Kurzbeschreibung

Das wachsende Klassenbewusstsein der Arbeiter führte zwar zu gemeinsamen Forderungen gegenüber den besitzenden Klassen; doch die Solidarität unter den Arbeitern galt nicht immer auch im Arbeitsalltag. Diese Schilderung aus einem Stahlwerk um 1880 veranschaulicht, dass Facharbeiter sich den ungelernten Arbeitern oder Taglöhnern überlegen fühlten. Hier nutzt ein Schlossermeister diese Unterscheidung am Zahltag, um mit seinen Leuten eine Schlange wartender Former zu überholen.

Hierarchische Abstufungen innerhalb der Arbeiterschaft eines Stahlwerks (ca. 1880)

  • Karl Fischer

Quelle

Wir Former und Tagelöhner waren die verachtetsten Arbeiter auf dem Werke, und die Schlosser nebst andern Vornehmgesinnten nannten uns höhnisch „Pottbäcker“ und die Steinfabrik „Pottbäckerih“, aber das war auch der ganze Verstand, den sie davon hatten. Und wenn Zahlung war, dann wurde in der Pförtnerbude, wo Alles durch mußte, ausbezahlt, das geschah immer nach Feierabend, und punkt sechs Uhr stand in der Regel der Kassirer mit dem Gelde schon parat in dem Zimmerchen der Bude, und wenn ein Meister mit seinen Leuten kam, dann trat er an die Thür und meldete sich bei dem Kassirer, dann ging das Auszahlen flott voran, denn das Geld war für jeden schon abgezählt und in dem Lohnzettel eingeschlagen und waren lauter kleine Paketchen, und auf jedem stand groß und deutlich der Name dessen, dem das Geld zukam, da nahm der Kassirer aus dem betreffenden Kasten eine Hand voll solcher Paketchen und trat an die Thür, wo der Meister stand, und rief laut den Namen aus, der auf dem ersten Päckchen stand, und so wie der Betreffende „hier“ rief, so gab der Kassirer das Paketchen dem Meister, der es dem Empfänger aushändigte, aber wenn sich Niemand meldete und „hier“ rief, dann legte der Kassirer das betreffende Paket zurück. Da kamen wir einmal zur Zahlung und kamen grade recht, denn eben war ein Meister mit seinen Leuten abgefertigt, da konnten wir alle gleich direkt in die Pförtnerbude hinein und unser Meister trat an die Thür und und meldete sich, da stellte der Kassirer unsern Geldkasten parat, und der Rechnungsführer, der hinter ihm am Tische saß, und statt unserer quittirte, der suchte unsere Liste hervor. Aber der Kassirer hatte das Auszahlen noch nicht begonnen, da kam der Obermeister aus der mechanischen Werkstatt mit seinen Leuten, und drängte sich gleich an die Thür und verdrängte unsern Meister, und als dieser ein wenig feststehn wollte, da fragte er ihn stolz: „Kommt die Steinfabrik vor der mechanischen Werkstatt?“ das genügte, daß unser Meister zur Seite trat, da mußten wir wieder aus der Bude heraus, damit die Schlosser hinein konnten.

Quelle: Karl Fischer, Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters, herausgegeben und eingeleitet von Paul Göhre. Leipzig, 1903. S. 312–13; abgedruckt in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hrsg., Deutsche Sozialgeschichte 1870–1914. Dokumente und Skizzen, 3. Aufl. München: C. H. Beck, 1982, S. 161–62.

Hierarchische Abstufungen innerhalb der Arbeiterschaft eines Stahlwerks (ca. 1880), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/reichsgruendung-bismarcks-deutschland-1866-1890/ghdi:document-541> [05.11.2024].