Quelle
Ihre wohlwollend eindringende Auffassung einiger von mir in Zeitschriften veröffentlichen Dorfgeschichten war die Veranlassung, daß ich der so eben erschienenen Gesammtdarstellung keine Vorrede vorausschickte; es war mir eine wahrhafte Erquickung, mich in meinen Bestrebungen so von einem Manne erkannt zu sehen, den ich persönlich nicht kenne. Dennoch möchte ich sowohl Ihnen als dem Publikum noch Manches über das genannte Werk sagen, und ich wähle hierzu die Form eines offenen Briefes.
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Vorreden spart Nachreden
sagt ein gutes deutsches Sprichwort, und es sollen daher den Dorfgeschichten ein Paar einleitende Worte vorausgehen. Fern von ihrem Schauplatze sind diese Darstellungen aufgenommen und ausgeführt worden; der Leser möge beurtheilen, ob Standpunkt und Ton der richtige. Einer Seits nicht mitten aus dem Bauernleben heraus, anderer Seits nicht vom städtischen Gesichtspunkte befangen, diese Lebensbilder vor Augen zu stellen, war mein Bestreben; so auch glaubte ich, sollten sowohl Städter als Landbürger sich ihnen mit Interesse zuwenden können. Die Eigenthümlichkeiten des Dialekts und der Redeweisen sind daher nur in so weit beibehalten, als das wesentliche Gepräge derselben damit dargethan wird. Ich habe mich fast immer als mündlich erzählend gedacht; die Ereignisse stehen als geschichtliche Thatsachen da. Daher mußte es kommen, daß hin und wieder manche Lebensregel und allgemeine Bemerkung eingestreut wurde.
Ich habe absichtlich nicht in eine geschichtliche Vergangenheit zurückgegriffen, obgleich eine solche freieren Spielraum zu phantastischen Gebilden und zur Anlehnung an große Ereignisse geboten hätte; alle Seiten des jetzigen Bauernlebens sollten hier möglichst Gestalt gewinnen. Zunächst verfolgte ich damit nicht die Tendenz, in irgend einem Bereiche Mißbräuche, Irrthümer und dergleichen abzustellen; ergibt sich eine solche Nothwendigkeit aus den vorliegenden Erzählungen, so wird mir das eine freudige Genugthuung seyn. Daß Mißstände des katholischen Klerus berührt wurden, liegt einzig in der Örtlichkeit. Ich verwahre mich ausdrücklich dagegen, als ob solche nur im katholischen Klerus stattfänden; in protestantischen Gegenden finden sich andere in anderen Erscheinungen. Das religiöse Leben, hier zunächst als kirchliches, bildet ein Grundelement im deutschen Volksthume; es ist das historische Bewußtseyn des Unendlichen, in seiner Ganzheit feststehend, den Karakter erfüllend. Macht sich hier auch bereits das individuelle Bewußtseyn geltend, erheben sich Einzelne über die gegebenen Formen, so geben diese doch noch im Allgemeinen den Karakteren das wesentliche Gepräge. Frivol ist es daher, im Bauernleben den religiösen Grundzug zu ignoriren, und poetisch unwahr obendrein.
In den Ländern der Zentralisation, der geschichtlichen Einheit und Einerleiheit, kann der Dichter weit eher Nationaltypen aufstellen. Engländer, Franzosen, sind unter denselben Gesetzen, ähnlichen Lebensbedingungen und geschichtlichen Eindrücken aufgewachsen; ihr Karakter hat nicht bloß in der Richtung auf das Allgemeine, sondern auch in Einzelheiten, in Gewohnheiten, Ansichten etc. etwas Gemeinsames. Wir aber, durch die Geschichte getrennt, stellen weit mehr die Ausbildung des Provinziallebens dar. Die aus dem Volksthume genommene Poesie wird sich daher, ähnlich der neueren Richtung geschichtlicher Forschung auf das Provinzielle, immer mehr lokalisiren müssen. Wie wir die Einzelheit politisch auszubilden haben, so haben wir auch poetisch diese Aufabe; das Bewußtseyn der Vereinigung und Einheit muß hindurchgehen, und so auch hier ein in sich gegliedertes Leben sich herausstellen. Durch die Länderarrondirungen ist das Provinziale freilich vielfach zerschnitten, aber noch steht der Kern desselben fest.
Ich habe ohne Scheu ein bestimmtes Dorf, meinen Geburtsort genannt. Nach Nachrichten von dort ist die früher veröffentlichte Erzählung: „Die Kriegspfeife“, in das Anzeigeblatt: Der Schwarzwälder-Bote aufgenommen worden; die Bauern sind nun über mich höchlichst ergrimmt und sagen: das sei Alles erlogen und ich hätte sie lächerlich machen wollen. Man sieht, daß man in höheren wie in niederen Kreisen gern einen fingirten Schauplatz für Darstellungen aus der Gegenwart verlangt. Ich halte es aber für Pflicht, daß wir, je mehr wir dem Leben nahe treten wollen, auch ohne Zagen ein Wirkliches zum Schauplatz der Darstellungen wählen und mit Namen nennen. Durch den historischen Roman suchte man den realen Boden zu gewinnen, und hier durfte der Dichter ohne Scheu einen bestimmten Ort nennen. Dieß Letztere ist aber auch nicht minder bei Darstellungen aus der Zeit anzuwenden; dadurch wird das Zeitbild zum historischen. Die neuere Volksdichtung kann damit zugleich mit Bewußtseyn aufgreifen und fortsetzen, was ehedem die Sage in rein naiver Weise that, indem sie bestimmte Orte mit ihren Gebilden umwob.
Ich habe es versucht, ein ganzes Dorf gewissermaßen vom ersten bis zum letzten Hause zu schildern; die vorkommenden Sitten und Gebräuche sind dem wirklichen Leben entnommen, so wie auch die Lieder aus keiner gedruckten Sammlung, sondern, so viel mir bekannt, bisher noch ungedruckt sind.
Neunzehn Jahre sind es, seitdem ich Dich verlassen, Du stiller Heimathsort, um Bahnen zu wandeln, die weit über Deine umfriedete Gemarkung hinausführen; der stille Zug der kindlichen Liebe hat meinen Geist wieder zu dir zurückgelenkt und mit namenlosen Bewegungen hieß ich die fast verklungenen Töne wieder erstehen. Vor meinem Fenster wallt der mächtige Rhein, diese Pulsader Deutschlands; ein glänzender Lichtstreif zieht sich, wie ein silbernes Band, von jenseits herüber, die Wellen zittern und glitzern im Mondlicht. Die Wellen des Neckars, die dort oben an meinem Heimathsorte vorbeirauschten – der große deutsche Strom hat sie freudig aufgenommen und trägt sie hinab in das Meer. – So mögen auch diese Gebilde, die ich hinaus sende ins Vaterland, aufgehen in dem Strom deutschen Lebens als eine bescheidene Welle, den heimischen Bergen entsprungen.
Mainz. Berthold Auerbach
Quelle: Berthold Auerbach, „An J. E. Braun vom Verfasser der Schwarzwälder Dorfgeschichten“, in Europa, Chronik der gebildeten Welt, herausgegeben von August Lewald. Vierter Band. Karlsruhe und Baden, 1843, S. 33–36; abgedruckt in Max Bucher, Werner Hal, Georg Jäger und Reinhard Wittmann, Hrsg., Realismus und Gründerzeit: Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848–1880, 2 Bände. Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1975, Band 2, S. 148–51.