Kurzbeschreibung

Diese Schilderung dokumentiert die raschen sozioökonomischen und baulichen Veränderungen einer kleinen norddeutschen Ortschaft bei Lübeck. Deutlich zu beobachten ist das Anwachsen der Fabrikarbeiterschaft, der Ausbau von städtischer Infrastruktur und Massenunterkünften und sogar die Umkehrung des Naturalienhandels, der nun von den städtischen Verteilerzentralen in die Dörfer lief, die inzwischen kaum mehr als Vororte waren. In diesem Auszug wird das Gefühl von geistigem und kulturellem Verlust inmitten dieser Veränderungen ausgeglichen durch ein realistisches Eingeständnis des Profitstrebens und dessen Macht, Veränderungen selbst in angeblich rückständigen Verhältnissen zu beschleunigen.

Verstädterung des Landlebens bei Lübeck seit 1870 (Rückblick, 1927)

  • Karl Scheffler

Quelle

Bald nach dem deutsch-französischen Kriege und nach der politischen Einigung der deutschen Staaten begann eine Wandlung. Zuerst war die Veränderung kaum merkbar, weil das in Jahrhunderten langsam Gewordene Widerstandskraft hatte. Im ersten Jahrzehnt nach dem Kriege sah es in der Stadt und im Dorfe nicht viel anders aus als vorher. Dann aber setzte das Neue sich um so schneller und vollständiger durch. Jedes Jahr brachte Veränderungen, und bald konnte sich keiner mehr den neuen Lebensbedingungen entziehen. Im Dorfe sogar spürte man die Baulust, die jenen Jahren eigen war. Zuerst wurden weiter oben am Flusse einige große Fabriken gebaut. Sie standen zunächst ganz kurios da mit ihren hohen Ziegelschornsteinen inmitten der Viehweiden. Aber es dauerte nicht lange, bis daneben Häuser entstanden, die zu dem Fabrikstil paßten, bis das Grün der Weiden unter großen Haufen von Kohlen, Schutt und Abfall verschwand. Mit den Fabriken kamen Menschen ins Dorf, die dort früher nie zu sehen gewesen waren, es sei denn in Feiertagskleidern als Ausflügler. Es waren Scharen jener Arbeiter und Arbeiterinnen, die sich von den ländlichen und handwerklichen Arbeitern auf den ersten Blick unterschieden, weil sie nichts gelernt hatten als ein paar Handgriffe, weil kein Berufsgeist in ihnen war, weil sie zur Klasse derer gehörten, die in der Folge Proletarier genannt worden sind. Da der Weg zur Stadt weit war, stellte sich bald das Bedürfnis heraus, für diese Arbeiter im Dorfe selbst Wohnungen zu schaffen. Und da etwas Passendes nicht vorhanden war, entstanden die ersten ärmlichen Mietquartiere. Einsam im Felde erhoben sich hohe, kahle Stockwerkshäuser, in denen arme Familien schmutzig und ohne Behagen nebeneinander hausten, ein ungepflegter, schnell verwahrlosender Hof schloß sich an. Die Häuser und der Raum zwischen ihnen wimmelten von Kindern. Aber es waren Kinder einer neuen Bevölkerung. Die Armut dieser Menschen war eine andere als die Armut der dörflichen Hofarbeiter, ihr Schmutz war ein anderer, es war alles häßlicher und in der Häßlichkeit frecher. Die Industriearbeiter erschienen verkommen, auch wenn es ihnen ganz ordentlich ging; waren sie aber wirklich arm, so schien es, als sei die übelriechende Armut ihre eigenste Umwelt. Die Männer waren nicht erzogen von einem bestimmten Berufsgeist, die Frauen waren nicht Hausfrauen und Mütter, und die Kinder waren kleine Landstreicher, die in den Gärten Obst stahlen und das Korn auf den Feldern zertraten. Asche und Kehricht war verstreut, mitten im keimenden Roggen lagen rostige Blechdosen, altes Emaillegeschirr, zerbrochene Töpfe und Küchenabfall.

Die Stockwerkshäuser brauchten besondere Anlagen für Licht, Wasser und Kanalisation, weil die Zusammenballung vieler Menschen in einer Wohnkaserne eine gewisse Sorge für die Volksgesundheit erfordert. Es wurden diese neuen Häuser darum mit Wasserleitung und Gasleitung versehen. Das ganze Dorf wurde umgewühlt, um Anschluß an die weiter flußabwärts gelegenen Hauptrohre zu gewinnen. Als die Leitungen dann aber einmal lagen, ging man gleich auch zur Gasbeleuchtung der Straßen über. Und es kam schnell die Überzeugung auf, eine Wasserleitung im Hause sei bequemer als eine Pumpe im Hofe, und Gas sei vornehmer als Petroleum. Die alten Dorfbewohner ergriffen die Gelegenheit und sprachen vom Fortschritt der Zeit. Sie begannen zu überlegen, ob sie ihren im Preis bedeutend gestiegenen Boden nicht besser ausnutzen könnten, ob sie ihr einstöckiges Bürgerhaus nicht niederreißen und an seine Stelle ein Mietshaus mit vielen Wohnungen und Stockwerken aufführen lassen sollten. Der Geist der Spekulation erwachte. Für jene Arbeiter- und Mietshäuser mußten neue Straßen angelegt werden. Sie konnten naturgemäß nur auf den Wiesen und Feldern angelegt werden, die den Bauern gehörten. Wie ja auch die Fabriken auf altem Weideboden entstanden. Der Boden mußte also den Bauern abgekauft werden. Und diese verstanden die heraufkommende Zeit, sie waren geschickt genug im Rechnen, um die Preise zu treiben. Da sie zudem in der Gemeinde Einfluß hatten, unterstützten sie eine Politik, die die Ansiedlung neuer städtischer Bevölkerungsteile förderte; sie taten, wo immer sie ihren Vorteil sahen, was in ihrer Kraft stand, um den ländlichen Grundbesitz in Bauplatz und Straßenland zu verwandeln. Ihr Weizen begann im großen dann zu blühen, als sie überhaupt keinen Weizen mehr zu bauen brauchten, als nämlich die Regierung den Plan faßte und durchführte, in der Umgebung des Dorfes ein Zentralkrankenhaus zu errichten, einen weitläufigen Komplex von Gebäuden und Baracken, von Straßen, Beamtenwohnungen, Gärten und Parkanlagen, und als die Regierung den Bauern zu diesem Zweck viele Äcker und Felder abkaufte. Verhältnismäßig wohlhabend waren die Bauern schon vorher gewesen, jetzt wurden sie reich und wußten mit dem Reichtum nichts Rechtes zu beginnen. Sie verloren zuerst ihre Tätigkeit. In den Pferdeställen standen nur noch ein paar Kutschpferde; die Kühe wurden verkauft, weil es keine Weiden mehr gab; die Kornböden blieben leer, weil nichts mehr zu ernten war. Die Höfe lagen tot da, die Knechte waren bis auf wenige entlassen, die Hofarbeiter hatten sich anderswo, bei der Gemeinde oder in den Fabriken, Beschäftigung suchen müssen, und die Bauern gingen auf ihren weitläufigen Besitzungen umher, ohne mit sich selbst etwas anfangen zu können. Wie aber aus dem Müßiggang die Willkür entspringt, so kam es den reich gewordenen Bauern nun in den Sinn, sie könnten und müßten die vornehmen Herren spielen. Sie fingen an, sich ihres bäuerlichen Wesens zu schämen. Es begann damit, daß sie sich neben ihr großes strohgedecktes Bauernhaus ein steinernes Wohnhaus bauten. Das war nicht mehr ein ländliches Haus, sondern es war eine Villa, von einem städtischen Architekten, der frisch aus dem Polytechnikum kam, nach der letzten Architekturmode entworfen. Zuweilen aber wurde dieses neue Haus auch an die Stelle der Wohnräume im alten Bauernhaus gesetzt. Die Diele mit den Ställen blieb dann stehen, das Strohdach aber wurde als Schieferdach fortgesetzt; und darunter entfaltete sich nach Kräften der Wohnkomfort der Neuzeit. Am beliebtesten freilich war die freistehende Villa mit Palastfenstern, Freitreppe, Loggia, Säulen, Ornamenten, Schieferdach und Turm. Ringsherum legte der Landschaftsgärtner einen Ziergarten an mit geschlängelten Kieswegen, Tulpenbeeten und viel Gebüsch. Der alte Bauerngarten wich der neumodischen Anlage. Blieb dann noch ein Stück Gartenland übrig, so wurde es parzelliert und als Bauplatz für Mietswohnungen verkauft. Woraus sich ergab, daß neben der Villa des reich gewordenen Bauern geteerte Brandgiebel steil in die Höhe gingen, und daß die alten Strohdächer in der neuen Umgebung ganz unwahrscheinlich anmuteten. []

Es dauerte nicht viele Jahre, bis sich der Charakter des Dorfes von Grund auf geändert hatte. Aus dem Ackerdorf war, da die Stadt ihre Arbeitermassen nun an das Dorf abzugeben begann, ein mit der Stadt immer mehr verwachsener Vorort geworden. Früher ernährte das Dorf die Stadt, indem es Gemüse, Milch, Fleisch und Korn lieferte, jetzt mußte umgekehrt die Stadt das Dorf ernähren. Die Gemüsewagen fuhren nicht mehr vom Lande in die Stadt, sondern von den Märkten der Stadt holten die Gemüsehändler des Dorfes ihre Ware. Es wurde eine Pferdebahnlinie eingerichtet; nach zehn Jahren aber reichte sie nicht mehr aus; es wurden elektrische Leitungen gelegt, und die Straßenbahnwagen rollten in schneller Folge auf mehreren Linien hin und her. Sie fuhren an einer ununterbrochenen Reihe von Häusern vorbei, an Läden und Geschäften mit grellen Reklametafeln und an kleinen Villen; denn die Zahl derer, die ein eigenes Haus bewohnen konnten, mehrte sich jährlich. Wo sonst an der Stelle des alten Schlagbaums der Dorfkrug gewesen war, da standen jetzt mehrere Tanzsalons. Dort versammelte sich Sonntags die Arbeiterjugend und lärmte quer über die Straße von einem Tanzsaal zum andern. Der Fluß sah bald gar nicht mehr wie ein Fluß aus. Man sagte und schrieb, er müsse reguliert werden. Die Ufer wurden gerade gemacht und mit soliden Steinmauern befestigt, so daß man durch einen Kanal zu fahren meinte. Der alte Leinpfad wurde zu einer Villenstraße, und die Wiesen waren ganz zum Bauland geworden, da die Flußgrundstücke sehr begehrt waren. Die Ladeplätze wurden erweitert und angelegt, als sei in Zukunft ein Riesenverkehr zu bewältigen. Eine Landzunge, die den Fluß an der Brücke geteilt und der Landschaft etwas Reiches gegeben hatte, wurde beseitigt, so daß ein langweiliges Hafenbecken entstand. Um so wunderlicher wirkten einige der alten strohgedeckten Scheunen, die wie vergessen stehen geblieben waren. Aber es nistete kein Storch mehr auf dem First, die Unruhe war zu groß. Alles nahm in einer künstlichen Weise städtischen Charakter an. Die alte bäuerliche Volkstracht verschwand ganz. Und mit der Kleidung wurde auch die Sprache städtisch. Das norddeutsche Platt galt bald als eine gemeine Sprache, es wich einem schlecht beherrschten Hochdeutsch. Jeder wollte gebildeter scheinen, als er war. []

Quelle: Karl Scheffler, Der junge Tobias. Eine Jugend und ihre Umwelt (1927), neue durchgesehene und erweiterte Aufl. Wiesbaden, 1946, S. 29–33, 41–42; abgedruckt in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hrsg., Deutsche Sozialgeschichte 1870–1914. Dokumente und Skizzen. München: C. H. Beck, 1982, S. 50–53.