Kurzbeschreibung

In den 1880er Jahren scheute Bismarck kaum eine Mühe, regierungsfreundliche konservative Kräfte zu mobilisieren und die Unterstützung für liberale Reichstagskandidaten zu unterminieren. Diese Auszüge aus Briefen seines Sohnes Herbert (1849–1904) an den Schwiegersohn des Kanzlers zeigen, wie solche unlauteren Tricks während der Wahlkampagne vor der Reichstagswahl am 27. Oktober 1881 angewandt wurden. Als Sozialisten und Kandidaten des Fortschritts in der Stichwahl gegeneinander antraten, betrachtete Bismarck die Sozialisten als das kleinere Übel, obwohl er sich derartige Ansichten öffentlich nicht zu äußern getraute.

Herbert von Bismarck an „Wahlbeobachter“ in Danzig und Bismarcks Strategie gegen den Linksliberalismus (Oktober 1881)

  • Herbert von Bismarck

Quelle

I. Herbert von Bismarck an Graf Kuno zu Rantzau

Varzin, den 21. Oktober 1881

Lieber Kuno,

[] Gestern kam ein Regierungsrat aus Danzig, um über die dortigen Wahlaussichten zu referieren. Der Mann heißt Paschke und ist Chef der dortigen konserv. Wahlleitung. Er sagte, die Aussichten stünden unberufen gut, es käme aber wahrscheinlich auf die Beamten an, wie diese stimmten, es sind 1000 an der Zahl (Militär -und Festungsverwaltung, Steuer, Regierung, Eisenbahn, Post, Telegraphie) d. h. abgesehen von den Werftarbeitern und Lotsen, die er auf ca. 1600 angibt. Letztere glaubt er sicher zu haben, da Livonius, welcher Stosch vertritt, die Instruktion an die Marinestation geschickt hätte, für Puttkamer zu stimmen.

Ganz faul soll aber Steuer und Eisenbahn sein, deren Chefs — Naumann und Honth-Weber — ganz liberal wären.

Infolgedes hat Papa heut an Schlieckmann geschrieben und ihn gebeten, auf Maybach und Bitter noch persönlich einzuwirken, daß sie ihre Beamten in Ordnung bringen. Die Steuerbeamten sollen die übelsten sein, Eisenbahn aber annähernd ebenso faul. Papa wünscht, daß Du zu Maybach und event. auch zu Bitter gehst und sie in seinem Namen privatim bittest, doch noch etwas zu tun c/a Rickert.

Sprich erst mit Schlieckmann, wer von Euch beiden zuerst hingeht, mir scheint entschieden besser, Du läßt Schlieckmann den Vortritt und folgst nachher vertr. nach. Frage Schl. auch, ob Du zu Bitter oder lieber nur zu Maybach gehen sollst?

Maybach sage dann bitte, Du hättest Deine neuliche Unterhaltung mit ihm hierher geschrieben; Papa hätte sich sehr darüber gefreut und ließe ihm gratulieren zu den brillanten Resultaten in seinem Ressort.

Den Namen des Reg.-Rats Paschke erwähne aber nur Schlieckmann gegenüber vertraulich, vor dem andern verschweige ihn.

Selbiger Paschke, ein lebendiger und eifriger Mann, sagte mir, er traute den Liberalen jede Gemeinheit zu: Eskamotierung oder Vertauschung von konservativen Wahlzetteln oder absichtliche Beschmutzung (indem sie vorher ihre dreckigen und geölten Stiefel anfassen), wodurch sie ungültig werden. Winter, der alle städtischen Beamten für Rickert ins Feld führte, hätte zu Wahlkommissarien von den 35 für Danzig erforderlichen 30 liberale und 5 konservative ernannt, und der Wahlvorsteher kann bei einiger Geschicklichkeit oder Dreistigkeit sehr leicht noch bei der Zählung Wahlzettel unterschlagen. In Berlin wird es ebenso oder noch schlimmer sein. Paschke sagte mir: „Die Wahl ist öffentlich, deshalb können sich auch andere als die Wahlkommissare im Lokal aufhalten. Ich habe mir eine Abschrift von den Wählerlisten geben lassen, und in jedes Wahllokal werden 2 sichere konservative Männer mit diesen Listen als Überwachungskomitee gesetzt: Diese sehen 1) dem Wahlvorsteher auf die Finger, 2) kontrollieren sie, ob noch konserv. Wähler fehlen und lassen diese dann nachmittags durch an der Tür stehende Agenten (4-5 vor jedem Wahllokal) aus ihrer Wohnung zur Stimmabgabe abholen, jeder wird herangeschleppt, und die vorzüglich organisierten Katholiken werden dabei treffliche Dienste leisten, 3) passen sie beim Zählen der Wahlzettel auf, daß keiner zerrissen pp. wird. Außerdem ist allen Wählern gesagt: „Paßt auf, daß der Wahlkommissar, der den Stimmzettel abnimmt, reine Hände hat, sonst verlangt, daß er sich wäscht.“ —

Das ist eine gute Organisation! Bitte erzähle es an Seckendorff und Luckhardt pp. zur Nachachtung. —

Lebwohl nun,

Dein treuer HB.

II. Herbert von Bismarck an Graf Kuno zu Rantzau

Varzin, den 29. Oktober 1881

Lieber Kuno,

[] Bei den Stichwahlen zwischen Fortschritt und Sozialisten wäre es richtig, wenn alle Konservativen sich nicht etwa enthielten, sondern für den Sozialdemokraten stimmten. Papa sagt: „mit den Sozialisten können wir entweder paktieren oder sie niederschlagen, der jetzigen Regierung können sie niemals gefährlich werden. Der Sieg der Fortschrittler ist aber = Republik, in der die Regierung so geschwächt wird, daß der Staat zugrunde gehen muß.“ Lindau könnte in diesem Sinne, als von sich kommend, mit Luckhardt sprechen, damit dieser in jenem Sinne wirkt, und auch in die Provinzialpresse diesen Rat glissieren lassen. In der „Post“ und „Nordd.“ kann man es nicht aussprechen, und Papas Name muß nicht ins Spiel gezogen werden. Es wäre ihm aber erwünscht, wenn in den genannten Stichwahlen die Sozialisten über den Fortschritt siegten, z. B. in Berlin. Sprich bitte mit Lindau und sieh zu, was Ihr machen könnt![1] — Schließlich wünscht Papa noch, daß alle verlogenen Flugblätter der Fortschrittler gesammelt und z[u] d[en] A[kten] genommen werden.

Lebwohl nun,

Dein treuer HB.

Anmerkungen

[1] Rantzau fragte am gleichen Tage an, ob der Reichskanzler bei den Berliner Stichwahlen den Sozialdemokraten den Vorzug vor den fortschrittlichen Kandidaten gäbe. Herbert Bismarck wiederholte daraufhin am 30. Oktober: „Daß der Papa der Ansicht ist, nicht nur bei Stichwahlen, sondern generell seien Soz. Demokr. besser als Fortschritt, darf man mit Rücksicht auf die Attentate nicht aussprechen. Privatansichten sind aber frei, ich schrieb Dir gestern schon darüber.“ [Information aus: Herbert von Bismarck, Staatssekretär Graf Herbert von Bismarck. Aus seiner politischen Privatkorrespondenz, herausgegeben und eingeleitet von Walter Bussmann unter Mitwirkung von Klaus-Peter Holpke. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1964, S. 109.]

Quelle: Herbert von Bismarck, Staatssekretär Graf Herbert von Bismarck. Aus seiner politischen Privatkorrespondenz, herausgegeben und eingeleitet von Walter Bussmann unter Mitwirkung von Klaus-Peter Holpke. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1964, S. 107–09.

Herbert von Bismarck an „Wahlbeobachter“ in Danzig und Bismarcks Strategie gegen den Linksliberalismus (Oktober 1881), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/reichsgruendung-bismarcks-deutschland-1866-1890/ghdi:document-691> [23.04.2024].