die Politik des Möglichen – als einen Weg, um eine Politik frei von Gefühlen und subjektiven Weltanschauungen zu machen. Laut Bismarck war das Festhalten an Grundsätzen im Leben so, als ginge man einen engen Waldweg entlang und müsse dabei eine lange Stange im Mund balancieren. Kurzbeschreibungen sind aus einem zweiten Grund irreführend. Bismarck hatte niemals auch nur annähernd die Alleinherrschaft inne. Die Symbolkraft des „eisernen Kanzlers“ Deutschlands wurde von Bismarck selbst sorgfältig gestaltet und inszeniert, und musste von Zeit zu Zeit aufgefrischt werden. Bismarck kam zweifellos eine zentrale Bedeutung für das gesamte politische System des Kaiserreichs zu, obwohl er selbst behauptete, er handle nur im Sog geschichtlicher Entwicklungen, die außerhalb seines Einflussbereichs lagen. Trotzdem war Bismarck nur eine von vielen einflussreichen Persönlichkeiten, die dem neuen Kaiserreich ihren Stempel aufzudrücken suchten und gleichzeitig andere daran hindern wollten.
(2) Wenn man Bismarcks Talent anerkennt, sich aber nicht von seinem „Genie“ blenden lässt, inwieweit ändert das die Sicht auf die deutsche Einigung 1871? Historiker wie Wolfgang J. Mommsen haben das neue Kaiserreich als ein „System umgangener Entscheidungen“ bezeichnet. Andere wiederum betrachten die vermeintliche Verbindung aus Absolutismus und Parlamentarismus im Deutschen Kaiserreich als typisch deutsche (und erfolgreiche) Form eines modernen Rechtsstaates. Wieder andere sehen diese Form als typischen Meilenstein auf dem Weg hin zu einer modernen liberalen Demokratie, vergleichbar mit anderen, die seit dem 18. Jahrhundert in Europa und Amerika entstanden waren. Bismarcks Beziehung zum Reichstag und seine beharrlichen Bemühungen, dessen Kompetenzbereich zu begrenzen, sind nach wie vor für Historiker/innen von Interesse. Ebenso sind die komplexen Strategien auslegungsfähig, mit denen Bismarck Preußens faktische Vormachtstellung im Reich sicherte. Die Vorherrschaft Preußens über die Reichsangelegenheiten im Allgemeinen und die Unfähigkeit der Liberalen, das undemokratische Dreiklassenwahlrecht Preußens im Besonderen abzuschaffen, waren Faktoren, welche die Weiterentwicklung hin zu einer liberaleren Reichsverfassung verlangsamten oder gar aufhielten.
Dass die Verfassung von 1871 vielen Deutschen zusagte – in der Ära Bismarck und sogar noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs – kann nicht geleugnet werden.[9] Im Gegensatz zur Interpretation der „Bielefelder Schule“ der 1970er Jahre wurden durch die Gründung des Kaiserreichs und mittels seiner ersten Gesetzgebung in den 1870er Jahren tatsächlich viele Ziele der nationalistischen Bewegung aber auch zahlreiche Ideale der Liberalen erfüllt. So wurden die wirtschaftlichen Bestrebungen der bürgerlichen Wirtschaftselite sowie die liberalen Forderungen nach einem Verfassungsstaat mit Rechtsstaatlichkeitsprinzip größtenteils umgesetzt. Erzielt wurden diese vor allem gerade dadurch, dass das neue Reich kein wirkliches parlamentarisches Staatswesen begründet hatte (was auch keine der Parteien anstrebte).
Geschichtsforschende untersuchen weiterhin, inwieweit die Parlamentarier, ebenso wie das Parlament als Institution, existenziell von der sich im Umbruch befindlichen Öffentlichkeit und dem Aufstieg einer Massenpresse abhängig waren. So waren die Zeitungsredakteure im Vergleich zu heute bemerkenswert großzügig, was den Platz anging, den sie für wortwörtliche stenografische Berichte der Reichstagsdebatten bereithielten, die während der Sitzungsperiode täglich veröffentlicht wurden. Wie der Berliner Historiker Andreas Biefang schreibt, waren in der Bismarck-Ära „die Parlamentarier [gezwungen], sich ein öffentliches Image zuzulegen“. Seine Prominenz – im modernen Sinne – nutzte beispielsweise dem Vorsitzenden der oppositionellen Sozialdemokraten, August Bebel, ebenso sehr wie Bismarcks eigenem Prestige. Diese Entwicklung hatte aber auch unbeabsichtigte Folgen. Es „öffnete sich zugleich die Schere zwischen dem öffentlich Sagbaren und dem tatsächlich Machbaren“.[10] Die Parteien hatten niemals die Befugnis, tatsächlich eine Regierung zu bilden oder die Regierungsgeschäfte zu übernehmen: Der Kaiser allein ernannte seine Staatsminister und konnte den Reichstag auflösen und Neuwahlen einberufen, wann immer er wollte. Daher konnten Kandidaten und Abgeordnete den Wählern Versprechungen machen, ohne jemals die Möglichkeit (oder gar die Verantwortung) zu erhalten, diese einzuhalten. Diese Tatsache deutet auf ein weiteres Merkmal der Massenpolitik hin, die vor 1890 im Keim entstanden war: die „erschreckende Verwilderung der öffentlichen Stimmung“[11] durch radikale Antisemit/innen und andere Demagog/innen. Sie konnten sich die Propagandatechnik erlauben, die Hitler als die „große Lüge“ beschreiben sollte, und profitierten an den Wahlurnen davon, mit „alternativen Fakten“ um sich zu werfen.
(3) Wenngleich Bismarcks Außenpolitik und sein Bündnissystem nicht mehr viel neuen Gesprächsstoff hergeben, gibt es noch einiges über die Begegnungen Deutschlands mit dem Rest der Welt zu erforschen. Historiker/innen haben in letzter Zeit ihr Augenmerk darauf gerichtet, wie die Deutschen ihre globale Mission in der kurzen Zeit vor, während (1884–85) und nach der Beanspruchung neuer Kolonien verstanden. Sie kamen zu dem Schluss, dass das nationale Sendungsbewusstsein der Deutschen schon lange vor 1871 rassistisch und kolonialistisch geprägt war, was auch nach dem Verlust der deutschen Kolonien im Jahr 1919 anhielt. Die Globalisierung – von der oft gesagt wird, sie habe um 1880 begonnen – prägte die nationale Identität der Deutschen schon früh. Man denke an die ethnografischen Darstellungen fremder Völker, die sog. „Völkerschauen“, der 1870er und 1880er Jahre, die durch transnationale Netzwerke und Transfers ermöglicht wurden. Zu einer Zeit, als Kolonialgüter – z.B. exotische Lebensmittel und Abenteuergeschichten – gerade erst Deutschland erreichten, erwiesen sich diese Ausstellungen von immenser Popularität.
(4) Aus dem dritten folgt ein vierter und letzter Punkt. Die Befürworter/innen der Sonderweg-These hatten nicht unrecht damit, auf das „Freund-Feind“-Modell politischer Konflikte im Bismarckschen Deutschland hinzuweisen. Die Verbindung, die Forschende vom Deutschen Kaiserreich zum Dritten Reich sahen, war zwar zu geradlinig, suggerierte jedoch plausible Parallelen zwischen Bismarcks politischen Kampagnen gegen „Reichsfeinde“ und späteren Angriffen auf kommunistische „Kriminelle“ und rassische „Außenseiter“ in den 1930er Jahren. Zu Bismarcks politischen Feinden gehörten Anhänger des Katholizismus, der Sozialdemokratie, polnische und jüdische Menschen sowie andere ethnische Minderheiten: Sie alle wurden Opfer von Diskriminierung, Repressionen und Schlimmerem. Wissenschaftliche Studien darüber, wer vor 1890 „dazu“ gehörte und wer nicht, machen sich weiterhin bezahlt. Die Gefahr einer Teleologie von Bismarck bis hin zu Hitler droht zwar immer noch, aber wie zwei der heftigsten Kritiker der Sonderweg-These einst schrieben: „[D]ie Frage nach Kontinuität ist nicht ob, sondern welcher Art.“[12]
* * * * *
Wenn man diese acht Fragen gemeinsam betrachtet, gewähren sie Einblick in das Deutschland Bismarcks, das unter der spiegelglatten Oberfläche lauerte. Was wir dort finden, ist ein von Widersprüchen, Konflikten und Krisen durchsetztes Bild. Die Widersprüchlichkeiten resultierten aus Versuchen, die zur Zeit der Einigung eingeführten internationalen und verfassungsrechtlichen Regelungen zu verteidigen. Als die Auswirkungen des schnellen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Wandels eine Eigendynamik entwickelten, waren Konflikte unvermeidlich. Die jüngere Generation der Deutschen suchte zudem nach neuen Herausforderungen, um den Heldentaten ihrer Väter nachzueifern. Krisen traten immer dann auf, wenn Bismarck seine Befugnisgewalt in Gefahr sah.
Wie ist die historische Bedeutung all dieser Umwälzungen zu bewerten? Eine vorläufige Hypothese, die das Lesepublikum dieses Bandes mit den angegebenen Quellen abgleichen sollte, lautet, dass die hochdynamische Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur des Kaiserreichs in ein autoritäres Staatswesen eingebettet waren. Letzteres war zudem nicht starr, sondern ebenso dynamisch. Dennoch neigten viele bürgerliche Befürworter/innen des politischen Systems dazu, Stabilität, Ruhm und Ehre höher zu schätzen als die Prinzipien von Gleichheit, sozialer Inklusion und Gerechtigkeit. Trotz des Anstiegs bürgerlicher Verhaltenskodizes, und selbst während der raschen Ausbreitung des industriellen Kapitalismus, wurden Außenseitergruppen verfolgt. Wissenschaftliche und technologische Errungenschaften wurden im Interesse der militärischen Feuerkraft, der kolonialen Expansion und der Dominanz der Weltmärkte ausgenutzt. Die Forderungen von Frauen nach Gleichberechtigung waren noch nicht auf die Resonanz gestoßen, die sie nach 1900 finden sollten. Und eine Führungsfigur – Bismarck – herrschte dabei über seine Ministerkollegen, Parteivorsitzende und das gesamte Staatssystem.
Wenn wir Gefahr laufen, durch diese Vorzeichen einer katastrophalen Zukunft die Geschichte rückwärts lesen zu wollen, so sollten wir einen Moment innehalten und uns der Ansichten der deutschen Zeitgenoss/innen besinnen, die nicht wissen konnten, wie die Geschichte ausgehen würde. Deutsche, die sich auf der „richtigen“ Seite der Klassen-, Religions- und Geschlechtergrenzen befanden, neigten dazu, das Leben in den 1870er und 1880er Jahren als stabil und vorhersehbar zu betrachten. Ihre Äußerungen über die Stimmung der Zeit sind oft selbstzufrieden, und deutet man offizielles Bildmaterial von damals, sticht eine ausgesprochene Laissez-faire-Haltung ins Auge. Für andere Deutsche jedoch war das Leben brutal, streng reglementiert und offensichtlich ungerecht. Auch sie nahmen den Puls der Zeit wahr – z. B. in Briefen, Autobiografien und Kneipengesprächen. Wie unterscheiden wir zwischen privilegierten und nicht privilegierten Gruppen, und wo situieren wir Deutsche, die nicht eindeutig in die eine oder andere Schublade passten? Die Dokumente und das Bildmaterial in diesem Band sollen der Leserschaft dabei helfen, die objektive Platzierung der Deutschen innerhalb der Rangordnung gemäß ihrem wirtschaftlichen Wohlstand, sozialen Status und ihrer politischen Macht mit ihren subjektiven Reaktionen auf den Auf- und Abstieg entlang dieser gesellschaftlichen Leitern zu vergleichen.
Die Bilanz dieser Einführung spiegelt sich in den Themen und Fragestellungen der sieben Abschnitte wider, die dieser Band umfasst. Diese sind wie folgt geordnet:
1. Demografische und wirtschaftliche Entwicklung
2.
Gesellschaft
3. Kultur
4. Religion, Antisemitismus,
Bildung, Sozialwesen
5. Politik I: Reichsgründung
6.
Militär, internationale Beziehungen, Kolonialismus
7. Politik
II: Parteien und politische Mobilisierung
Die Unterteilung der folgenden Erörterungen in einzelne Abschnitte soll die Leserschaft nicht daran hindern, diese Einführung als kohärente Erzählung zu verstehen, die die Geschichte der frühen Entwicklung Deutschlands als neu geeintem Nationalstaat darstellt. Wir hoffen, dass Lesende die Ära Bismarck als eine Übergangszeit und als eine Epoche verstehen, die es wert ist, erforscht zu werden.
1. Demografische und wirtschaftliche Entwicklung
Was sollte ich wissen? Das Deutsche Kaiserreich befand sich in der nördlichen, äußerst flachen Region Europas, zwischen Frankreich und Russland. Was die Fläche angeht, so war es etwas größer als das heutige Spanien und etwas kleiner als Texas (siehe Landkarten in diesem Band). Im Jahr 1871 hatte das Reich eine Bevölkerung von etwa 41 Millionen. Bis 1910 war diese Zahl auf fast 65 Millionen gestiegen (im Vergleich zu 82 Millionen Einwohnern im heutigen Deutschland).[13] Die Verstädterung war eines der auffälligsten Merkmale des demografischen Wandels. Von 1871 bis 1910 sank der Anteil der auf dem Land lebenden Deutschen von rund 64 Prozent auf nunmehr 40 Prozent. Im Gegenzug stieg der Anteil der Menschen in Großstädten von knapp 9 Prozent auf fast 27 Prozent. Die Expansion der Industrie wurde durch den Bau von Eisenbahnen (insbesondere in den ersten Jahren), den Kohlebergbau, die Hütten- und Stahlindustrie, den Schwer- und Werkzeugmaschinenbau sowie, etwas später, durch die Herstellung synthetischer Farbstoffe angetrieben. Auch Dienstleistungsbranchen, wie Handel und Bankwesen, wuchsen rasant. Um 1900 hatte Deutschland Großbritannien dadurch als größte Volkswirtschaft Europas abgelöst und stand weltweit nur an zweiter Stelle hinter den Vereinigten Staaten.
Obwohl wirtschaftliche Chancen in der Ära Bismarck insgesamt zunahmen und moderne Technologien sowohl am Arbeitsplatz als auch im Privatleben immer weiter verbreitet waren, brachten diese Veränderungen oft unerwünschte Folgen mit sich. Zu diesen gehörten die notgedrungene Landflucht in unbekannte Städte, unsichere Arbeitsplätze, da die Konjunktur verschiedene Berufsbranchen unterschiedlich begünstigte, steigende Lebenshaltungskosten und der Verlust traditioneller Bezugsgrößen, die auf der eigenen, lokalen kleinen Gemeinschaft und überschaubaren Größenverhältnissen gründeten.
1 repräsentatives Dokument (Dok. 1.2.12). Die Bauindustrie war nur einer der Wirtschaftszweige, in denen Handwerker durch zunehmende Serienproduktion, die Mechanisierung und das Wachstum spezialisierter Zuliefererbranchen teilweise verdrängt wurden. Sie hatten zuvor den gesamten Produktionsprozess überwacht oder zumindest daran mitgearbeitet.
1 interessantes Bild (Abb. 1.2.9). Der Maler Max Liebermann malte eine verständnisvolle Ansicht einer Schusterwerkstatt zwischen 1881 und 1882. Zu dieser Zeit zwang die Industrialisierung bereits viele kleine handwerkliche Betriebe zur Geschäftsaufgabe.
1.1. Bevölkerungswachstum, Migration, Berufsstruktur
Die Migration in die Städte hatte natürlich bereits vor der Ära Bismarck begonnen, doch sie sorgte insbesondere in den 1870er und 1880er Jahren für das Entstehen von Metropolen. Diese Bevölkerungsverschiebungen führten in Städten in ganz Deutschland zu sehr ungleichen Wachstumsraten. Dieses Ungleichgewicht wäre noch deutlicher ausgeprägt gewesen, hätte ab 1880 nicht zudem eine große Auswanderungswelle nach Amerika und in andere Länder begonnen. Während sich das Problem der Massenarmut der 1840er Jahre zur „sozialen Frage“ der 1860er weiterentwickelte, führte die Überbevölkerung von Großstädten wie Berlin zum Phänomen der verwahrlosten „Mietskasernen“, welche die Schattenseite der Bewegungsfreiheit symbolisierten.
Historiker/innen hatten ehemals behauptet, dass der Großteil der Ära Bismarck mit einer Großen Depression (1873–96) zu kämpfen hatte. Dieser Irrglaube wurde jedoch zwischenzeitlich entlarvt. Die 1870er und 1880er Jahre umfassten kürzere Phasen der Hochkonjunktur sowie Konjunkturtiefs, sodass manche Historiker/innen den Begriff „Gründerkrise“ bevorzugen. Die deutsche Wirtschaft insgesamt expandierte weiter, jedoch war diese langfristige Expansion für viele Deutsche kaum spürbar. Selbst ein kurzfristiger Abschwung in bestimmten Berufszweigen oder lokaler Arbeitgeber konnte verheerende Folgen für Familien haben, insbesondere wenn dieser mit der Erkrankung oder gar dem Versterben des Hauptverdieners einherging oder mit Einkommenseinbußen aufgrund vorübergehender Arbeitslosigkeit oder Streiks.
Während der Gründerzeit von 1871 bis 1873 gab es einen beachtlichen wirtschaftlichen Aufschwung, der durch die Reparationen getrieben wurde, die Frankreich nach dem Deutsch-Französischen Krieg in Milliardenhöhe entrichten musste. Nach dem Gründerkrach 1873 waren viele Deutsche durch das ausgeprägte Konjunkturtief davon überzeugt, dass der Kapitalismus nicht funktioniere. Im Gegensatz zu früheren und späteren Epochen, empfanden die Deutschen in den 1870er und 1880er Jahren, dass sie eine sozioökonomische Krise durchlebten (siehe Abb. 4.5.35). Dieses Gefühl trug zu wachsender Unzufriedenheit mit dem Status quo in der zweiten Hälfte der Amtszeit Bismarcks bei. Zudem schürte es politische Angriffe auf den Liberalismus und die jüdische Bevölkerung.
1.2. Landwirtschaft, Industrie, Handel
Nach Mitte der 1870er Jahre erlebte die deutsche Landwirtschaft verstärkte Konkurrenz seitens ausländischer Erzeuger. Getreide aus Australien und Russland, oder von den US-amerikanischen oder kanadischen Prärien, konnte nun zu Preisen auf deutschen Märkten angeboten werden, die Großgrundbesitzer in Ostpreußen zu Schulden oder an den Rand des Bankrotts trieben. Doch trugen technologische Innovationen auf dem Land, wie die Einführung dampfbetriebener Dreschmaschinen, gleichzeitig zu Produktivitätssteigerungen in der deutschen Landwirtschaft insgesamt bei. Die Wachstumsraten im Bergbau, in der Industrie und im Handel übertrafen die der deutschen Landwirtschaft, insbesondere nach Mitte der 1870er-Jahre. Die Geschwindigkeit, mit welcher Deutschland den Übergang von einem Agrar- hin zu einem Industriestaat schaffte, sollte aber nicht übertrieben dargestellt werden (der Wendepunkt wurde um 1900 erreicht). Es ergibt mehr Sinn, von einem allmählichen Wandel ausgehend von einem Agrarstaat mit stark ausgeprägter Industriebranche vor der Jahrhundertwende, hin zu einem Industriestaat mit robustem Agrarsektor nach 1900 zu sprechen.
Im ersten Jahrzehnt, das in diesem Band behandelt wird, war der Antrieb der deutschen Industrialisierung noch immer der Eisenbahnbau und der in großem Maßstab betriebene Bergbau sowie das Eisenwalzen und andere Zuliefererindustriezweige. Kleinere Betriebe und Werkstätten waren trotzdem noch nicht komplett verschwunden, obwohl die Gewerbeordnung und die damit einhergehende Gewerbefreiheit der 1860er Jahre in den meisten deutschen Staaten den Zunftzwang aufgehoben hatte. Die riesigen Fabriken, die wir mit der Ära des Hochkapitalismus verbinden, waren in den 1870er Jahren noch selten. Im Jahr 1882 beschäftigte mehr als die Hälfte aller Schwerindustriebetriebe nur bis zu fünf Arbeiter. Die Textilindustrie war immer noch sehr bedeutend und dabei deutlich von Frauen in Heimarbeit abhängig. In den 1880er Jahren zeigte sich die Industrie durch neue technologische Innovationen jedoch in einem anderen Gewand: Präzisionsmaschinen, Stahl, Werkzeugbau und – etwas später – die petrochemische und Elektroindustrie führten die deutsche Wirtschaft auf neue Wege. Weitere Veränderungen wurden durch die Einführung von Gasmotoren, Fortschritte in der Bautechnik, den Übergang von Pferdefuhr- zu Elektrofahrwerken und den verstärkten Einsatz von elektrischem Licht, Telefonen und Automobilen Ende des 19. Jahrhunderts bewirkt.
Diese Fortschritte beim Transport und der Ausbau der urbanen Infrastruktur trugen zu einem bemerkenswerten Städtewachstum bei: Die Arbeiter konnten weiter von den Stadtzentren entfernt leben und mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu ihren Arbeitsplätzen und zurück nach Hause gelangen. Das städtische Wachstum wiederum schürte eine erkennbare Konsumkultur, welche die Welten von Industrie, Handel und Alltag enger miteinander verknüpfte. Ende der 1880er Jahre posaunten Werbetreibende die Vorzüge moderner Annehmlichkeiten, Dichter/innen schrieben Loblieder auf den technischen Fortschritt, und Wissenschaftler/innen, Erfinder/innen und Forschende verkündeten, dass dieses neue Zeitalter der Entdeckungen durch deutsches Know-how eingeläutet worden war.
2. Gesellschaft
Was sollte ich wissen? Durch die vielfältigen regionalen Unterschiede innerhalb Deutschlands können die sozialen Bedingungen oder Klassenbeziehungen im Kaiserreich nur schwer verallgemeinert werden. Die preußische Bevölkerung machte zwar etwa zwei Drittel der Deutschen aus, die preußische Gesellschaft selbst war jedoch intern von großen Unterschieden geprägt. Nirgendwo im Kaiserreich waren Stadt- und Landleben streng voneinander getrennt. Die Migration von Menschen und der Gütertransfer zwischen städtischen und ländlichen Volkswirtschaften spiegeln eine Gesellschaft im Wandel wider. Mit der allmählichen Weiterentwicklung der Ständegesellschaft hin zu erkennbar modernen Gesellschaftsklassen wurden auch die Strategien des sozialen Aufstiegs von einer Generation zur nächsten ausgefeilter. Und während der Industriekapitalismus an Fahrt aufnahm, hatten die Arbeiterklassen mit neuen Formen von Armut und Ausbeutung zu kämpfen. Dasselbe galt auch für Frauen, die in einem Zeitalter offensichtlicher Geschlechterungleichheit die doppelte Last von Arbeit und Familie tragen mussten. Sozialreformer/innen, Romanautor/innen und rege öffentliche Debatten sorgten dafür, dass diese Veränderungen nicht länger ignoriert werden konnten.
Schriftsteller/innen kritisierten die bürgerliche Dominanz im sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich häufig. Angesichts der unterschiedlichen Lebensstile und Chancen der oberen Mittelschicht, zu denen gebildete Eliten (z. B. Beamte, Professoren und Fachleute), Wirtschafts- (z. B. führende Industrielle, wie die Familie Krupp) oder Handelseliten (z. B. der jüdische Bankier Gerson Bleicheröder) gehörten, war eine gemeinsame Sichtweise kaum möglich. Eine weitere Gruppe, die außenstehende Zeitgenoss/innen, sowie die Klasse selbst, verblüffte, war der Mittelstand („petite bourgeoisie“ auf Französisch oder „lower middle class“ auf Englisch).[14] Zu diesem Stand gehörten Kleinunternehmer, Ladenbesitzer, Handwerker und unabhängige Landwirte. In den 1870er und 1880er Jahren wurde der deutsche Mittelstand durch die eingeführte Gewerbefreiheit sowie Faktoren wie Bewegungsfreiheit, Globalisierung und die zunehmende Fabrikfertigung auf den Prüfstand gestellt. Für ihn waren die Angst, „Großunternehmen“ zum Opfer zu fallen, und die Aussicht auf eine „Proletarisierung“ eng miteinander verknüpft, was mitunter zu einer Politik des Ressentiments führte (siehe Abschnitt 4.5 unten).
1 repräsentatives Dokument (Dok. 2.2.11). Das Bewusstsein ob der Klassenunterschiede bestimmte nicht nur die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten, sondern betonte auch feine Abstufungen innerhalb des Standes. In Regionen, in denen die Industrialisierung schnell zunahm – wie in Remscheid, in der Nähe des Zusammenflusses von Rhein und Ruhr – bestand die gesellschaftliche Oberschicht zumeist aus Kaufleuten und Industriellen, deren Status hauptsächlich von ihrem Einkommen rührte.
1 skurriles Dokument (Dok. 2.4.53). Nach 1878 setzten politische Repressionen und Vergeltungsmaßnahmen von Arbeitgebern Mitglieder der deutschen Arbeiterbewegung enorm unter Druck, sodass sie ihre Aktivitäten geheim halten mussten – sogar vor ihren Ehegattinnen. In dieser Passage beschreibt eine Frau ihre Besorgnis über die Aktivität ihres Ehemanns in der Arbeiterbewegung und zeigt damit den Preis, den eine solche Unterdrückung und Geheimhaltung die Menschen kostete.
2.1. Stadt und Land
Wie die „deutsche Landwirtschaft“, so ist auch das „ländliche Deutschland“ eine Abstraktion mit eingeschränkter Aussagekraft. Die Lebensweise eines Gutsbesitzers oder eines Tagelöhners auf einem der riesigen getreideanbauenden Gutshöfe in Ostpreußen hatte wenig gemein mit der eines armen Viehzüchters oder Winzers, der sich auf einer winzigen Parzelle im südwestlichen Bundesstaat Baden nur mühsam durchzuschlagen versuchte. Diese Gruppen profitierten in unterschiedlichem Maße und auf unterschiedliche Weise von der Rationalisierung der deutschen Landwirtschaft, darunter die Einführung neuer landwirtschaftlicher Methoden, des Kunstdüngers und der Mechanisierung. Daher sollte die zunehmende Vielfalt, nicht die Gleichförmigkeit, der ländlichen Gesellschaft betont werden. Durch eben jene Vielfalt lässt sich erklären, weshalb Deutsche aus bestimmten Regionen mit den Füßen abstimmten, ihr unbefriedigendes Leben auf dem Land hinter sich ließen und in die Großstädte zogen. Sie bestimmte zudem lokale Einschläge persönlicher Berichte, die während und nach der Landflucht niedergeschrieben wurden. Diese Betrachtungen werden durch Statistiken bestärkt, die sich auf eine zunehmende Zahl sozialwissenschaftlicher Studien zum ländlichen und städtischen Leben beziehen. Die Urbanisierung eines ehemals winzigen Dorfes bei Lübeck beispielsweise veranschaulicht die desorientierende Wirkung, die Mobilität, Maschinen und Märkte auf das ländliche Deutschland hatten. (Siehe Dok. 2.1.2).
2.2. Klassenbeziehungen und Lebensweisen
Ein Ansatz, mit welchem die Auswirkungen der gegenseitigen Durchdringung von Stadt und Land besser verstanden werden können, untersucht die neuen Methoden, mit denen Zeit und Raum gemessen wurden. In den ländlichen Gebieten bestimmte größtenteils noch immer der Rhythmus von Sonne und Jahreszeiten die Arbeits- und gesellschaftlichen Tätigkeiten. Doch Bauern und Gaststättenbesitzer mussten die Zugfahrpläne und Schichteinteilungen kennen, wenn sie Kund/innen bedienen wollten, die jenseits des dörflichen Horizonts lebten.[15] Hochzeitsbräuche und Bestattungsriten auf dem Lande schienen noch immer nach einer althergebrachten Uhr stattzufinden. Diese Uhr tickte jedoch für junge Stadtbewohner/innen, die in ein Tanzlokal oder eine internationale Kunstausstellung eilten, zu langsam. Die einfachen Mahlzeiten und spartanischen Innenräume ländlicher Behausungen schienen Welten entfernt von den vollen Speisekammern und prächtigen Innenausstattungen bürgerlicher Haushalte in den Städten. Letztere waren jedoch auch gezwungen, den Schein zu wahren, wozu es der Befolgung schnell veränderlicher und unklarer gesellschaftlicher Strategien bedarf. Zudem waren diese Strategien sowohl auf dem Lande als auch in den Städten äußerlichen Einwirkungen unterworfen. Zu solchen Kräften zählten: der Staat in seinen lokalen, regionalen und bundesweiten Ausformungen; Rechtsanwälte, Politiker und Sozialtheoretiker; sowie Unternehmer, Verbraucher/innen und andere, die in erster Linie an der Kommerzialisierung interessiert waren. Während Eltern hofften, dass ihre Kinder von ihrem eigenen Verzicht profitieren und erfolgreicher als sie selbst sein würden, und während Reichtum ein neuer Wert zugemessen wurde und die Grenzen zwischen den Ständen allmählich verschwommen, kristallisierte sich eine neue Klassengesellschaft heraus.
Satirezeitschriften machten sich über die neuen Prätentionen lustig, die deutlicher wurden je weiter die Schere der Klassenunterschiede auseinanderklaffte. So betonten sie beispielsweise, dass Behauptungen, „das Volk“ zu vertreten, häufig ausgerechnet von Mitgliedern der schmalen, privilegiertesten Oberschicht vorgebracht wurden. Die Jagd auf Orden und Titel beseelte weiterhin Bürger/innen, die erpicht darauf waren, mit Höflingen und den Reichsten zu verkehren. Und erfolgreiche Industrielle wie Alfred Krupp und Carl von Stumm taten ihr Möglichstes, um die Status- und Autoritätshierarchie auch im Arbeitsgefüge innerhalb von Unternehmen abzubilden. Bankiers, Rechtsanwälte, Professoren und andere Mitglieder des Besitz- und Bildungsbürgertums stimmten zusätzlich in das Geschrei nach sozialem Prestige ein. Diese neuerdings erwerbssüchtige Gesellschaft entsetzte Schriftsteller wie Theodor Fontane und Heinrich Mann in den 1890er Jahren. Beide äußerten sich über das Paradox, dass das allgegenwärtige Prestigestreben und das Verlangen, anderen immer eine Nasenlänge voraus sein zu wollen, in Wahrheit einen nivellierenden Effekt auf die gesamte Gesellschaft ausübten.
Weitere ausgleichende Einflüsse waren ein nahezu umfassender Alphabetisierungsgrad (ca. 95 Prozent im Jahr 1890), der Aufstieg einer durch Werbung finanzierten Massenpresse, der erleichterte Zugang der bürgerlichen Jugend zu höheren Schulen, Universitäten und technischen Hochschulen, die Allgegenwart der Konsumkultur und die allgemeine Zunahme des Anteils der Familieneinkünfte, der (nach Begleichung der Kosten für Lebensmittel, Bekleidung und Unterkunft) für beliebige Ausgaben verfügbar war. Für die Arbeiterklasse stieg dieser Anteil von etwa 40 Prozent der Familieneinkünfte in den 1870er Jahren auf 55 Prozent in den 1890er Jahren. Bildung galt mit der Zeit als die bedeutendste Chance des sozialen Aufstiegs von einer Generation zur nächsten. Über einen längeren Zeitraum hinweg – und mit großen regionalen Unterschieden – lockerten sich die gesellschaftlichen und institutionellen Einschränkungen, die das Leben für die meisten Deutschen vor 1866 hart, beschwerlich und kurz gemacht hatten; manche verschwanden sogar vollständig. Das Niveau der geografischen und sozialen Mobilität der 1870er Jahre signalisierte, dass es für diese dynamische Gesellschaft, die den Revolutionären von 1848/49 noch in weiter Ferne erschienen war, kein Zurück mehr gab.
2.3. Arbeitsbedingungen
In den 1870er und 1880er Jahren änderten sich die kapitalistischen Produktionsverfahren drastisch. Einerseits hatten Handwerker und andere Angehörige des Mittelstands Mühe, wenigstens die Überbleibsel des „goldenen Zeitalters“ zu wahren, das ihrer Ansicht nach – jedoch fälschlicherweise – ihre Arbeitsbedingungen und Lebensweise vor der Reichseinigung beschrieb. Andererseits erzeugten das Fortschreiten der Industrialisierung und die Ausbreitung der Geschäfts- und Konsumkultur neue Möglichkeiten für soziale Gruppen wie beispielsweise Verkäufer/innen. Die Berichte von Flachsbauern in der Lüneburger Heide, ähnlich wie jene, die die Hierarchie der Arbeiterschaft in einer Stahlfabrik in Hamburg beschreiben, lassen darauf schließen, dass selbst innerhalb scheinbar starrer Berufszweige eine komplexe Aufgabenverteilung gemäß der sozialen Rangordnung am Arbeitsplatz erkennbar war. Sozialwissenschaftler/innen hat eine solche Abstufung oftmals verblüfft. Sie versuchten herauszufinden, weshalb die Ausgaben und Lebensweise der deutschen Arbeiterklasse und des Kleinbürgertums so stark variierten – und dies trotz des allgemeinen Drucks, die Familie mit lebenswichtigen Gütern zu versorgen und gleichzeitig einen Notgroschen als Absicherung bei Verletzung, Arbeitslosigkeit, Altersgebrechlichkeit oder anderen Lebensrisiken beiseitezulegen. Ihre Studien lieferten oft mehrdeutige Antworten oder erhielten den Mythos der ungesunden und „unvernünftigen“ Lebensweise der Arbeiterschaft aufrecht. Geschichtsforschende sind dennoch den Umfrageforscher/innen und Fotograf/innen dankbar, die über die Türschwellen so vieler Haushalte getreten waren: Ihre Arbeit bietet einen Einblick in das häusliche Leben der Deutschen, die sonst kein Zeugnis ihrer Alltagsbeschäftigungen hinterließen.
2.4. Geschlechterbeziehungen
Nach vielversprechenden Anfängen 1848/49 und Mitte der 1860er Jahre machten sowohl die Frauenbewegungen aus dem Bürgertum als auch der Arbeiterklasse in den 1870er und 1880er Jahren relativ wenig Fortschritt. Frauen blieben Bürgerinnen zweiter Klasse, deren Rechte innerhalb und außerhalb der Ehe stark eingeschränkt waren und die noch nicht an nationalen Wahlen teilnehmen durften. Doch die Bismarckzeit war alles andere als frei von Kommentaren zu Geschlechterbeziehungen. Nicht nur Literaturwissenschaftler/innen, Kunstschaffende und Fotograf/innen, sondern auch politisch engagierte Menschen und Sozialwissenschaftler/innen, deren Interessenschwerpunkte weit voneinander entfernt lagen, beschäftigten sich mit der „Frauenfrage“. Solche Studien dokumentierten die sexuelle Ausbeutung von Frauen am Arbeitsplatz, die soziale Herkunft der Eltern unehelicher oder vaterloser Kinder sowie die staatliche Überwachung von Prostituierten. Hinzu kamen zahlreiche Einschränkungen, die Frauen auferlegt wurden: die Fähigkeit, ihr Eigentum innerhalb der Ehe zu schützen, sich innerhalb oder außerhalb der Familie weitere Rechte vor dem Gesetz zu sichern oder am Vereinsleben und an der Politik teilzunehmen.
Geschlechterspezifische Rollenzuschreibungen kennzeichneten nahezu jeden Arbeitsplatz, von der Straßenreinigung in München über Hausangestelltendienste in Berlin bis zur Fabrikarbeit im Ruhrgebiet. Die Kampagne zur Verbesserung der Bildungschancen für Frauen nahm nach und nach an Fahrt auf und es entstanden Handels- und Berufsschulen für Frauen, während Interessenverbände sich bemühten, konservative Auffassungen darüber, welche Berufe für Frauen „geeignet“ waren, zu überwinden. Allen voran sei hier Hedwig Dohm genannt, die überzeugende und schlagkräftige Argumente für mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen vorbrachte, aber auch für das Frauenwahlrecht. Zu einer Zeit, als die Sozialdemokratische Partei unter staatlicher Repression litt, schrieben auch Clara Zetkin und August Bebel bahnbrechende und nicht weniger leidenschaftliche Kritiken an der bestehenden Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Diese Schriften und Ideen wurden in bürgerlichen Lesekreisen und Diskussionsgruppen aufgegriffen. Viele Errungenschaften lagen zwar noch in weiter Ferne und es gab bereits Gegenreaktion zur Emanzipation der Frauen. Zeitgenoss/innen hatten jedoch von der frisch ins Leben gerufenen Frauenbewegung Notiz genommen, und das allein war schon ein Erfolg.
3. Kultur
Was sollte ich wissen? Während der Ära Bismarck wandten sich Künstler/innen in Deutschland – um grob zu verallgemeinern – von der Romantik ab, schwelgten im Realismus, liebäugelten mit dem Impressionismus, griffen dem Expressionismus aber noch nicht vor. Das große Zeitalter der künstlerischen „Abspaltung“ begann nach 1890, als Rebellionen gegen orthodoxe Kunststile oder Kultureinrichtungen einen dialektischen Austausch von Kunstgattungen und Geschmäckern hervorbrachten. So mancher Durchbruch in der Kunst nach 1890 war jedoch früher gelegten Grundlagen geschuldet.
In den 1870er Jahren dominierten patriotische Szenen und Porträts die deutsche Malerei. Siegessäulen und andere Denkmäler wurden zuhauf errichtet; gleichzeitig wurde dem Genie Johannes Brahms‘ seine verdiente Anerkennung verwehrt. Doch die Kultur im Kaiserreich war keineswegs einheitlich, da Deutschland nicht mit nur einem, sondern mit zahlreichen künstlerischen Schaffenszentren aufwarten konnte. Dresden und München führten die Szene an, doch auch Berlin machte sich allmählich einen Namen als Kulturzentrum. Obgleich das Fehlen eines einzelnen künstlerischen Mittelpunkts, vergleichbar mit Paris oder London, die Entstehung eines in sich geschlossenen deutschen Stils behinderte, so sorgte dieser Umstand doch für eine Vielfalt, die den persönlichen Eigenarten der Künstler/innen Platz bot. Bereits in den 1860er Jahren wurde Bismarck in den beliebten Satirezeitschriften Deutschlands von Kunstschaffenden verhöhnt. Gleichzeitig trug die Massenpresse dazu bei, dass die Unterscheidung zwischen Hoch- und Populärkultur zunehmend verschwand. Spätestens in den 1880er Jahren hatte sich eine Gegenbewegung zu orthodoxen Stilrichtungen und der bürgerlichen Selbstgefälligkeit herausgebildet, die von Kunstgrößen wie dem Maler Adolph Menzel, dem Philosophen Friedrich Nietzsche und dem Dramatiker Gerhart Hauptmann angeführt wurde.
1 repräsentatives Bild (Abb. 3.1.18). Wenngleich Adolph Menzels Gemälde Eisenwalzwerk (1872) einen lebensechten Eindruck von Rauch, Schweiß, Hitze und harter Knochenarbeit vermittelt, entstand es doch zunächst in Menzels Fantasie: Der Maler wollte damit das Genre des historischen Realismus weiterdenken, aber auch seine eigene Neugier dafür befriedigen, wie das neue Deutschland mit seiner Fertigungsindustrie und seiner komplexen Industriestruktur abgebildet werden könne. Außerdem wollte er den hohen Preis darstellen, den die Menschen für all das zahlen mussten.
1 skurriles Bild (Abb. 3.1.28). Arnold Böcklins Werk Im Spiel der Wellen (1883) wurde vom Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt (dem Bruder von Böcklins Berliner Kunsthändler Fritz Gurlitt) als „eine der größten Leistungen unseres Jahrhunderts“ bezeichnet. Die Kritik war weniger überzeugt. Böcklins Gemälde wurde von der Sittlichkeitsbewegung angeprangert, da er Fabelwesen mit lüsternen Absichten porträtierte.
3.1. Kunstbewegungen und Individualismus
Als die Nazis auf fünfzehn Jahre Weimarer Kultur (1918–33) zurückschauten, war ihr Urteil verächtlich: „eine Einöde“. Hermann Muthesius, ein früher Pionier der deutschen Moderne in der Architektur, nannte das 19. Jahrhundert einmal ähnlich das „unkünstlerische Jahrhundert“. Es mag zutreffen, dass der deutsche Realismus zu Bismarcks Zeit sich eher am traditionsgebundenen Biedermeier orientierte, anstatt rebellischere Formen anzunehmen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit – oder sogar weniger als die halbe Wahrheit.
Deutschlands Bundesstaaten und Gemeinden legten ihre eigene Kulturpolitik fest, um den „Publikumsgeschmack“ auszudrücken und zu wahren. Diese politischen Maßnahmen wurden nach 1890 noch bedeutender, als Sex-, Kriminal- und Abenteuergeschichten eine einflussreiche Sittlichkeitsbewegung auf den Plan riefen. Noch vor 1890 kam die Öffentlichkeit jedoch mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Stilen in Kontakt, da einige Künstler/innen die Stadtluft hinter sich ließen und stattdessen den lockereren Stil der Freilicht- oder „Pleinair“-Landschaftsmalerei entwickelten. Andere wiederum folgten den Bauern in ihre winzigen Hütten auf dem Land und in rustikale Gasthäuser, um sie in ihrem Alltagsumfeld zu malen. (Siehe Abb. 3.1.19 für Wilhelm Leibls Bild, Bauern im Gespräch/ Die Dorfpolitiker.)
Die allmähliche Entstehung eines nationalen Kunstmarktes, der rasche Anstieg von Zeitschriften- und Zeitungsauflagen, die zunehmende Zahl illustrierter Bücher, Buchreihen und Leihbüchereien, neue Anstrengungen, Museen und Konzertsäle der bürgerlichen Öffentlichkeit zugänglicher zu machen und die Veranstaltung nationaler oder internationaler Kunstausstellungen übten schließlich eine homogenisierende Wirkung auf die deutsche Kultur aus. Es erwies sich trotzdem als unmöglich, erkennbar „nationale“ Normen dessen zu formulieren, geschweige denn anzuordnen, was gute deutsche Kunst ausmachte. Lange vor 1890 suchten deutsche Kunstschaffende bereits neue Wege, der tieferen kulturellen Bedeutung der politischen Einigung, des Industriekapitalismus und der Entfremdung von bürgerlichen Sittenvorstellungen Ausdruck zu verleihen. Diese Fragen wurden zwar in sämtlichen Kunstgattungen behandelt, waren jedoch in den Romanen des kaiserlichen Berlins am augenscheinlichsten.
Es wäre daher unzutreffend, zu behaupten, dass entweder Selbstzufriedenheit oder Konformismus das kreative Schaffen Einzelner geprägt habe – weder derer, die aus der Reihe tanzten, noch jener, die sich den „feierlichen“ Kern der offiziellen Hofkultur aneigneten. Künstler wie Fritz von Uhde und Hans Marées leisteten die Vorarbeit für die Sezessionsbewegungen, die in Dresden und München nach 1890 entstanden. Kulturelle Angstgefühle über die Beständigkeit grundlegender sozialer Werte fanden Ausdruck in der Presse, der Malerei und auf der Bühne, selbst als die siegreichen Truppen 1871 durch das Brandenburger Tor marschierten. (Diesem Moment entspricht vielleicht der berühmte Wangenkuss vom Oktober 1989, als Michail Gorbatschow und Erich Honecker den 40. Jahrestag der Gründung der DDR feierten, während die Legitimation des ostdeutschen Staates im Volk bereits bröckelte).
3.2. Musik, Lyrik und Prosa
Die Entstehung des Deutschen Kaiserreichs wurde durch ein monumentales Werk vorweggenommen: Johannes Brahms‘ Ein Deutsches Requiem (Opus 45), das 1868 vollendet wurde. Es nahm scheinbar die bevorstehenden großen nationalen Ereignisse vorweg, indem es die Zeilen aus Korinther I, 15 vertonte: „[…] Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden; und das plötzlich, in einem Augenblick, zu der Zeit der letzten Posaune. Denn es wird die Posaune erschallen, und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden.“ Anders als August Heinrich Hoffmann von Fallerslebens Gründerlieder, welche die Ambitionen der Spekulanten Anfang der 1870er-Jahre verspotteten, erzeugte Brahms‘ Requiem eine tiefere Resonanz und eine breitere Reflexion über die Einigungsleistung – mit Sicherheit tiefergehend als die Strophen der Wacht am Rhein, die deutsche Soldaten bei ihrem Marsch an die Front im Sommer 1870 anstimmten. Auch der letzten großen Oper Richard Wagners, Parsifal, lässt sich kaum mangelnde Resonanz nachsagen. Als Wagners Ringzyklus 1876 in Bayreuth uraufgeführt wurde, stellte er den Höhepunkt in der Suche des Komponisten nach einem „Gesamtkunstwerk“ dar, das erhaben und einzigartig genug war, um sowohl dem altertümlichen als auch dem modernen Deutschland gerecht zu werden. Danach sollte die deutsche Musik, ob zum Schaden oder zu ihrem Nutzen, nie mehr so sein wie zuvor.
Relativ wenige Lyriker/innen und Prosaschriftsteller/innen dieses Zeitalters machten sich jedoch in der deutschen Literatur einen bleibenden Namen. Die bedeutendste Ausnahme ist der Gigant des deutschen literarischen Realismus, Theodor Fontane. Sein Roman Der Stechlin fängt den Geist und Ton anderer literarischer Werke dieser Epoche ein. Er beschreibt mit trockenem Humor den Ablauf einer lokalen Wahlkampagne in der preußischen Provinz und vermittelt Fontanes typische Mischung aus Bewunderung für Preußens reiches Erbe und seine Sorge darüber, dass die deutsche Gesellschaft ihren moralischen Kompass verloren habe. Dieselbe Sorge findet sich auch in anderen Quellen, die zusammen betrachtet ein gegensätzliches Meinungsspektrum ergeben: festliche Oden und satirische Karikaturen, allegorische Wandgemälde und Brettspiele für Kinder, monumentale Baukunst und kitschige Festzüge. Der deutsche Kulturbetrieb dieser Jahre spiegelte sowohl den Stolz auf die nationale Leistung des Volkes als auch die Bedenken über zukünftige Konsequenzen wider. Die Eröffnung der Nationalgalerie in Berlin 1876 mag zwar nicht die erhoffte Chance geboten haben, in einem einzigen Tempel die Mannigfaltigkeit kultureller Ausdrucksformen unter Bismarck zu versammeln. Die erste Erwerbung der Galerie, Adolph Menzels Eisenwalzwerk, verdeutlicht allerdings die Torheit, das neue Deutschland als „unkünstlerisch“ abzustempeln.
4. Religion, Antisemitismus, Bildung, Sozialwesen
Was sollte ich wissen? Geschichtsforschende und Sozialwissenschaftler/innen neigten früher zu der Argumentation, dass Modernisierungstrends, wie Verstädterung und Industrialisierung, der Aufstieg einer selbstbewussten Arbeiterklasse und die Vergötterung von Wissenschaft und Technik religiöse Bindungen unweigerlich lösen würden. Ähnlich gingen Forschende davon aus, die Modernisierung habe den traditionellen Kirchturmhorizont überwunden, wodurch Religion von anderen strukturgebenden Kategorien, wie Klasse, Geschlecht und Ideologie abgelöst worden war. Zur Zeit des Kaiserreichs verlor die Religion jedoch ganz und gar nicht an Relevanz. Ganz im Gegenteil: Religion formte weiterhin die Anschauungen der Deutschen genauso, wie sie dies jahrhundertelang getan hatte. Gleichzeitig gab sie den Anstoß für bedeutende Neuorientierungen auf nationaler Ebene.
Als der Krieg 1866 österreichische Katholik/innen aus dem zukünftigen Deutschland ausschloss, wurde die aufstrebende Nation dadurch protestantischer. Im Jahr 1871 war die Bevölkerung des Reiches zu etwa 62 Prozent protestantisch und zu 36 Prozent katholisch. Die jüdische Bevölkerung machte nur 1,25 Prozent aus – ein schockierend kleiner Prozentsatz, wenn man die Ereignisse der 1930er und 1940er Jahre bedenkt. Hinter diesen Zahlen verbergen sich entscheidende regionale Unterschiede. Von den rund 512.000 Juden und Jüdinnen, die in ganz Deutschland lebten, nannten 326.000 Preußen und 36.000 Berlin ihr Zuhause. Während das prozentuale Verhältnis von Protestant/innen zu Katholik/innen im Königreich Preußen etwa dem des Deutschen Reiches insgesamt entsprach, variierte die Unterteilung in den vier nächstgrößten Ländern des Bundes stark. In Bayern lebten mit nur 28 Prozent relativ wenige Protestant/innen, in Sachsen dabei mit 98 Prozent jedoch sehr viele. In Württemberg machten Protestant/innen mehr als zwei Drittel der Bevölkerung aus, in Baden nur ein Drittel.
In den 1870er Jahren schürte die protestantische Abneigung gegenüber der ein Drittel starken katholischen Minderheit in Deutschland den Kulturkampf, der sich sowohl um Kultur als auch um Zivilisation drehte. Im selben Jahrzehnt behaupteten antisemitische Deutsche, dass Deutschlands kapitalistische Wirtschaft der jüdischen Bevölkerung zum Opfer gefallen sei, die von einigen auch als rassische Bedrohung für die Nation angesehen wurde. Trotzdem hatten die meisten jüdischen Deutschen im Jahr 1869 guten Grund zur Annahme, dass die Emanzipation der Juden Aussichten auf eine glänzende Zukunft hatte.
Die Entwicklung der öffentlichen Bildung und des öffentlichen Gesundheitswesens spiegelte eine Kombination aus konservativen und progressiven Einflüssen wider. An Universitäten und anderen Hochschulen herrschte eine Atmosphäre des Konservatismus, der am deutlichsten in der Personalpolitik zum Ausdruck kam. Gleichzeitig konnten deutsche Forschende auf Studien zurückgreifen und Labore nutzen, um ihre theoretische und empirische Forschung nach höchsten internationalen Standards durchführen zu können. Bismarcks Sozialversicherungswesen legte den Grundstein, um der arbeitenden Klasse ein gewisses Grundmaß an materieller Sicherheit zu gewähren. Die wichtigsten Gesetze waren die Einführung der Krankenversicherung (1883), der Unfallversicherung (1884) sowie der Invaliditäts- und Altersversicherung (1889). In jedem Fall war der Versicherungsschutz jedoch minimal und die Arbeiterschaft sah sich gleichzeitig durch Bismarcks Sozialistengesetz unterdrückt. Gleichzeitig spornte das Ziel, die Umwelt Deutschlands für künftige Generationen zu schützen, Bewegungen für den Denkmal- und Umweltschutz an, die ähnlichen Bewegungen in den 1970er Jahren vorgriffen.
1 repräsentatives Dokument (Dok. 4.2.19). Auf dem Höhepunkt der ersten Welle des deutschen Antisemitismus machte 1880–81 eine Petition die Runden, in der gesetzgeberische Maßnahmen gefordert wurden, um das scheinbare „Judenproblem“ zu lösen. Dass die Petition „nur“ 250.000 Unterschriften erhielt, galt als Rückschlag und als sie dem preußischen Parlament vorgelegt wurde, weigerte sich Bismarck schlicht, darauf zu reagieren.
1 skurriles Dokument (Dok. 4.5.46). In diesem Bericht aus München beschreibt ein britischer Diplomat namens Robert Morier einen Bankbetrug, der von Adèle Spitzeder, einer ledigen Frau mittleren Alters, verübt worden war. Morier erklärt, wie die Spekulationen nach der Einigung Deutschlands den Weg freimachten für Profitmacher großen und kleinen Kalibers. Er äußert sich erstaunt darüber, dass Spitzeder – „half Saint, half bacchante“ [„halb Heilige, halb Bacchantin“] – die Bayern mit ihren „hiccuping benedictions“ [„hicksenden Segenssprüchen“] überführen konnte.
4.1. Protestant/innen, Katholik/innen und die freireligiöse Bewegung
Der Kulturkampf zwischen dem deutschen Staat und der katholischen Kirche war der bedeutendste Religionskonflikt in Bismarcks Deutschland. Den Kulturkampf hatte Bismarck nicht aus dem Nichts heraufbeschworen; er nährte sich aus der Entschlossenheit der protestantischen Liberalen, den von ihnen als archaisch und gefährlich betrachteten Einfluss der römisch-katholischen Hierarchie im Allgemeinen und die Autorität des Papstes im Besonderen zu brechen. Da der Papst sowie katholische Priester und Parteiführer, welche die Rechte der katholischen Bevölkerung vertraten, von Bismarck und den Liberalen zu „Reichsfeinden“ erklärt wurden, werden diese in Kapitel 7 eingehend beleuchtet, in dem auch weitere staatliche Diskriminierungskampagnen gegen Minderheiten berücksichtigt werden. Doch dieser Konflikt war kultureller Art.
Religion half zudem, den Diskurs über die Rolle der Frau in der Gesellschaft, die richtigen Praktiken wohltätiger Arbeit, den Umfang der Sozialreform und die rechtmäßigen Grenzen der Zensur zu formen. Die quasi-säkulare freireligiöse Bewegung belegte die Einflussgewalt humanistischer Ideale der Aufklärung, obgleich sich diese Diskussionen nach Mitte des Jahrhunderts noch weiterentwickeln sollten.
4.2. Jüdisches Leben und die Zunahme des politischen Antisemitismus
Das Wichtigste, was man über das jüdische Leben im Kaiserreich wissen sollte, ist die Verabschiedung eines Gesetztes durch die Abgeordneten des Norddeutschen Bundes im Juli 1869, das Juden und Jüdinnen gleiche Staatsbürgerrechte einräumte. Dies war ein bedeutender Schritt im Kampf der jüdischen Bevölkerung um Emanzipation, der seit der Aufklärung im Gange war. Doch noch ehe Deutschland sich zu einem Reich zusammenschloss, waren die jüdische und katholische Bevölkerung Zielscheiben von Nationalist/innen, die besessen von der Idee waren, sie müssten einen religiös homogenen Nationalstaat schaffen und folglich verteidigen. Die 1870er Jahre waren nicht nur das Jahrzehnt, in welchem sich das Vereinsleben zugunsten protestantischer und katholischer Religionsziele rasch ausdehnte. Es war zudem die Zeit, in der antisemitische Deutsche im jüdischen Volk eine angebliche Bedrohung für die junge deutsche Nation sahen und deshalb zu Wort und Tat mobilisierten. Ein Anstoß für den explosionsartigen Anstieg des politischen Antisemitismus war die Auffassung, Juden hätten unverhältnismäßig von den Skandalen der Gründerzeit (1871–73) profitiert. Die antisemitische Propaganda stützte sich dabei auf jahrhundertealte Stereotypen und Unwahrheiten über Juden und Jüdinnen – zum Beispiel auf ihre angebliche Neigung zum Wucher sowie die Ritualmordlegende.[16] Doch ein weiterer Ursprung der Antipathie gegenüber jüdischen Deutschen war die Unsicherheit der restlichen Bevölkerung darüber, ob die Grenzen ihrer Nation ausreichend klar umrissen waren, um den Herausforderungen einer prekären geografischen Lage inmitten Europas und der globalen Reichweite kommerzieller und kultureller Netzwerke gewachsen zu sein. In diesem Kontext war es ängstlichen Nationalist/innen ein Leichtes zu behaupten, Deutschland könne nie wirklich geeint sein, ehe der jüdische „innere Feind“ besiegt worden war.
Im offensichtlichen Gegensatz zum radikalen Antisemitismus nach der Kriegsniederlage 1918 und der staatlich betriebenen Ermordung von sechs Millionen Juden und Jüdinnen nach 1933, mangelte es dem Antisemitismus in der Ära Bismarck an ausreichender Unterstützung, um umfassende Gewaltaktionen gegen jüdische Deutsche zu schüren. Ebenso wenig wurde dadurch die Zuversicht der jüdischen Bevölkerung gestört, Deutschland könne ihnen im Zuge der Modernisierung eine angenehme Heimat bieten. Dennoch trafen antisemitische Politiker/innen und Selbstdarsteller/innen eine schauerliche Wortwahl, um Juden und Jüdinnen auszugrenzen, sie wirtschaftlich und in der Presse zu marginalisieren, ihnen politische Staatsbürgerrechte abzusprechen und sie sogar von deutschem Boden zu verbannen.
4.3. Reform der öffentlichen Schulen und des Hochschulwesens
Die deutsche Bildung genoss weltweit hohes Ansehen dank ihres gehobenen Standards, des relativ breiten Zugangs und den herausragenden Beiträgen, die sie zur Wissenschaft leistete. Der beispiellose Anstieg der Zahl an Schulkindern in Volks- und höheren Schulen, sowie der Studierenden an deutschen Universitäten und Hochschulen, sowie der entsprechenden Bildungseinrichtungen selbst, war unübersehbar. Wie in so vielen anderen Bereichen des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens, brachte die Modernisierung der deutschen Wissenschaft dem neuen Kaiserreich enormes internationales Renommee. Bei der Bewertung dieser Erfolgsgeschichte darf nicht außer Acht gelassen werden, dass deutschen Mädchen und Frauen viele dieser Bildungswege weiterhin versperrt blieben. Religions- und Klassenunterschiede machten zudem die Behauptung zur Farce, die deutsche Bildung sei allgemein zugänglich oder beruhe rein auf intellektueller Leistung und Verdienst. Der Druck, Lernenden „staatstragende“ Werte beizubringen, nahm deutlich zu. Der von den Leipziger Mitgliedern des Vereins Deutscher Studenten Anfang der 1880er Jahre an den Tag gelegte Ultranationalismus entsprach im Kern der späteren Lobrede Kaiser Wilhelms II. auf die zentrale Rolle der Lehrpläne an Schulen im Kampf gegen die „revolutionäre Bedrohung“ durch die Sozialdemokratie. Die deutsche Jugend wurde als Quelle der nationalen Erneuerung angesehen zu einer Zeit, in der die Nation angeblich konfessionellen, klassen- und geschlechterspezifischen Bedrohungen ausgesetzt war.
4.4. Armenfürsorge, staatliches Gesundheitswesen, Sozialversicherung
Religiöse Frömmigkeit stellte die treibende Kraft für Wohltätigkeitsvereine dar, die das Leid der Armen zu lindern suchten. Da Sozialdemokrat/innen seit der Reichseinigung das Augenmerk auf die Notlage der schwächsten Gesellschaftsmitglieder gerichtet hatten, hatten die Deutschen ihre Bemühungen, die „soziale Frage“ zu lösen, ums Doppelte gesteigert. Als Kaiser Wilhelm I. per königlichem Dekret im November 1881 die Absicht der Regierung verkündete, ein umfassendes System staatlich gestützter Versicherungen bei Krankheit, Unfällen und zum Altersschutz einzuführen, ließen sich nur wenige Zeitgenoss/innen von diesem beeindruckenden Programm blenden: Es stellte das Zuckerbrot dar, wobei Bismarcks Peitsche bereits seit Anfang der 1870er Jahre auf die sozialdemokratische Bewegung niedergegangen war. Ärzte und Ärztinnen in der Armenhilfe und bürgerliche Sozialreformer/innen dokumentierten die Unterernährung und andere Notlagen, von denen Millionen von Familien der Arbeiterklasse betroffen waren. Journalist/innen, Satiriker/innen, Künstler/innen und Sozialdemokrat/innen sorgten ebenfalls dafür, dass Probleme einer schlechten Gesundheit, früher Tod und Lücken im sozialen Sicherheitsnetz in den Vordergrund des öffentlichen Bewusstseins gerückt wurden.
4.5. Der „organisierte Kapitalismus“ und seine Kritiker/innen
Eine unüberbrückbare ideologische Kluft trennte Karl Marx‘ Analyse Das Kapital von 1867 von Kaiser Wilhelms II. Ansprache zur „Arbeiterfrage“ im Februar 1890. Bismarck bot in den 1880er Jahren stattdessen eine ganz andere Art der Rechtfertigung für die Einführung der Arbeitsunfallversicherung an. Zu dieser Zeit kämpfte der Kanzler immer noch darum, dem zögerlichen, kostenbewussten Reichstag seine Sozialgesetzgebung abzuringen. (In Abschnitt 7 wird die Beziehung zwischen Staat, Arbeiterschaft und Sozialdemokratie genauer betrachtet.) Kritiker/innen des organisierten Kapitalismus reagierten auf die gesellschaftliche Krise mit einem Gefühl der Panik und schoben der jüdischen Bevölkerung die Schuld für die „Funktionsstörungen“ des Kapitalismus zu. Ernsthafte Reformer/innen und reaktionäre Weltuntergangsprophet/innen waren sich in ihren Prognosen grundsätzlich uneinig und drifteten so weit auseinander, dass ihre Lösungen für die „Seuche“ des Kapitalismus die bestehenden Probleme noch gravierender erscheinen ließen.
4.6. Umweltschutz
Volkskundler wie Wilhelm Heinrich Riehl waren der Meinung, das deutsche Volk und ihr Land wären untrennbar miteinander verbunden (siehe z. B. Dok. 4.6.52 über deutsche Wälder). In der Überzeugung, dass das wahre Deutschtum von der deutschen Landschaft herrühre, argumentierten sie, dass die Natur mit ihren unendlichen Variationen bewahrt und geschützt werden müsse, damit der deutsche Charakter gedeihe. Der Aufruf, zurück zur Natur zu finden, ging über die Ehrfurcht vor ihrer Schönheit, Harmonie und Beständigkeit hinaus. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte eine wachsende Zahl der Deutschen die Bedeutung von Umweltfragen erkannt, nicht zuletzt deswegen, weil viele von ihnen nun in hohen Zahlen als Wandernde und Tourist/innen aufs Land strömten. Nur wenige von ihnen hätten sich eine Organisation vorstellen können, die sich öffentlich für den Umwelt- und Heimatschutz einsetzt; jene mit ausreichender Vorstellungskraft jedoch wollten Wälder und Felder auf eine Art bewirtschaften und den Zugang zu Naturdenkmälern verantwortungsbewusst kontrollieren, um sie zum Vorteil und zur Freude aller zu erhalten. Ihnen standen Bauunternehmer, Industrielle und Regierungen gegenüber, die von rauchenden Schloten, Tagebau und der Ausbreitung der Städte träumten, da diese ihnen enorme Einnahmen einbrachten.
5. Politik I: Reichsgründung
Was sollte ich wissen? Im Juli 1866 setzte Preußens militärischer Sieg im Deutsch-Österreichischen Krieg über das Habsburgerreich dessen 800-jähriger Vorherrschaft in Mitteleuropa ein Ende und schloss es zudem aus dem zukünftigen Deutschland aus. Dadurch konnte Bismarck schließlich auch den „Verfassungskonflikt“ mit den Liberalen im preußischen Parlament beilegen. Preußen und die deutschen Staaten nördlich des Mains bildeten gemeinsam den Norddeutschen Bund (1867–70). Neben der Befugnishoheit, die dem preußischen König Wilhelm I. und Bismarck jeweils als Inhaber des Bundespräsidiums bzw. das Bundeskanzleramts übertragen wurde, waren der Reichstag und der Bundesrat die beiden gesetzgebenden Organe des Norddeutschen Bundes: Gesetzesentwürfe mussten von beiden abgesegnet werden. Der Reichstag wurde per allgemeinem (Männer-)Wahlrecht gewählt, während sich der Bundesrat aus Beamten zusammensetzte, welche die Regierungen der Mitgliedsstaaten vertraten. Diese Grundstruktur wurde bei seiner Gründung im Jahr 1871 für das Deutsche Reich übernommen.
Nach 1867 wurde deutlich, dass antipreußische Ressentiments im Süden zunahmen. Den Liberalen und Bismarck gelang es jedoch, im Reichstag zusammenarbeiten, um Gesetze zur Modernisierung in Wirtschafts-, Handels- und Rechtsfragen zu verabschieden. Durch diplomatische Fehltritte des französischen Kaisers Napoleon III. in Bezug auf die Frage der spanischen Thronfolge gelang es Bismarck, Frankreich derart auszumanövrieren, dass es im Juli 1870 Preußen den Krieg erklärte. Bestehende Militärbündnisse zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten kamen so zum Greifen. Eine Welle der Begeisterung brach aus, als deutsche Truppen der französischen Armee schwere Niederlagen beibrachten, sodass diese bei der Schlacht von Sedan vom 1. zum 2. September 1870 kapitulierte. Bismarck vergeudete keine Zeit und drängte zwischen Oktober und November 1870 auf Verhandlungen über den Beitritt der Südstaaten zu einem geeinten Deutschland. Am 1. Januar 1871, während der Krieg andauerte, wurde das neue Deutsche Reich gegründet; am 18. Januar wurde der Deutsche Kaiser im Spiegelsaal von Versailles proklamiert.
Bei der ersten Reichstagswahl vom März 1871 erhielt die Nationalliberale Partei (NLP) die meisten Stimmen und bildete die größte Fraktion. NLP-Abgeordnete arbeiteten eng mit Bismarck zusammen und entwarfen gemeinsam wichtige Gesetze, welche die Reichseinigung juristisch festigten, Hindernisse für den Industriekapitalismus beseitigten und den Kampf gegen die katholische Kirche ausweiteten. Ende der 1870er Jahre beschloss Bismarck dann, sich lieber auf die Unterstützung der konservativen und katholischen Parteien zu verlassen – und inszenierte die Spaltung der Nationalliberalen Partei. Als Bismarck 1878 seinen antisozialistischen Feldzug startete und 1879 zum Protektionismus umschwenkte, spaltete sich der linke Flügel der Nationalliberalen 1880 von der Partei ab und bildete zusammen mit der Deutschen Fortschrittspartei 1884 die Deutsche Freisinnige Partei. Diese linken Liberalen durchkreuzten viele von Bismarcks Plänen, worauf er reagierte, indem er ihre Loyalität zum Kaiserreich infrage stellte. In den 1880er-Jahren hatte Bismarck Fliehkräfte überwunden, die (seiner Ansicht nach) die deutsche Einheit bedrohten. Als er aber von der Gründung des Kaiserreichs zu dessen Konsolidierung überging, kam er zu dem Trugschluss, dass er selbst dabei unverzichtbar wäre.
1 repräsentatives Dokument (Dok. 5.2.26). Der Soziologe Max Weber nahm die Argumente heutiger Geschichtsforschender vorweg, als er – ausgehend von seinem Wissen im Jahr 1918 – die Beweggründe der Nationalliberalen analysierte, gemeinsam mit Bismarck die deutsche Einigung zu gestalten und dabei ihre eigenen Ziele und Ansichten durchzusetzen (anstatt unterwürfig eine „Revolution von oben“ hinzunehmen). In diesem Auszug betont Weber das immense politische Talent, über das Nationalliberale Parlamentarier damals verfügten, und auch, warum sie sich durchaus in Zukunft weitere liberalere Siege erhoffen konnten.
1 skurriles Dokument (Dok. 5.1.2.C). Bismarck sagte einmal: „Jeder, der einmal einem auf dem Schlachtfeld sterbenden Soldaten in die glasigen Augen geschaut hat, denkt künftig zweimal nach, bevor er einen Krieg beginnt“. Dieser Bericht lenkt das Augenmerk auf die verwundeten Soldaten und unbegrabenen Leichname, die nach der Schlacht von Königgrätz am 3. Juli 1866 auf dem Schlachtfeld zurückgelassen worden waren. Die Erinnerungen stammen von Georg Hiltl, einem Schauspieler, Theaterregisseur und Schriftsteller. Obwohl Hiltls Essay in der beliebten Familienzeitschrift Die Gartenlaube erschien, verbirgt sich in seiner expliziten Sprache das Gemetzel der modernen Kriegsführung.
5.1. Die Einigungskriege
Militärische Angelegenheiten und internationale Beziehungen nach 1871 werden in Kapitel 6 behandelt. In diesem Abschnitt wird hingegen die Durchdringung der Innen- und Außenpolitik bei der Schaffung der Reichseinigung zwischen 1866 und 1871 diskutiert. Wenn man den Krieg gegen Dänemark im Jahr 1864 miteinbezieht, so kann man von drei erfolgreichen Konflikten in diesem Zeitraum sprechen, die Bismarck, König Wilhelm I. und der preußischen Armee außerordentliches Ansehen und Macht verliehen. Die ungewisse und umstrittene Art und Weise, in welcher die politischen, diplomatischen und verfassungsrechtlichen Entwicklungen zur Proklamation des neuen Deutschen Reiches im Januar 1871 führten, darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden. Wie Quellen belegen, bedarf fast jeder Aspekt der „imperialen“ Macht der Verhandlung. Man kann sich leicht Wissen über die vielen politischen Abkommen anlesen, die Bismarck in dieser Zeit schloss: mit seinem eigenen König und den deutschen Bundesfürsten, die fest entschlossen waren, ihre Traditionen und Eigenständigkeit so weit wie möglich zu bewahren; mit den Liberalen in Preußen, die überdenken mussten, ob es möglich war, ihre beiden Ziele – Einheit und Freiheit – gemeinsam zu verfolgen; mit Helmuth von Moltke, dem Chef des Generalstabs der preußischen Armee, der die Siege des Heers im Ausland als Argument sah, den Einfluss des Militärs auf die politischen Geschehnisse im eigenen Land auszubauen; und mit anderen Großmächten, darunter Frankreich, Großbritannien und Russland, die in Preußen nun eine Bedrohung für den internationalen Frieden sahen. Durch diese Abkommen wurde Bismarck vom verhasstesten Menschen in Deutschland plötzlich zum beliebtesten Mann im Land.
Primärdokumente und Bilder bieten uns einen Blick hinter die Kulissen zweier der spannendsten Augenblicke des Einigungsprozesses. Der erste war Bismarcks Entscheidung, am 13. Juli 1870 die Emser Depesche zu redigieren. Durch die sowohl in ihrer Originalfassung als auch in der überarbeiteten Form berühmte Eilsendung schaffte es Bismarck, Frankreich zu einer Kriegserklärung an Preußen zu bewegen. Das zweite Moment war die Proklamation des neuen Kaisers im Spiegelsaal des Versailler Schlosses im Januar 1871 – eine Szene, die Anton von Werner in drei Versionen aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven und mit verschiedenen Absichten malte (siehe die drei Fassungen hier 5.1.34, hier 5.1.35 und hier 5.1.36). Französische und deutsche Satirezeitschriften veröffentlichten aufschlussreiche Einschätzungen des Widerstands gegen die preußische Vorherrschaft in Mitteleuropa, angefangen mit Darstellungen „Wilhelms des Schlächters“ bis hin zu unzähligen Variationen des preußischen Adlers und der Pickelhaube. Gleichzeitig gab es aber auch Darstellungen des gegenteiligen Empfindens: zeitgenössische Zeichnungen und Fotografien von preußischen Siegesparaden durch die Straßen von Paris und Berlin und gefühlsduselige Gemälde des vermeintlich unaufhaltsamen Aufstiegs Preußens. Dennoch machen sie die Toten und Verwundeten nicht unvergessen, deren Opfer diese Siege erst ermöglicht hatte.
5.2. Der Verfassungsstaat entsteht
Siege auf dem Schlachtfeld und ein „Heil“ auf den Kaiser reichten allerdings nicht aus, um einen funktionierenden Verfassungsstaat zu gründen. Die politischen Verhandlungen, die bereits zur Proklamation des Kaisers geführt hatten, setzten sich auch danach noch fort: im Parlament, in der Presse, in der langwierigen Kodifizierung der Gesetze und in den Kritiken der Liberalen, die immer noch hofften, dass eine nationale Einheit zu mehr bürgerlichen und verfassungsrechtlichen Freiheiten führen würde. Aus diesen Quellen lässt sich erschließen, an welchen Stellen Bismarck und die Liberalen Gemeinsamkeiten fanden. Die besonders fruchtbaren Legislaturperioden 1866–67 und 1871–74 sollten in diesem Zusammenhang besonders hervorgehoben werden. Wo sollte bei der Beschreibung der „konstitutionellen Monarchie“, sowohl theoretisch als auch praktisch, der Schwerpunkt liegen – auf dem Adjektiv oder dem Substantiv? Selbst der neue deutsche Bundesstaat war umstritten: Der Begriff zielte darauf ab, dass die zentrale Befugnishoheit nun beim kaiserlichen Staat (im Singular) und nicht beim pluralen Staatenbund lag, der bis 1866 bestanden hatte.
5.3. Eine Abwendung vom Liberalismus?
Die deutschen Liberalen ersannen mögliche Wege hin zu einer fortlaufenden Verfassungsreform, selbst unter Bismarcks autokratischer Regierungsführung. Ab 1880 waren die Liberalen in eine linksliberale und eine Nationalliberale Fraktion gespalten. Ihre zahlreichen Errungenschaften in dieser Zeit sollten jedoch nicht außer Acht gelassen werden. Bereits ab Mitte der 1870er-Jahre wird jedoch deutlich, dass die Möglichkeiten schwanden, einen liberalen Verfassungsstaat umzusetzen, in welchem die Exekutive der Kontrolle des Parlaments untersteht. Ab Mitte der 1880er-Jahre schwanden durch die Uneinigkeit im liberalen Lager, die angenommene Bedrohung durch den Sozialismus und Bismarcks unaufhaltsamen Aufstieg im preußischen Staat liberale Aussichten für die Zukunft.
Zeitweise setzten sie ihre Hoffnungen auf eine Neubelebung der liberalen Ziele in die kommende Herrschaft Kaiser Friedrich III., der Bismarcks Allmacht in der Innenpolitik durchbrechen könnte. Die Oppositionsparteien im Reichstag konnten Bismarck jedoch keine einheitliche Koalition entgegensetzen. Die Institutionen des Kaiserreichs – sowie die Idee des Reichs selbst – durchdrangen die dynastischen Staaten und gaben der Konzentration der Macht im Amt des Reichskanzlers und im Symbol des Kaisertums weitere Impulse. Friedrich war bereits bei seiner Thronbesteigung unheilbar an Kehlkopfkrebs erkrankt, sodass seine Herrschaft im Jahr 1888 nur neunundneunzig Tage dauerte. Bei seinem Tod erkannten die Liberalen, dass sein Sohn Kaiser Wilhelm II. eine Rückkehr zur „liberalen Ära“ der 1870er-Jahre nicht befürworten würde.
6. Militär, internationale Beziehungen, Kolonialismus
Was sollte ich wissen? Bismarcks Politik zwischen 1871 und 1890 war von Vorsicht geprägt, denn er strebte die Konsolidierung, nicht die Erweiterung, der deutschen Macht an. Seine Außenpolitik wurde von vier wesentlichen Grundsätzen geleitet, von denen er nie abwich. Erstens dadurch, Europa und die Welt zu besänftigten und davon zu überzeugen, dass Deutschland eine „saturierte“ Nation war, die sich dem Frieden verschrieben hatte. Zweitens musste Frankreich diplomatisch isoliert werden, um den „Albtraum der Koalitionen“ – zwei oder mehrere Großmächte, die sich gegen Deutschland verbünden – abzuwenden. Somit ermutigte Bismarck Frankreich, seinen Rachedurst über den Verlust von Elsass und Lothringen durch koloniale Expansion zu stillen. Drittens musste Russland Deutschland gegenüber wohlgesonnen bleiben, wenn nicht sogar freundschaftlich mit ihm verbunden, sodass es keinem gegnerischen Bündnis beitreten würde. Viertens musste Deutschland die Macht und das Prestige der österreichisch-ungarischen Monarchie stützen, weshalb beide Mächte 1879 ein formelles Bündnis schlossen.
In den Jahren 1884–85 machte Deutschland in Person des Afrikareisenden Carl Peters binnen weniger Monate kühne Ansprüche auf Südwestafrika laut und gründete anschließend deutsche Protektorate in Kamerun, Togo, Deutsch-Ostafrika und mehreren südpazifischen Inseln. Bismarck stimmte diesem Landraub zu, obwohl er sich zuvor geweigert hatte, Kolonialerwerbungen in Betracht zu ziehen. In den 1880er-Jahren stellte Kolonialismus aber auch einen deutlichen Ausdruck des deutschen Nationalismus dar und bezeugte für eine beträchtliche Anzahl der Deutschen ihre rassische Überlegenheit. Noch ehe Weltpolitik zum erklärten politischen Ziel des Reiches ernannt wurde, kennzeichnete sich Deutschlands Platz in der Welt – ebenso wie seine Selbstwahrnehmung – durch Völker, Erzeugnisse und Ideen, die fern der Grenzen Europas verortet waren.
1 repräsentatives Dokument (Dok. 6.1.4). Dieser Auszug aus Bismarcks Memoiren enthält den berühmten Bezug auf seinen „Albtraum der Koalitionen“ („le cauchemar des coalitions“). Dank seiner persönlichen Gedanken lassen sich die wichtigsten diplomatischen Abkommen Deutschlands in diesen Jahren besser einordnen.
1 skurriles Bild (Abb. 6.3.21). Die europäischen Kolonialmächte nahmen in ihrer Rhetorik auf eine „Zivilisierungsmission“ Bezug, um ihre Gebietsansprüche in Afrika zu rechtfertigen. In dieser Karikatur mit dem Titel „Culturfortschritte am Congo“ aus der Satirezeitschrift Kladderadatsch wird gezeigt, dass sich kolonisierte Völker scheinbar nicht zivilisieren lassen, womit die „Zivilisierungsmission“ der Europäer verhöhnt wird. Die Zeichnung greift das Stereotyp des „Hosennegers“ auf: ein kolonisierter Mensch, der die eigene Zivilisierung zwar anstrebt, aber diese aufgrund seiner grundlegenden Minderwertigkeit niemals erreichen kann. Die Unfähigkeit der Einheimischen, europäische Mode zu verstehen, war ein zentrales Merkmal dieses Stereotyps.
6.1. Verträge und Bündnisse
Kurz nach der Schlacht von Königgrätz beendete der am 26. Juli 1866 geschlossene Vorfrieden von Nikolsburg praktisch den jahrhundertealten Kampf zwischen Preußen und Österreich um die Vorherrschaft im deutschsprachigen Mitteleuropa. Vier Jahre später wurde der Sieg der Deutschen über die Franzosen vom späteren britischen Premierminister Benjamin Disraeli als eine Revolution in Europa beschrieben, deren Folgen sämtliche andere Großmächte noch zu spüren bekommen würden. Bismarck wollte Deutschland jedoch in keinen weiteren Krieg verwickeln – obwohl er bei Weitem kein Pazifist war. Er war in erster Linie bestrebt, nach 1871 stabile internationale Beziehungen herzustellen.
Im Nachhinein könnte man vielleicht zu dem Schluss kommen, dass Bismarcks Erfolgsbilanz – seine erfolgreichen Einigungskriege und seine gekonnte Realpolitik – ihn zu einem Genie machte. Diese Betitelung erscheint auch gerechtfertigt, wenn man seine Leistungen mit der Zickzack-Politik vergleicht, die das deutsche Auswärtige Amt nach 1890 verfolgte. Zudem schaffte es Bismarck während seiner gesamten Amtszeit, die größte Bedrohung zu vermeiden: einen unmöglich zu gewinnenden Zweifrontenkrieg, so wie Deutschland sich ihm 1914 gegenübersah. Es mag zwar zutreffen, dass die Welt Bismarck vierzig Jahre Frieden zu verdanken hat und dass er ein begnadeter diplomatischer Taktiker war – zum Beispiel, als er beim Berliner Kongress 1878 die Rolle des „ehrlichen Maklers“ spielte. Einem solchen Rückblick fehlt jedoch der Fokus, denn er lässt Bismarcks aggressive Expansionsbestrebungen und den grausamen Verlust an Menschenleben außer Acht, die seiner Realpolitik zwischen 1862 und 1871 geschuldet waren.
Auch das Ende seiner Amtszeit stellt Bismarcks Genie und seine langfristigen Ziele infrage. Er unterschätzte die Macht des Nationalismus im In- und Ausland. Dieser minderte den diplomatischen und militärischen Wert seines einzigen unerschütterlichen Verbündeten, Österreich-Ungarns, und schürte Unruhen und aggressive Übergriffe innerhalb der jungen Generation, die sich vom Pangermanismus angesprochen fühlte. Bismarcks eigene Politik trug dazu bei, dass die deutsche Öffentlichkeit dem mitreißendsten Satz in seiner letzten großen Reichstagsrede vom 6. Februar 1888 – „Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt!“ – mit stürmischem Applaus begegnete, die friedlichen Absichten, die er an anderer Stelle in der Rede ausdrückte, dabei aber völlig ignorierte (siehe Abb. 6.2.10 und 6.2.12). Daher ist die Leserschaft angehalten, sowohl die Tugenden als auch die Schwächen von Bismarcks Außenpolitik aus der Perspektive der longue durée zu betrachten.
6.2. Das preußische Offizierskorps und der Militarismus
Bei der Reichsgründung hielt das preußische Heer das siegreiche Schwert fest in der Hand. Die Rolle des Militärs im Deutschen Kaiserreich ist dabei seit jeher ein umstrittenes Thema. Welcher Zusammenhang besteht beispielsweise zwischen dem Sieg Preußens über Österreich im Juli 1866 und Bismarcks erfolgreichem Gesetzesvorschlag nur zwei Monate später, der ihm in Bezug auf die Missachtung der liberalen Opposition Straffreiheit gewährte? Die tragende Symbolik der Reichsproklamation im Palast Ludwigs XIV. im Januar 1871 war nicht zufällig gewählt. Bei diesem Ereignis stellten die Insignien militärischer Macht alles andere in den Schatten, sodass ein preußischer Offizier sogar ausrief, als Anton von Werner den Spiegelsaal von Versailles betrat, um die Szene als offizieller Maler abzubilden: „Was macht dieser Zivilist hier?“
In welchem Maße schwappte das soziale Ethos des preußischen Offizierskorps auf die deutsche Gesellschaft über? Diese Frage hängt von der Bedeutung eines „gesellschaftlichen Militarismus“ ab, der weiterhin einer klaren Definition bedarf.[17] Kaiser Wilhelm I. und sein Enkel legten beide großen Wert auf das soziale Ethos preußischer Offiziere. Als Wilhelm II. 1888 den Thron bestieg, war bereits deutlich, dass der alte preußische Adel nicht mehr ausreichend gesellschaftlich privilegierte und politisch verlässliche Rekruten zur Verfügung stellen konnte, um dem Bedarf einer modernen Armee gerecht zu werden. Der junge Kaiser machte aus der Not eine Tugend. Er verkündete, dass eine neue „Aristokratie der Gesinnung“ den anhaltenden Respekt gewährleisten sollte, den die deutsche Gesellschaft dem Offizierskorps entgegenbrachte. Geschichtsforschende sind längst nicht mehr der Ansicht, dass die Akzeptanz der hohen Stellung des Militärs innerhalb der Gesellschaft eine Feudalisierung des Bürgertums bedeutete.
6.3. Kolonialismus
Bismarck war weiterhin vorrangig darauf bedacht, Deutschlands Stellung auf dem europäischen Kontinent zu festigen sowie das Land vor möglichen Erschütterungen durch das internationale Bündnissystem zu schützen. Wie er es einmal ausdrückte: „[M]eine Karte von Afrika liegt hier in Europa.“ Viele Deutsche sahen das allerdings anders. Anfang der 1880er Jahre entstanden zahlreiche koloniale Interessengruppen, die sich lautstark Gehör verschafften. Zudem wurden bestehende Gesellschaften teilweise umstrukturiert oder erweitert, um Auswanderungswellen, Entdeckungsreisen oder den Exporthandel zu fördern. Diese Gesellschaften trafen mit ihren Aktionen den Nerv der Zeit, in der sich Deutsche sorgten, wie die Wirtschaft wiederbelebt, ein Sicherheitsventil für eine (vermeintliche) Überbevölkerung geschaffen und Rohstoffe und Märkte für die deutsche Industrie gesichert werden konnten. Ein semantischer Wandel signalisierte diese veränderte Wahrnehmung: Während Deutsche, die nach Übersee auswanderten, einst „Emigranten“ genannt wurden – und sich als solche Vorhaltungen anhören mussten, sie würden fremde Nationen mit ihren Talenten und Tugenden „befruchten“ – wurden sie ab den 1880er Jahren zunehmend als „Auslandsdeutsche“ bezeichnet. Das deutsche Volk und seine nationale Mission ließen sich nur global konzipieren.
Warum stimmte Bismarck dem Erwerb von Kolonien zu, obwohl er diesen ehemals strikt abgelehnt hatte? Möglicherweise versuchte er, Kolonialbesitztümer als Figuren im internationalen Spiel der Diplomatie einzusetzen. Er war nicht abgeneigt, Spannungen mit Großbritannien zu reizen, um den Einfluss von Kronprinz Friedrich Wilhelm und dessen englischer Frau Victoria, der Tochter von Königin Victoria, zu untergraben. Zumindest kurzfristig erkannte er auch den Anreiz, den Kolonien auf die Wählerschaft ausübten. Bismarcks kurze Zeit als Mitläufer in der Zankerei um Kolonien wurde von Mitgliedern der Nationalliberalen und Freikonservativen Parteien unterstützt, deren Kandidaten 1884 einige der Mandate, die sie bei der Reichstagswahl 1881 an die Linksliberalen verloren hatten, zurückgewannen. Damit solche Erklärungen überhaupt einen Sinn ergeben, muss jedoch die Idee verworfen werden, Bismarck habe die Kolonialbewegung heraufbeschworen, um seinen machiavellistischen Plänen zu dienen. Stattdessen muss anerkannt werden, dass Kolonien in den 1880er Jahren nationalen Gefühlen in der Bevölkerung auf kraftvolle Weise Ausdruck verliehen. Der Reiz der Kolonien hatte jedoch seine Grenzen. Die oft brutale Behandlung afrikanischer Einheimischer gab den Sozialdemokrat/innen ausreichend Munition, um die territoriale Expansion Deutschlands in Übersee anzuprangern. Carl Peters und andere konterten diese Kritik unermüdlich mit weiteren Behauptungen über den wirtschaftlichen, nationalen und kulturellen Nutzen von Kolonien, die ebenso vehement wie untragbar waren.
Die Befürworter/innen des Kolonialismus nährten zudem die Faszination der Deutschen für indigene Völker, die aus dem deutschen und – öfter noch – aus dem Kolonialbesitz anderer Nationen nach Deutschland gebracht wurden. Diese Faszination hatte verschiedene Motivationen und nahm vielerlei Formen an, von wissenschaftlicher Forschung bis hin zu naivem Voyeurismus. Carl Hagenbeck kam in den 1870er Jahren auf die Idee, ethnografische Ausstellungen indigener Völker zu organisieren, die sogenannten „Völkerschauen“, um das rückläufige Interesse an seinen Tierparks wettzumachen. Zwischen 1874 und 1890, und sogar darüber hinaus, inszenierten Hagenbeck und andere eine Reihe von Ausstellungen, in denen indigene Völker in ihrem vermeintlich natürlichen, primitiven Umfeld dargestellt wurden, wie sie alltäglichen Tätigkeiten nachgingen, die dem deutschen Publikum völlig fremd waren. Zu den beliebtesten Schauen gehörten jene über die Völker Samoas, Nubiens (dem heutigen Ägypten), über singhalesische Menschen (aus Ceylon, dem heutigen Sri Lanka) und die Inuit aus den kanadischen Provinzen Neufundland und Labrador (siehe Abb. 6.3.39). Solche Schauen wurden auch in anderen europäischen Ländern und den USA veranstaltet, und zwar bis in die 1930er Jahre; vor 1890 jedoch stellten sie mit die erste und aufsehenerregendste Art dar, auf welche Kolonien in das Bewusstsein gewöhnlicher Deutscher rückten.
7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung
Was sollte ich wissen? In einer Zeit rasanter sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen, in der die politische Kultur des neuen Kaiserreichs noch im Wandel begriffen war, bot die Taktik, bestimmte außenstehende Gruppen als „Reichsfeinde“ zu bezeichnen, Bismarck die Möglichkeit, sowohl im preußischen Landtag als auch im gesamtdeutschen Reichstag ein Bündnis staatentreuer Parteien zusammenzuschließen. Innerhalb dieser Gruppe an „Feinden“ richtete Bismarck seine Angriffe ab 1871 gezielt auf katholische Deutsche, ab 1878 auf Sozialdemokrat/innen, ab Anfang der 1880er-Jahre auf Linksliberale und ab 1885 auf die polnische Bevölkerung Ostpreußens. Diese Strategie lief jedoch Gefahr, nach hinten loszugehen. So schuf oder stärkte sie das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Mitgliedern der Opfergruppen, die bisher kaum Solidarität untereinander empfunden hatten.
Nach der Reichseinigung nahm die Parteienlandschaft Deutschlands ein Muster an, das bis mindestens 1918 weiterbestand. Zwischen 1866 und 1867 spalteten sich sowohl das konservative als auch das liberale Lager. Anfang der 1870er Jahre vereinigte sich die Deutsche Zentrumspartei als Reaktion auf den anti-katholischen Kulturkampf, und 1875 bildeten die Marxisten und die Lassalleaner innerhalb der Sozialdemokratie auf Grundlage des Gothaer Programms ein fragiles Bündnis. Die 1880er-Jahre sahen zudem die Spaltung, Wiedervereinigung und Rekonstitution seit Längerem bestehender linksliberaler und neu gegründeter antisemitischer Parteien. Insgesamt wurde die deutsche Parteienlandschaft von fünf Hauptgruppierungen geprägt: Konservative, Nationalliberale, Linksliberale, die Deutsche Zentrumspartei (katholisch) und Sozialdemokrat/innen.
Keine dieser Gruppen erhielt auch nur annähernd eine Mehrheit im Reichstag. Selbst wenn, so hätte keine von ihnen einen Regierungsauftrag erhalten (nicht einmal als Koalition), weil der Kaiser seine Minister und Staatssekretäre selbst ernannte, und weil die vom Reichstag verabschiedeten Gesetze vom Bundesrat gebilligt werden mussten. Dennoch nahm der Reichstag an Bedeutung zu: Abgeordnete debattierten und stimmten über wesentliche Gesetze ab, und das Parlament wurde zu einem Resonanzboden der öffentlichen Meinung. Gleichzeitig nahm die Wahlbeteiligung bei den Reichstagswahlen schlagartig zu. Bei der Reichstagswahl 1874 traten nur etwa 61 Prozent der wahlberechtigten Deutschen – ausschließlich volljährige Männer – tatsächlich an die Wahlurnen. Bei der Reichstagswahl 1887 war die Wahlbeteiligung auf fast 78 Prozent gestiegen – ein bis 1907 unerreichter Wert. Ein Grund für dieses zunehmende Engagement der Wähler waren die Bemühungen der Reichstagsabgeordneten, die Geheimhaltung des Wahlrechts zu gewährleisten.
Bismarck war durchaus konsequent und aufrichtig, wenn er behauptete, im Dienst seines Königs zu agieren. Seine engste und längste Beziehung bestand zu Wilhelm I., dem er von 1862 bis 1888 diente. Während der kurzen Regierungszeit von Kaiser Friedrich III. im Frühjahr 1888 waren die Beziehungen zwischen Bismarck und dem königlichen Palast angespannt und unaufrichtig. Im Juni 1888 bestieg der gerade einmal neunundzwanzigjährige eigensinnige Kaiser Wilhelm II. den Thron. Und am Ende des „Dreikaiserjahres“ waren bereits Sturmwolken am Horizont aufgezogen, die schließlich dazu führten, dass Wilhelm im März 1890 Bismarck aus seinem Amt enthob.
1 repräsentatives Dokument (Dok. 7.4.46). In diesem Bericht beschreibt der Schriftsteller und liberale Politiker Gustav Freytag den Wahlkampf bei der Reichstagswahl vom Februar 1867. Die Kampagne wurde unter dem neuartigen Einfluss des allgemeinen Männerwahlrechts geführt, behielt aber Elemente des früheren, elitären Politikstils bei, der von lokalen Adeligen dominiert wurde. Freytag fühlte sich unwohl dabei, seine „Popularität“ zu steigern und um Wähler buhlen zu müssen; dennoch hat sein Bericht eine ironische, humorvolle Note: „Und doch ist dies allgemeine Wahlrecht das leichtsinnigste aller Experimente, welche Graf B. jemals gewagt hat.“
1 skurriles Bild (Abb. 7.2.27). Dies ist eines der ungewöhnlicheren Artefakte aus der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratischen Partei. Es ist eine Pfeife aus Holz, Leder und Papier. Sie zeigt einen Arbeiter mit einer Kopie der Braunschweiger Parteizeitung der SPD in der Tasche. Er nimmt eine besonders respektlose Haltung über einer Kopie des Sozialistengesetzes ein. Das Petroleumfass daneben deutet auf mögliche Brandstiftung oder eine anderweitige Gewalttat hin.
7.1. „Reichsfeinde“ I: Katholiken und Katholikinnen
Der Kulturkampf war Bismarcks kühnstes und am wenigsten durchdachtes Vabanquespiel. Spannungen zwischen den staatlichen Behörden und der katholischen Kirche schaukelten sich in der zweiten Hälfte der 1860er Jahre in Baden, Preußen und anderen deutschen Staaten bis zur Eskalation hoch. Kurz nach der Reichseinigung leitete Bismarck zusammen mit Kultusminister Adalbert Falk eine Reihe von Gesetzesinitiativen ein – siehe die Zeitleiste in diesem Band – welche die Eigenständigkeit der katholischen Kirche in Deutschland untergraben sollten. Ziel war es, die finanzielle Unabhängigkeit der katholischen Kirche zu schmälern, ihren Einfluss in Schulen zu verringern und den Jesuitenorden aus den deutschen Staaten zu verbannen. Linksliberale und Nationalliberale befürworteten diese Initiativen mit Begeisterung. Einige unter ihnen rangen mit der Widersprüchlichkeit zwischen dem liberalen Engagement für bürgerliche Freiheiten und der offensichtlichen Tatsache, dass Bismarck mit seiner Unterdrückung eine bestimmte Gruppe herausgriff. Die meisten erhofften sich jedoch, dass der Kulturkampf gegen die katholische Kirche drei Ziele erreichen würde: 1. Gruppen in den Grenzgebieten des Reiches (in der Provinz Posen, Bayern, dem Rheinland und Elsass-Lothringen) ihre Einflussnahmemöglichkeiten zu entziehen und damit zu verhindern, dass sie sich mit anderen Katholik/innen in Frankreich oder Österreich verbündeten. 2. Stimmen zum Schweigen zu bringen, die in der katholischen Kirche den „Obskurantismus“ (die Aufklärungsfeindlichkeit) predigten und die angeblich seit dem Mittelalter stetig zunahmen. 3. Liberale Parteien für Bismarck unverzichtbar zu machen und somit zu gewährleisten, dass verfassungsrechtliche und wirtschaftlichen Freiheiten in Zukunft ausgebaut würden.
Die Maigesetze von 1873 bildeten das Herzstück der Kulturkampf-Gesetzgebung. Die Spannungen zwischen Bismarck und dem Papst verschärften sich in den zwei Folgejahren. Ende des Jahrzehnts erkannte Bismarck jedoch, dass die Gegenbemühungen des katholischen Klerus und seiner Gemeinden seine Pläne weitgehend durchkreuzt hatten. Die Unzulänglichkeit staatlicher Institutionen bei der Unterdrückung fast eines Drittels der Bevölkerung des Kaiserreichs wurde nur allzu deutlich. So hatte der Kanzler 1878 ausreichend Gründe, die wichtigste politische Vertretung katholischer Interessen, die Deutsche Zentrumspartei, wieder in die Regierung einzubeziehen, die sich auf ein breites Spektrum an kirchlichen und Laienorganisationen stützte. Die Zentrumspartei hatte den Vorsitz über eine große Fraktion im Reichstag, die katholische Wahlkreise vertrat. In diesen Regionen war oft schon im Voraus klar, dass der Zentrumskandidat siegreich aus der Wahl hervorgehen würde. Grund dafür war nicht nur die höhere Dichte an Katholik/innen in der Bevölkerung bestimmter Regionen Deutschlands, sondern auch die tief verwurzelte Feindseligkeit zwischen der protestantischen und der katholischen Bevölkerung, wodurch sich letztere diskriminiert fühlte. Ab 1878 bis Mitte der 1880er-Jahre verlor der Kulturkampf langsam an Fahrtwind und kam schließlich zum Stillstand. Bismarck gab jedoch niemals öffentlich seine Niederlage zu und der Religionsfrieden blieb auch in der Wilhelminischen Zeit brüchig.
7.2. „Reichsfeinde“ II: Sozialisten und Sozialistinnen
In den 1870er-Jahren weitete Bismarck die Repressionsmaßnahmen zur Bekämpfung der angeblichen „revolutionären“ Bedrohung durch die Sozialdemokratie allmählich aus. Zwei Attentate auf Kaiser WilhelmI. machten im Oktober 1878 den Weg frei für das Sozialistengesetz. Die Hetzkampagne gegen sozialdemokratische Aktionen war beim deutschen Bürgertum noch beliebter als der Kulturkampf. Ihr Scheitern erwies sich folglich als ein weiterer Schlag für die Autorität des Bismarckschen Staates. Beide Kampagnen hatten dieselben Grundzüge: Beide schürten die Hoffnungen der liberalen Mittelschicht, eine Kampagne gegen „Reichsfeinde“ würde die Stärke und innere Einheit des neuen Nationalstaates festigen – und zwar durch die Behauptung der Staatsautorität über die Anhänger/innen des Papstes bzw. die Verteidigung von Privateigentum und der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung gegenüber revolutionären Kräften. Beide führten dazu, dass sich Liberale selbst die Schuld gaben und überdenken mussten, ob es klug war, einzelne politische Gruppierungen als unrechtmäßig zu bezeichnen. Beide bewiesen außerdem, dass es der Polizei, den Gerichten und den Staatsbeamten an Mitteln mangelte, eine politische Ideologie zu bekämpfen, die Zulauf von einem so großen Teil der Bevölkerung hatte. Zudem stärkten beide Kampagnen direkt die Solidarität unter den unterdrückten Gruppen, was sich in Wahlerfolgen und Parlamentsmandaten äußerte.
Tatsächlich hatte Anfang der 1870er-Jahre nur eine Minderheit der deutschen Arbeiterklasse je von Karl Marx gehört, geschweige denn von seinen Theorien des Klassenkampfes und der Revolution. Und viele derer, die sich mit Marx etwas auskannten, waren tatsächlich Anhänger/innen der Lehren eines anderen (damals bereits verstorbenen) sozialistischen Führers: Ferdinand Lassalle. Solange das Sozialistengesetz in Kraft war (1878–90), entwickelten die Sozialdemokrat/innen ein umfassendes Untergrundnetzwerk an Kontaktleuten, Kurieren, Propagandist/innen und Wahlhelfer/innen. Die Arbeit von August Bebel, Wilhelm Liebknecht und anderen sozialdemokratischen Parteiführern im Reichstag überzeugte immer mehr Arbeiter/innen davon, dass eine straffe Parteiorganisation, ein autonomes Netzwerk an Kulturverbänden, politischer Protest und energische Wahlkampagnen der beste Weg waren, um gegen einen Staat vorzugehen, der die Sozialdemokratie als Verbrecherorganisation abgestempelt hatte. Infolgedessen stieg die Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei und mit ihr die Anzahl der gewählten Abgeordneten bei den Parlamentswahlen. Während bei der Reichstagswahl 1874 nur rund 350.000 Stimmen für sozialdemokratische Kandidaten abgegeben worden waren, erhielt die Partei im Februar 1890 1.400.000 Stimmen – also fast 20 Prozent der Stimmen des Volkes und damit mehr als jede andere Partei. Dieser überwältigende Wahlerfolg trug dazu bei, dass Kaiser Wilhelm II. Bismarck einen Monat später entließ. Zudem war der Wahlsieg der Vorbote des noch dramatischeren Wachstums, das die Partei in den 1890er-Jahren erleben würde.
7.3. Parteiprogramme und Organisationen
Geschichtsforschende sind geteilter Meinung – viele jedoch skeptisch – ob die wichtigsten Parteien mit dauerhaften sozialmoralischen „Milieus“ übereinstimmten, wie von M. Rainer Lepsius postuliert.[18] Die Milieutheorie lässt keinen Freiraum, um die Dynamik und Möglichkeiten für wechselnde Zugehörigkeiten innerhalb des politischen Systems des Kaiserreichs zu erklären. Die Beständigkeit der wichtigsten Parteigruppierungen und deren ursprüngliche Parteiprogramme lassen jedoch darauf schließen, dass die Entstehung der modernen Massenpolitik eher in der Ära Bismarck als in der Wilhelminischen Zeit zu verorten ist. Die Grundsatz- und Wahlprogramme dieser Parteien veranschaulichen die Wechselwirkung sozialer, wirtschaftlicher und politischer Themen innerhalb der jeweiligen Weltanschauungsweise. Sie zeigen zudem Koalitionsmöglichkeiten zwischen den Parteien auf sowie Hindernisse, die einer Zusammenarbeit im Wege stehen können und Historiker/innen dazu veranlasst haben, von einer „Versäulung“ des parteipolitischen Systems zu sprechen. Satirezeichnungen und sorgfältig gestellte Fotografien von Parteivorsitzenden im Foyer des Reichstages sollten suggerieren, dass die Hautparteien mehr Werte gemein hatten, als Geschichtsforschende dies ihnen tatsächlich zutrauen. Trotzdem schienen Parteibündnisse einerseits willkürlich und konnten, je nach Bismarcks Gunst, schnell wieder umschwingen.
7.4. „Neue Töne in der Politik“
Ob das Prinzip der geheimen Stimmabgabe in der Ära Bismarck respektiert oder umgangen wurde, hing sehr stark vom Wahlkreis des jeweiligen Wählers ab, von dessen Arbeitgeber und davon, ob die Regierung ein direktes Interesse am Ausgang der Wahl in einem bestimmten Bezirk hatte. So überrascht es nicht, dass zeitgenössische Kunstschaffende die ungelösten Fragen abbildeten, die „Wahlphilister“ in dieser Zeit umtrieben (siehe Abb. 7.4.49). Antisemit/innen der späten 1870er- und 1880er-Jahre verstanden es, die Leichtgläubigkeit des Durchschnittswählers auszunutzen. Doch mussten sämtliche Parteien um die Gunst der Massen werben, ob sie es wollten oder nicht. Wie ein Konservativer es formulierte, war das allgemeine Männerwahlrecht ihnen „zu heiß unter den Füßen“ geworden, als dass man es bei der aristokratischen Politikkultur von ehedem hätte belassen können.
Als Beweis dafür, dass Durchschnittswähler immer besser darüber Bescheid wussten, was zu Wahlkampfzeiten auf dem Spiel stand, können die immer beliebter gewordenen Wahlkarten gelten: Sie verwandelten mithilfe bunter Tinte und bemerkenswerter Detailtreue staubtrockene Statistiken in verständliche Grafiken. Wahlkarten halfen Wählern, Politikern und Staatsmännern, die Hochburgen ihrer Partei zu verorten. Weniger klar ist jedoch, ob die regionale Politik durch die umfassende Berichterstattung nationaler Tendenzen in der Presse an regionaler Individualität einbüßen musste. Massenpolitik und das Problem, keine tatsächliche Regierung bilden zu können, führten dazu, dass die Parteien immer mehr dazu neigten, ihr Revier zu verteidigen – sei es das geografische, als auch in Bezug auf ihre Klassen- und Religionsaffinitäten.
7.5. Bismarcks Vermächtnis
Ein gelehrter Witzbold kommentierte einmal, dass ein Buch mit dem Titel Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. besser„… trotz Wilhelm I.“ lauten müsse. Dieser hatte bekanntermaßen im Januar 1871 nur widerwillig den Titel Deutscher Kaiser angenommen, der seiner Meinung nach den Ruhm seines Erbtitels als König von Preußen befleckte. Bis zu seinem Tod im Jahr 1888 überließ Wilhelm I. Bismarck in allen wichtigen Staatsfragen die Oberhand. Doch noch ehe Bismarck zwei Jahre später sein Entlassungsgesuch erhielt, diskutierten seine Zeitgenossen bereits über die historische Bedeutung und das Vermächtnis seiner langen Amtszeit.
Am 29. März 1890 fuhr Bismarcks Zug aus dem Berliner Bahnhof aus, um ihn an seinen Altersruhesitz, sein Anwesen Friedrichsruh östlich von Hamburg, zu bringen. Dieser Ruhestand bot den Deutschen die Gelegenheit, auf 25 Jahre beispielloser Veränderungen und Errungenschaften im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich zurückzublicken. Das Deutsche Reich war durch militärische Siege, Monarchismus und Preußentum entstanden. Aber wie John Maynard Keynes 1919 bemerkte, war es auch durch „Kohle und Eisen“ geschmiedet worden. Es entwickelte sich zu einer Wirtschaftsmacht ersten Ranges, das globale Industriemärkte beherrschen konnte. Es konnte mit Schulen, wissenschaftlichen Laboren und Freiheiten bei Wahlen aufwarten, um die es Europa und der Rest der Welt nur beneiden konnten. Das Prinzip des Föderalismus, das zur Anfangszeit noch als allmächtig galt, war keinesfalls den zentralen politischen Organen des Kaiserreichs zum Opfer gefallen, obgleich letztere an Zahl und Bedeutung gewannen. Selbst der Schutz der Rechte der jüdischen Bevölkerung schien gewährleistet und noch sicherer als in manch anderen Teilen Europas.
Dennoch waren bestehende Klüfte zwischen Reich und Arm, und entlang der Ständeordnung, in Deutschland im Laufe der Gründung und Festigung des Reiches nur noch tiefer geworden. Die Rechte von Minderheiten standen unter Beschuss, es war ein Keil zwischen die Arbeiterklasse und den Rest der Gesellschaft getrieben worden, die Vorrechte des Parlaments waren in Mitleidenschaft gezogen worden und die Deutschen folgten stur einem zunehmend realitätsfernen Staatsmann. Einige Geschichtsforschende sind weiterhin der Ansicht, dass diese Handlungen und Gesinnungen später noch eine wichtige Rolle spielen würden, da durch sie Hürden auf dem Weg hin zur Parlamentarisierung, Demokratisierung und Toleranz der Vielfalt errichtet wurden, die den deutschen Faschismus begünstigten. Diese Interpretation struktureller Hindernisse der Modernisierung – genauer gesagt, der Modernisierung in Richtung liberaler, demokratischer Entwicklungen – wurde in den meisten Geschichtsbüchern der vergangenen dreißig Jahre heruntergespielt. Die Geschichtsschreibung sollte jedoch die Möglichkeit mehrerer Interpretationen und kritischer Reflexionen offenlassen und ebenso das Wechselspiel zwischen älteren und neueren Auslegungen beleuchten. Wie Dieter Langewiesche einmal bemerkte: „Wie das deutsche Kaiserreich einzuschätzen ist, war immer umstritten. […] Diese Vielgestaltigkeit älterer Kaiserreichbilder sollten wir ernst nehmen und nicht begradigen, was krumm gewachsen ist. Oder doch nicht zu sehr“.[19]
Nachwort
Nach 1890 war es nicht mehr der Kanzler, sondern der Kaiser, der der Epoche seinen persönlichen Stempel aufdrückte. Das Tempo, mit welchem sich der Wandel in der Wilhelminischen Ära (1890–1918) vollzog, war noch straffer als noch zu Bismarcks Zeiten. Das galt für sämtliche Lebensbereiche, vom gesellschaftlichen über das wirtschaftliche und kulturelle hin zum politischen. Als sich die Wirtschaftslage ab Mitte der 1890er Jahre verbesserte und die Reallöhne stiegen, wuchs die Bevölkerung weiterhin rapide an und die Urbanisierung nahm zu. Trotz vielfach verbreiteter Reformbewegungen (darunter insbesondere sozialistische und bürgerlich-feministische) waren die gesellschaftlichen Beziehungen von Klassenunterschieden und -konflikten geprägt. Der Expressionismus und andere Ausdrucksformen der Moderne schürten bis daher nie dagewesene Kunstformen, wobei die deutsche Kultur allgemein europäischen Trends folgte. In der Innenpolitik trug der Aufstieg von wirtschaftlichen Interessengruppen und nationalistischer Verbände dazu bei, dass sich sogar die Basis der deutschen Gesellschaft mit Politik beschäftigte. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs hatten die fünf grundlegenden Parteigruppierungen der Ära Bismarck weiterhin Bestand. Politiker und Abgeordnete konzentrierten sich allein auf ihre entsprechenden Lager. Die Vorstellung breiter Koalitionen blieb vollkommen illusorisch und der Druck der allgemeinen Bevölkerung, und selbst Winkelzüge der Parlamentarier, reichten nicht aus, um das undemokratische Dreiklassenwahlrecht Preußens zu kippen: Es blieb das stärkste Symbol für den Autoritarismus und den Widerstand gegen Veränderungen. Schlicht zu konstatieren, dass sämtliche Wege hin zu einer Verfassungsreform blockiert gewesen wären, ist zu einfach. Selbst die Konservativen hatten langsam erkannt, dass man der Demokratie nicht mit rein negativen Mitteln Widerstand gebieten konnte. Doch es gab auch keinen eindeutigen Weg nach vorne.
Gerade im Bereich der Außenpolitik zeigte sich der dramatische Unterschied zwischen der Dynamik und Unvorhersehbarkeit des Wilhelminischen Deutschlands und Bismarcks Drang nach Stabilität. Kaiser Wilhelms II. Hang zu impulsivem Handeln, der von seinem „persönlichen Regiment“ gespeist wurde, ebenso wie seine Weltpolitik und der Bau von Schlachtschiffen, versetzten der deutschen Politik zunehmend Hiebe. Mit seinem Säbelrasseln wollte Wilhelm II. Deutschlands Platz unter den Großmächten Europas behaupten und ausbauen. Tatsächlich trat das Gegenteil ein. So kam es schließlich 1914 zum Krieg und 1918 zu einer Revolution, womit die Geschichte des Deutschen Kaiserreichs nach weniger als fünfzig Jahren ihr Ende nahm. Das Kaiserreich zerbrach jedoch nicht aus Mangel an Staatsmännern von Bismarcks Kaliber – solche Argumente gehören dem „Bismarck-Mythos“ an und sind nicht haltbar. Deutschland 1914 war gesellschaftlich und politisch weit von dem Nationalstaat entfernt, den Bismarck und seine Nationalliberalen Verbündeten 1871 geschaffen hatten, und in den internationale Beziehungen herrschten Spannungen und Vorgehensweisen vor, wie es sie zu Bismarcks Zeit nicht gegeben hatte.
James Retallack