Kurzbeschreibung

Neben der Wirtschaftspolitik widmet sich Kurt Georg Kiesinger in seiner Regierungserklärung vor allem außenpolitischen Fragen und signalisiert einen beginnenden Kurswechsel in der Deutschland- und Ostpolitik, der unter anderem in der Aushöhlung der Hallstein-Doktrin sichtbar werden wird.

Beginn der Großen Koalition (13. Dezember 1966)

  • Kurt Georg Kiesinger

Quelle

Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung

Dr. h. c. Kiesinger, Bundeskanzler: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bildung dieser Bundesregierung, in deren Namen ich die Ehre habe zu Ihnen zu sprechen, ist eine lange, schwelende Krise vorausgegangen, deren Ursachen sich auf Jahre zurückverfolgen lassen. Ihr offener Ausbruch erfolgte kaum ein Jahr nach den Wahlen zum 5. Deutschen Bundestag, die einen eindrucksvollen Vertrauensbeweis für meinen Vorgänger, Professor Ludwig Erhard, erbracht und den Parteien der bisherigen Regierungskoalition deren Fortsetzung ermöglicht hatten. In der Folge belasteten innenpolitische Schwierigkeiten, innerparteiliche Auseinandersetzungen und außenpolitische Sorgen die Arbeit der Regierung, bis schließlich die Uneinigkeit über den Ausgleich des Bundeshaushalts 1967 und über die auf lange Sicht notwendigen finanzpolitischen Maßnahmen zum Auseinanderbrechen der bisherigen Koalition und zu einem Minderheitskabinett führten.

Aus den dadurch notwendig gewordenen Koalitionsverhandlungen ist die neue Regierung der Großen Koalition hervorgegangen. Die Verhandlungen der Parteien haben zu der wohl bisher gründlichsten Bestandsaufnahme der Möglichkeiten und Notwendigkeiten deutscher Politik vor einer Regierungsbildung geführt.

Zum erstenmal haben sich die Christlich-Demokratische und Christlich-Soziale Union und die Sozialdemokratische Partei auf der Ebene des Bundes zur Bildung einer gemeinsamen Regierung entschlossen. Das ist ohne Zweifel ein Markstein in der Geschichte der Bundesrepublik, ein Ereignis, an das sich viele Hoffnungen und Sorgen unseres Volkes knüpfen.

Die Hoffnungen richten sich darauf, daß es der Großen Koalition, die über eine so große, zwei Drittel weit übersteigende Mehrheit im Bundestag verfügt, gelingen werde, die ihr gestellten schweren Aufgaben zu lösen, darunter vor allem die Ordnung der öffentlichen Haushalte, eine ökonomische, sparsame Verwaltung, die Sorge für das Wachstum unserer Wirtschaft und die Stabilität der Währung.

Dies alles sind Voraussetzungen des privaten und öffentlichen Wohles in unserem wie in jedem anderen Lande. Sie verbürgen der Regierung und dem Parlament die nötige Kraft zum Handeln in allen Bereichen der Innen- und der auswärtigen Politik. Die Sorgen vieler gelten den möglichen Gefahren einer Großen Koalition, der nur eine verhältnismäßig kleine Opposition gegenübersteht.

Wir sind entschlossen, soviel an uns liegt, die auf uns gesetzten Hoffnungen zu erfüllen und die befürchteten Gefahren abzuwehren. In dieser Koalition, meine Damen und Herren, werden keine Macht und Pfründen zwischen Partnern geteilt, keine Mißstände vertuscht und die Kräfte des parlamentarischen Lebens nicht durch Absprachen hinter den Kulissen gelähmt werden, wie es ihr mit dem Schlagwort „Proporzdemokratie“ unterstellt wird. Die Opposition wird alle parlamentarischen Möglichkeiten haben, ihre Auffassung zur Darstellung und Geltung zu bringen.

Die stärkste Absicherung gegen einen möglichen Mißbrauch der Macht ist der feste Wille der Partner der Großen Koalition, diese nur auf Zeit, also bis zum Ende der Legislaturperiode, fortzuführen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Während dieser Zusammenarbeit soll nach Auffassung der Bundesregierung ein neues Wahlrecht grundsätzlich verankert werden, das für künftige Wahlen zum Deutschen Bundestag nach 1969 klare Mehrheiten ermöglicht.

(Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Dadurch wird ein institutioneller Zwang zur Beendigung der Großen Koalition und eine institutionelle Abwehr der Notwendigkeit zur Bildung von Koalitionen überhaupt geschaffen. Die Möglichkeit für ein Übergangswahlrecht für die Bundestagswahl 1969 wird von der Regierung geprüft.

Dieser Entschluß, nur eine zeitlich begrenzte Koalition zu bilden, wird uns aber nicht davon abhalten, in der Zeit unseres Koalitionsbündnisses alle wichtigen Aufgaben mit äußerster Entschlossenheit zu bewältigen.

Unsere nächstliegende Sorge ist, den Haushalt 1967 auszugleichen. Dies muß rasch geschehen. Das Finanzplanungsgesetz, das Steueränderungsgesetz 1966 und das Ergänzungshaushaltsgesetz 1967 reichen nicht aus, um die Deckungslücken des Haushalts voll zu beseitigen. Trotz der drei Gesetze müssen wir 1967 mit einer Deckungslücke von rund 3,3 Milliarden DM rechnen. Die Regierung wird alsbald neue Ausgleichsvorschläge in dieser Höhe vorlegen.

In den kommenden Jahren bietet die Finanzlage des Bundes ein noch düstereres Bild. Im Jahresdurchschnitt drohen Deckungslücken, die etwa so groß sind wie das gesamte Haushaltsvolumen eines der finanzstärksten Länder der Bundesrepublik, und dies trotz der vom Hohen Hause inzwischen verabschiedeten drei Gesetze.

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Die Gesundung der Bundesfinanzen ist weniger eine Frage des Sachverstandes als des politischen Mutes und der Einsicht aller Mitverantwortlichen. (Beifall bei den Regierungsparteien.)

Die Regierung weiß das und wird die Entscheidungen vorbereiten, die nötig sind, um die ab 1968 drohenden Deckungslücken auszugleichen, und dafür sorgen, daß vorrangige Aufgaben besser erfüllt werden können. Dies wird nicht allein durch Maßnahmen gelingen, die niemandem wehtun.

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Eine sorgfältige, nicht nur eine Addition der Ressortvorstellungen widerspiegelnde mittelfristige Finanzplanung muß uns in den Stand setzen, diesen notwendigen finanziellen Spielraum wiederzugewinnen und damit die Möglichkeiten zu neuen politischen Entscheidungen wieder zu erlangen.

Wir dürfen bei diesen Überlegungen freilich nicht nur die Bundeshaushalte im Auge haben. Wir leben in einem Bundesstaat, in welchem Bund, Länder und Gemeinden ihre eigenen Aufgabenbereiche zu erfüllen haben. Ob die Aufgabenverteilung durch das Grundgesetz heute noch sachgerecht ist oder ob etwa bestimmte Bundeskompetenzen auf die Länder, Länderkompetenzen auf den Bund übertragen werden sollten, wird zu prüfen sein im Zusammenhang mit der Reform der Finanzverfassung, welche diese Regierung als eine der großen innenpolitischen Aufgaben betrachtet und verwirklichen will.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

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Alle unsere Bemühungen um die innere Ordnung, um wirtschaftliches Wachstum und soziale Gerechtigkeit, meine Damen und Herren, haben freilich nur Sinn und Bestand, wenn es gelingt, den Frieden und eine freiheitliche Lebensordnung zu bewahren.

Daß der Friede bewahrt werde, ist die Hoffnung aller Völker, und das deutsche Volk wünscht dies nicht weniger als die anderen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Darum ist der Wille zum Frieden und zur Verständigung der Völker das erste Wort und das Grundanliegen der Außenpolitik dieser Regierung.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Zwar dient jede Außenpolitik unmittelbar den Interessen des eigenen Volkes; aber in einer Welt, in welcher die Schicksale der Völker so eng miteinander verknüpft sind, darf sich niemand der Mitverantwortung für diese Welt und für den Frieden in dieser Welt entziehen.

(Beifall bei Abgeordneten der Regierungsparteien.)

Die deutsche Regierung tritt für eine konsequente und wirksame Friedenspolitik ein, durch die politische Spannungen beseitigt und das Wettrüsten eingedämmt werden. Wir werden an Vorschlägen zur Rüstungskontrolle, Rüstungsminderung und Abrüstung mitarbeiten. Die Bundesrepublik hat gegenüber ihren Bündnispartnern auf die Herstellung von Atomwaffen verzichtet und sich entsprechenden internationalen Kontrollen unterworfen. Wir streben keine nationale Verfügungsgewalt über Atomwaffen und keinen nationalen Besitz an solchen Waffen an.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Wir sind entschlossen, mit allen Völkern Beziehungen zu unterhalten, die auf Verständigung, auf gegenseitiges Vertrauen und auf den Willen der Zusammenarbeit gegründet sind.

Dies gilt auch für unser Verhältnis zur Sowjetunion, obwohl unsere Beziehungen immer noch durch das ungelöste Problem der Wiedervereinigung unseres Volkes belastet sind. Ich gehörte im Jahre 1955 bei unserem Besuch in Moskau – erlauben Sie mir diese persönliche Erinnerung – zu denjenigen, die mit Nachdruck für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion eintraten. Sicherlich hat die Entwicklung dieser Beziehungen die Erwartungen auf beiden Seiten enttäuscht. Das soll für uns kein Anlaß sein, unsere Bemühungen um eine Verständigung Schritt für Schritt und um zunehmendes, gegenseitiges Vertrauen zu verringern. In meiner letzten Rede im Deutschen Bundestag am 1. Oktober 1958 in Berlin habe ich gesagt, das deutsche Volk hege weder Feindschaft noch Haß gegen die Völker der Sowjetunion, es möchte mit ihnen im Gegenteil in guter friedlicher Nachbarschaft leben, und es denke auch nicht daran, sich in die inneren Verhältnisse der Sowjetunion einzumischen. Ich habe hinzugefügt, es möge für die Sowjetunion im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands Probleme geben, deren Lösung ihr schwierig scheine. Politische Klugheit und weitblickender Verständigungswille auf allen Seiten würden aber solche Schwierigkeiten überwinden können. Ich bin auch heute noch dieser Überzeugung. Und diese Regierung wird nach dieser Überzeugung handeln.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Die letzte Bundesregierung hat in der Friedensnote vom März dieses Jahres auch der Sowjetunion den Austausch von Gewaltverzichtserklärungen angeboten, um erneut klarzustellen, daß sie nicht daran denke, unsere Ziele anders als mit friedlichen Mitteln anzustreben. Die Bundesregierung wiederholt heute dieses auch an die anderen osteuropäischen Staaten gerichtete Angebot. Sie ist bereit, das ungelöste Problem der deutschen Teilung in dieses Angebot einzubeziehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD.)

Im übrigen hoffen wir, das gegenseitige Verständnis und Vertrauen durch die Entwicklung unserer wirtschaftlichen, geistigen und kulturellen Beziehungen beständig zu fördern und zu vertiefen, um so die Voraussetzungen für künftige erfolgreiche Gespräche und Verhandlungen zu schaffen.

Deutschland war jahrhundertelang die Brücke zwischen West- und Osteuropa. Wir möchten diese Aufgaben auch in unserer Zeit gerne erfüllen. Es liegt uns darum daran, das Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarn, die denselben Wunsch haben, auf allen Gebieten des wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Lebens zu verbessern und, wo immer dies nach den Umständen möglich ist, auch diplomatische Beziehungen aufzunehmen.

In weiten Schichten des deutschen Volkes besteht der lebhafte Wunsch nach einer Aussöhnung mit Polen, dessen leidvolle Geschichte wir nicht vergessen haben und dessen Verlangen, endlich in einem Staatsgebiet mit gesicherten Grenzen zu leben, wir im Blick auf das gegenwärtige Schicksal unseres eigenen geteilten Volkes besser als in früheren Zeiten begreifen. Aber die Grenzen eines wiedervereinigten Deutschlands können nur in einer frei vereinbarten Regelung mit einer gesamtdeutschen Regierung festgelegt werden, einer Regelung, die die Voraussetzung für ein von beiden Völkern gebilligtes, dauerhaftes und friedliches Verhältnis guter Nachbarschaft schaffen soll.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

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Wir sind unseren Verbündeten dafür dankbar, daß sie unseren Standpunkt in der Frage unseres geteilten Volkes und seines Rechtes auf Selbstbestimmung unterstützen. Die politischen Gegebenheiten haben die Wiedervereinigung unseres Volkes bisher verhindert. Und noch ist nicht abzusehen, wann sie gelingen wird. Auch in dieser für unser Volk so entscheidend wichtigen Frage geht es uns um Frieden und Verständigung. Wir sind keine leichtfertigen Unruhestifter, denn wir wollen ja gerade den Unruheherd der deutschen Teilung, die ja auch eine europäische Teilung ist, durch friedliche Verständigung beseitigen und unserem Volk seinen Frieden mit sich und mit der Welt wiedergeben. Auch diese Bundesregierung betrachtet sich als die einzige deutsche Regierung, die frei, rechtmäßig und demokratisch gewählt und daher berechtigt ist, für das ganze deutsche Volk zu sprechen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Das bedeutet nicht, daß wir unsere Landsleute im anderen Teil Deutschlands, die sich nicht frei entscheiden können, bevormunden wollen. Wir wollen, soviel an uns liegt, verhindern, daß die beiden Teile unseres Volkes sich während der Trennung auseinanderleben.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Wir wollen entkrampfen und nicht verhärten; Gräben überwinden und nicht vertiefen. Deshalb wollen wir die menschlichen, wirtschaftlichen und geistigen Beziehungen mit unseren Landsleuten im anderen Teil Deutschlands mit allen Kräften fördern. Wo dazu die Aufnahme von Kontakten zwischen Behörden der Bundesrepublik und solchen im anderen Teil Deutschlands notwendig ist, bedeutet dies keine Anerkennung eines zweiten deutschen Staates. Wir werden diese Kontakte von Fall zu Fall so handhaben, daß in der Weltmeinung nicht der Eindruck erweckt werden kann, als rückten wir von unserem Rechtsstandpunkt ab.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Die Bundesregierung ist um die Ausweitung des innerdeutschen Handels, der kein Außenhandel ist, bemüht. Sie wird dabei auch eine Erweiterung von Kreditmöglichkeiten anstreben und gewisse organisatorische Maßnahmen zur Verstärkung der innerdeutschen Kontakte ins Auge fassen.

Die Bundesregierung wird alles tun, um die Zugehörigkeit Berlins zur Bundesrepublik zu erhalten, und gemeinsam mit dem Senat und den Schutzmächten prüfen, wie die Wirtschaft Berlins und seine Stellung in unserem Rechtsgefüge gefestigt werden können.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Wir wollen, was zum Wohl der Menschen im gespaltenen Deutschland möglich ist, tun und, was notwendig ist, möglich machen.

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Quelle: Kurt Georg Kiesinger, Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung, Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 80. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 13. Dezember 1966, S. 3656–3665 (online verfügbar unter: https://dserver.bundestag.de/btp/05/05080.pdf); abgedruckt in Christoph Kleßmann, Hrsg., Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 19551970. Göttingen, 1988, S. 526–31.