Quelle
III. Stadt und Land.
Erstes Kapitel.
Örtliche Gruppen der Gemeindebildung in Deutschland. Natürliche und künstliche Städte. Die großen Städte.
Das Bestehen des Gegensatzes von Stadt und Land galt im Anfang unseres Jahrhunderts für eine so ausgemachte und gemeine Wahrheit, daß es ein politischer Kopf gar nicht der Mühe wert hielt, davon zu sprechen.
Jetzt ist die Behauptung, daß es in Deutschland noch Stadt und Land gebe, auf der einen Seite ein politischer Glaubenssatz geworden, auf der andern eine Ketzerei. Ich glaube noch an Stadt und Land, nicht darum, weil mir das in mein politisches System paßt, sondern weil ich doch wohl glauben muß, was sich als eine Tatsache täglich vor meine Sinne drängt.
Es gibt aber allerlei Stadt und Land in Deutschland, und die Stufen dieses natürlichen Gegensatzes sind so reich, so vielverschlungen, daß der einseitige Beobachter wohl glauben kann, Stadt und Land sei gar nicht mehr vorhanden.
Schon die geographische Vielgestalt der deutschen Landstriche wirkt bestimmend auf den Gegensatz von Stadt und Land. Städte und Dörfer gliedern sich hier nach großen Gruppen, die durch unverlöschliche Naturunterschiede, durch das Fundament der Bodenbildung auseinander gehalten sind. Der Wechselbezug von Land und Leuten ist auch hier als ein notwendiger gegeben, der durch historische Tatsachen, durch den politischen Gang der Nation in seinen äußeren Formen wohl mannigfach verändert, nicht aber in seinen Grundfesten erschüttert werden kann.
Im Hochgebirge, wo die Wildnis Herr ist, wo für Wald und Feld ewige Marken durch die Natur gesetzt sind, herrscht das Land über die Stadt; auch die vereinzelten Städtchen sind meist nur große Dörfer. Wo Felsen und Abgründe Dorf von Dorf, Hof von Hof scheiden, da kann es in alle Ewigkeit nur Bauern geben, keine Bürger. Wo der Nachbar dem Nachbarn den nächsten Besuch vom Herbst aufs Frühjahr zusagt, „wann das Gebirg wieder offen ist“, da wehrt die Natur die Städtebildung. Das Dorf selbst erscheint hier oft noch in seiner Urform als eine Gruppe vereinzelter Höfe. Ja der einzelne Hof, die „Einöde“, wie man‘s im Süden nennt, muß nicht selten eine ganze Gemeinde darstellen. Diese „Vereinödung“ der Wohnsitze aber prägt den Leuten einen ganz bestimmten sozialen Charakter auf. Der Einödenbauer ist der Urbauer: der Welt verschlossen, in seinen Sitten erstarrt, in Bildung und Bedürfnissen zurückgeblieben, von Herz und Faust ein ganzer Mann, politisch aber ein unmündiges Kind. Die Einöde hat auch so gut ihr besonderes moralisches Gesicht, ihre erbgesessenen Laster eigenster Art wie die große Stadt.
Es ist diese Zone der reinen Bauernlandschaften aber keineswegs klein in Deutschland. Sie erstreckt sich über einen großen Teil von Tirol, Ober- und Unterösterreich, Steiermark, Kärnten, das bayerische Hochland, über die höheren, minder kulturfähigen Gegenden fast aller deutschen Mittelgebirge, über die Marschländer an den Nord- und Ostseeküsten. In allen diesen Strichen erscheint das Volk in seinem reinsten, aber auch rohesten Naturwuchs; sie stechen gegen das übrige Deutschland ab wie Waldland gegen Feldland, wie unwegsames gegen verkehrsreiches; sie sind arm an historischen Denkmalen, das Volk selbst mit seinen Höfen, Dörfern und Gemeinden ist dort das einzige Denkmal dieser Art. Die Kunstgeschichte zog zu allen Zeiten, wie die Geschichte des Handels und der Industrie, den Flüssen und Ebenen nach, sie steigt nicht gern in das Innere der Gebirge. Das kunstreichste Gewerbe selber wird in jenen Gebirgsgegenden zu einer Bauernarbeit, wie auf dem Schwarzwald, im Erzgebirge, in den bayerischen Alpen, in Tirol. Denn die dortigen Uhrenmacher, Spitzenklöppler, Geigenmacher und Holzschnitzer sind im ganzen sozial vollgültige Bauern, und wenn ihre Hand auch niemals einen Pflug berührte.
Steigen wir tiefer hinab in das Hügel- und Hochflächenland des Südens und in die großen offenen norddeutschen Ebenen, so finden wir hier große, echte Dörfer neben ansehnlichen, zum Teil großen Städten von gleich bestimmtem städtischem Gepräge und zugleich die reichsten geschlossenen Rittergüter, den bedeutsamsten, am besten erhaltenen Überrest der Sitze des alten Landadels. Hier liegt Stadt und Land aufs bestimmteste gesondert nebeneinander. Diese Ländermassen bilden das Hauptgebiet der größeren deutschen Staaten, namentlich Österreichs, Preußens und Bayerns. Hier liegt eine große Zahl der wichtigsten alten Reichs- und Hansastädte, in denen das eigentümlichste Bürgerleben samt zahlreichen Trümmern, wenn auch nicht mehr uralten Sonderrechtes, so doch daraus erblühten Herkommens heute noch fortbesteht. Hier sind aber zugleich auch die großen Kornkammern Deutschlands, und in den großen und reichen Dörfern dieser weiten Fruchtländer hat sich die spätere Dorfgemeindeverfassung und Sitte und Lebensart des echten deutschen Dorfbauern am gründlichsten durchgebildet. Der gesellschaftlich originellste unter diesen Landstrichen, Westfalen, zeigt uns, wie die verschiedensten Formen der Siedelung in Bauernhöfen, Herrengütern, Dörfern und Städten nebeneinander bestehen und doch der Gegensatz von Stadt und Land aufs strengste gewahrt bleiben kann. Im Norden der Lippe sitzen hier noch die Hofbauern, im Süden die Dorfbauern; neben den Gemeinden der ehemals freien, echt aristokratischen Hofbauern gibt es Gemeinden, die ihr Verhältnis zu dem adligen Gutsherrn noch immer aus alter Gewohnheit und Anhänglichkeit aufrecht erhalten, wenn sie auch das Gesetz nicht mehr dazu zwingt; neben ehemaligen Reichsstädten liegen ehemals reichsfürstliche und moderne Fabrikstädte; bei allen hat sich der individuelle Charakter lebendig erhalten, aber der große Gegensatz zwischen Stadt und Land ist darum nirgends verwischt.
Wesentlich anders ist es in Mitteldeutschland und dem Südwesten, dem Paradies der deutschen Kleinstaaterei. Hier zeigt sich in der Tat eine mit Riesenschritten fortschreitende Ausgleichung der Unterschiede zwischen Stadt- und Landgemeinden. Nur die höheren Gebirgsstriche, deren ich schon oben gedacht, sind auch hier auszunehmen. Die sozialen Gleichmacher nehmen dann gern diesen kleinen Teil für das Ganze und schreiben ganz Deutschland zu, was doch nur von diesem Kleindeutschland im engsten Sinne gilt.
In den großen Ländermassen Süd- und Norddeutschlands hat der Dreißigjährige Krieg die Städte nachhaltiger heruntergebracht als die Dörfer. Der mecklenburgische, pommersche, altbayerische Bauer ist heute noch eine gewichtigere soziale Macht als die Bürger dieser Landstriche, deren Kleinstädte oft soziale Ruinen geblieben sind. In dem zerstückelten Mitteldeutschland dagegen, wo obendrein der Bauernkrieg dem Dreißigjährigen vorgearbeitet hatte, wo beim Kampf der vielen kleinen Reichsstände um die Souveränetät die Kleinstädterei die beste Hege und Pflege fand, blühten die Städte zuerst wieder auf. Krüppelhaft genug war zwar diese Blüte in der armseligen Perücken- und Zopfzeit: allein die zahlreichen Fürsten- und Bischofsstädte bildeten doch immerhin den bestimmenden Mittelpunkt von hundert winzigen Gebieten. So beherrschten hier die kleinen Städte das 18. Jahrhundert; die großen werden das 19. beherrschen. Dieser Satz wird am einleuchtendsten bei einem Blick auf die Geschichte Mitteldeutschlands.
Eine der traurigsten Folgen des Dreißigjährigen Krieges besteht überhaupt meines Dafürhaltens darin, daß in so vielen deutschen Gauen das richtige Verhältnis zwischen Stadt und Land verschoben, ein einseitiges Vorwiegen zuerst der kleinstädtischen, dann der großstädtischen Interessen über die Interessen des Landvolkes möglich gemacht, und so eine in sich hohle, aller Naturkraft bare Blüte des städtischen Lebens geschaffen worden ist neben einer im Kern zwar gesunden, aber in ihrem materiellen Bestand zurückgeschobenen, sozial und politisch vereinsamten Landbevölkerung.
Nach dem Westfälischen Frieden traten in Mitteldeutschland all die traurigen Anzeichen ein, welche die vollendete Parzellierung der meisten Bauerngüter und damit die Zerstörung der bäuerlichen Macht verkündigen. Es verschwindet zuerst die starke Pferdezucht, die große geschlossene Güter voraussetzt. Dann nehmen die Zugochsen ab, dann die Kühe, und zuletzt bleiben nur noch die Ziegen übrig als das eigentliche Haustier des vierten Standes, welches man, ohne eigenen Besitz, auf den Ödungen, an den Grasrändern der Wege und, wenn die Armseligkeit vollendet ist, in den grasbewachsenen Gassen der Dörfer und Städtchen vagabundierend weiden lassen kann.
Noch bedenklicher aber erscheint es, daß hier seit dem Dreißigjährigen Kriege die Zahl der Familien in den Dörfern häufig gewachsen, die Häuserzahl aber vermindert ist. Vor jener Zeit wohnte fast jede Familie im eigenen Haus, jetzt wohnt bereits eine bedeutende Zahl zur Miete. Zur Miete wohnen ist aber durchaus nicht bäuerlich; in einem rechtschaffenen Dorfe muß jede Familie ihr eigenes Haus allein bewohnen und wäre es auch nur eine Hütte. So wie Mietsleute in die Häuser ziehen, zieht auch die Stadt aufs Land.
Wenn man zum Beispiel am Mittelrhein eine ganze Reihe von Ortschaften findet, bei denen sich‘s gar nicht mehr genau unterscheiden läßt, ob sie eigentlich Städte oder Dörfer sind, so sind das Zwittergestalten, die der Teufel gesegnet hat, Denkmale politischer Ohnmacht und sozialer Erschlaffung, Urkunden für die Ausgelebtheit des Landes und die Widernatürlichkeit seiner Zustände. Solche Dorfstädte sind dann in der Regel nicht der Sitz von Bürgern und Bauern nebeneinander, sondern vielmehr von bürgerlichen und bäuerlichen Proletariern. „Wenn alle Bauern der Stadt in den Acker gegangen sind, dann ist kein Bürger mehr zu Hause.“
Mit den ruinierten Dörfern stehen in den süd- und mitteldeutschen Kleinstaaten zusammen die künstlichen Städte. Nirgends gibt es so viele „künstliche Städte“, die man, der Natur und Geschichte trotzend, dem Lande zu Stapelplätzen des geistigen und materiellen Verkehrs aufgezwungen hat, als in Deutschland, nirgends so viele Städte, welche eine Bedeutung ertrotzen und erheucheln, zu der sie nicht berechtigt sind, welche durch die Launen einzelner oder auch auf Grund verkehrter Staatskunst zu reinen Treibhausblüten entwickelt wurden und werden. Diese künstlichen Städte haben überall die natürlichen Bahnen des Handels und der Industrie verrückt, sie haben den wirtschaftlichen Schwerpunkt mit dem politischen in Widerstreit gebracht und dadurch nicht wenig die Grundfesten des materiellen Flores der Nation erschüttern helfen. Wohin sich unser Blick auf der Karte Deutschlands wendet, da sehen wir uralte Knotenpunkte des Handels und Gewerbes in die Ecke geschoben, während man daneben Städte zu Landesmittelpunkten gemacht und mit dem Aufgebot aller künstlichen Hilfsquellen in die Höhe getrieben hat, welche ihrer ganzen Lage gemäß höchstens ein Recht hätten, als Dörfer oder Landstädte zu figurieren. Das Kapitel von den künstlichen Städten ist wichtiger, als man glauben mag, denn es rührt an den wundesten Fleck unsrer verschrobenen Staatenbildung, es hängt ganz eng zusammen mit dem großen Kapitel von unsrer materiellen Ohnmacht und Zersplitterung und weiß beiläufig von einer furchtbaren Summe tiefbegründeten Grollens und Schmollens zu erzählen.
In den Jahren 1848 und 49 war Rheinhessen vorzugsweise demokratisch gestimmt. Diese Provinz aber würde wohl ganz andern Geist behauptet haben, wenn man Mainz nicht bei der Anlage der Taunus- und Main-Neckar-Eisenbahn zu Gunsten des künstlichen Landesmittelpunktes, nämlich Darmstadts, in die Ecke geschoben hätte. Ähnliche Tatsachen wird man bei fast allen natürlichen Stapelplätzen des Handels und Verkehrs behaupten können, und es knüpft sich daran eine Kette beachtenswerter Erfahrungen, die wir in den letzten Jahren zu machen Gelegenheit hatten. Es ist ein tiefgehender Haß, eine fort und fort in aufreizendem Kleinkriege begriffene Eifersucht der natürlichen historischen Städte gegen die künstlichen, dem ganzen Zuge der Geschichte ins Gesicht schlagenden, in unsrer revolutionären Bewegung (1848) durchgebrochen. In manchen kleineren Ländern lief der Freiheitsdrang weit mehr hinaus auf eine Erlösung des Landes von der Last seiner künstlichen Hauptstadt, als von allen den Lasten zusammengenommen, die man von dieser Hauptstadt aus seit Menschenaltern dem Lande aufgebürdet hatte. Hiemit hängt die auffallende Wahrnehmung zusammen, daß an so vielen alten Sitzen der Industrie und des Handels nicht etwa bloß unter dem Proletariat, sondern gerade unter den begüterten Geschäftsleuten der Radikalismus herrschte, daß namentlich in vielen ehemaligen Reichsstädten, die vor allem die Wiege des echtkonservativen deutschen Bürgerstandes gewesen, jetzt die auflösenden modernen Gesellschaftslehren am leichtesten Eingang fanden. Der alte Groll über die Stiefmutterliebe, welche der moderne Staat dem materiellen Flor dieser Städte erwiesen, hatte in der politischen Bewegung einen neuen Zündstoff gefunden und so jene wunderliche Verkehrtheit der Parteibildung erzeugt, derzufolge der besitzende, gediegenste Bürger mit den heimat- und besitzlosen Aposteln des Umsturzes Hand in Hand ging.
Wenn ich von künstlichen Städten und künstlichen Landesmittelpunkten rede, dann denke ich etwa an Karlsruhe im Gegensatz zu Mannheim, Konstanz u. s. w., an Stuttgart im Gegensatz zu Eßlingen, Reutlingen, Heilbronn u. s. w., an Darmstadt im Gegensatz zu Mainz und Frankfurt, an Wiesbaden im Gegensatz zu Limburg, an die Hauptstädte der deutschen Nordweststaaten im Gegensatz zu Hamburg, Lübeck und Bremen – und so fort durch fast aller Herren Länder. Es beruht aber die in Rede stehende Naturwidrigkeit und Verschrobenheit bei den künstlichen Städten nicht etwa darin, daß sie überhaupt als Städte existieren – denn viele derselben sind uralt – auch nicht darin, daß sie zufällig Residenzen sind, was sich meinetwegen auch auf lange Jahrhunderte zurückdatieren mag, sondern einzig und allein darin, daß man diese Städte künstlich zu Verkehrsmittelpunkten, zu Industriesitzen, zu großen Städten hat hinaufschrauben wollen. Wir finden bei den künstlichen Städten ganz dasselbe Verhältnis wie bei den Kleinstaaten, die wohl das Recht hätten zu leben, wenn sie nur nicht als Großstaaten leben wollten. Und in der Tat sind die künstlichen Städte die rechten Stützpunkte und Strebepfeiler der Kleinstaaterei, denn beide haben gleiche Ursache, sich vor jeder naturgemäßen Reform unsrer nationalen Zustände zu fürchten.
[…]
Quelle: Wilhelm Heinrich Riehl, Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik. Erster Band, Land und Leute. Stuttgart und Tübingen: J. G. Cotta’scher Verlag, 1854, S. 61–69. Online verfügbar unter: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10771627?page=6