Kurzbeschreibung

Die Armut der Arbeiter und die Reform ihrer Lebensführung wurden zu Lieblingsthemen bürgerlicher Forscher, die generell meinten, Arbeiter müssten sich zur Verbesserung ihrer Situation lediglich nach bürgerlichen Tugenden richten. In diesen Passagen von 1884 und 1889 wird eine solche Tugend—Sparsamkeit—der angeblichen Genusssucht und Verschwendung der Arbeiter gegenüber gestellt. Theoretisch waren solche Ratschläge zwar plausibel; sie berücksichtigten aber weder den legitimen Wunsch der Arbeiter nach einem höheren Lebensstandard noch die Schicksalsschläge, die eine Familie mit niedrigem Einkommen unvermittelt heimsuchen konnten.

Unwirtschaftliche Lebensführung von Arbeitern, nach Berichten bürgerlicher Kritiker (1884 und 1889)

Quelle

I. „Bei der Arbeiterbevölkerung den Sinn für Sparsamkeit erwecken.“ Anweisungen der Direktion der Rheinisch-Westfälischen Pulver-Fabriken (1884)

Für das humanitäre Bestreben, das Los der arbeitenden Klassen besser zu gestalten, welches sich in der Neuzeit zu einer die Welt bewegenden Frage entwickelt hat, ist es eine Aufgabe von hervorragender Bedeutung, bei der Arbeiterbevölkerung den Sinn für Sparsamkeit zu erwecken. Der geschickte und fleißige Arbeiter erhält heutzutage bei voller Beschäftigung einen Lohn, der es ihm, wenn er mit seinen Bedürfnissen in den Schranken seiner sozialen Stellung bleibt, in glücklichen Tagen ermöglicht, etwas für schlechtere Zeiten zurückzulegen. Damit er aber hierzu übergeht, muß ihm die Gelegenheit geboten werden, auch geringere Beträge von seinem Verdienste, und zwar ehe er mit dessen Verwendung zur Bestreitung seiner Ausgaben beginnt, zu trennen und allmählich zu einem Sparfonds anzusammeln, und muß ihm hierbei, da er in solchen Dingen gewöhnlich unbeholfen und unbewandert ist, mit anregendem Rat an die Hand gegangen werden. []

Die Wirkung eines solchen Erfolges in wirtschaftlicher wie in moralischer Beziehung dürfte auf der Hand liegen. Der Arbeiter ist zunächst durch die Übung des Sparens vor Verschwendung und namentlich vor der Trunkenheit bewahrt worden, und hat dann später in seinen Ersparnissen einen Fonds, auf den er in schlechteren Zeiten zur Ergänzung seiner Mindereinnahme wegen etwaigen Verdienstausfalles zurückgreifen kann. Bleibt er von solcher Kalamität vollständig verschont, so besitzt er die Mittel, zur Hebung seiner wirtschaftlichen Lage irgendeine selbst mit einer größeren Ausgabe verbundene Anschaffung zu machen. Er hat dabei das Bewußtsein, das kleine Vermögen, welches er besitzt, seiner Arbeit zu verdanken, und nimmt ein unwillkürliches Gefühl in sich auf, das ihm sagt, daß seine Arbeit lohnend ist und einen Wert für ihn hat. Hierdurch wird er anhänglicher an seine Arbeitsstätte und weniger empfänglich für die agitatorischen Verhetzungen, indem er beispielsweise an sich selbst das Schlagwort „von den Enterbten“ widerlegt findet.

II. Unwirtschaftliche Lebensführung? Eine Stellungnahme aus der sächsischen Industrie (1889)

Die Lebenshaltung der Bevölkerung, hier insbesondere der Arbeiterbevölkerung, scheint uns immer noch vielfach nicht den Geboten der Vernunft zu folgen, ein gegenseitiges Überbieten in prunkvoller Kleidung und im leiblichen Genusse macht sich unangenehm bemerkbar, womit die Klagen über den zu geringen Anteil am Erträgnisse der Arbeit seltsam kontrastieren. Die häufig zu hörenden Auslassungen über Verteuerung des Brotes und der Lebensmittel durch Zölle u.s.w. richten sich nicht auf jene Genußmittel, die für viele eine weit bedeutendere Ausgabe verursachen als Brot und anderes nötige. Wenn man die überfüllten Tanzsäle sieht, wenn man beobachtet, wie im Winter und Sommer Festlichkeit auf Festlichkeit und Vergnügen auf Vergnügen sich drängt, und die Leute dabei in manchen Wirtschaften z.B. für Bier geradezu horrende Preise bezahlen und dasselbe in Quantitäten genießen, die eine Ausgabe verursachen, mit welcher die Familie hätte können nicht einen Tag, sondern mehrere leben, so erscheint die ganze Lage allerdings trostlos. Hierin liegt das wahre Elend.

Quelle: (I.) Quelle: Rundschreiben an die Fabrikleitung, 19. April 1884, in Amtliche Mittheilungen aus den Jahres-Berichten der mit der Beaufsichtigung der Fabriken betrauten Beamten, Jg. 9 (1884). Berlin: 1885, S. 687–88; abgedruckt in Klaus Saul, Jens Flemming, Dirk Stegmann und Peter-Christian Witt, Hrsg., Arbeiterfamilien im Kaiserreich. Materialien zur Sozialgeschichte in Deutschland, 1871–1914. Düsseldorf: Droste, 1982, S. 112–13. (II.) Jahres-Bericht der Handels- und Gewerbekammer zu Chemnitz 1889. Chemnitz: 1890, S. 124; abgedruckt in Klaus Saul, Jens Flemming, Dirk Stegmann und Peter-Christian Witt, Hrsg., Arbeiterfamilien im Kaiserreich. Materialien zur Sozialgeschichte in Deutschland 1871–1914. Düsseldorf: Droste, 1982, S. 112.

Unwirtschaftliche Lebensführung von Arbeitern, nach Berichten bürgerlicher Kritiker (1884 und 1889), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/reichsgruendung-bismarcks-deutschland-1866-1890/ghdi:document-554> [25.04.2024].