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Wo wären wir
Spätestens von jenem Augenblick an, da der westdeutsche Regierungschef in Erfurt den roten Teppich betrat, war die DDR nichts Besonderes mehr – kein Phänomen, keine Zone, vielmehr ein Staat wie alle anderen. Da kam einer, der keine Gänsefüßchen setzte und der durch seine bloße Anwesenheit der DDR Reverenz erwies. Indem er das Protokoll, Fahnen, Hymnen und Soldaten respektierte, zollte er Anerkennung.
So war es schon, wie SED-Chefkommentator Karl Eduard von Schnitzler sagte, eine „Stunde der Wahrheit“. Eine Stunde gewiß, in der sich das der eigenen Souveränität stets sichere DDR-Regime seine Eigenstaatlichkeit vom deutschen Nachbarn bescheinigen ließ. Eine Stunde, in der die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ – einst Hausblatt der Bonner Alleinvertreter – auf deutschem Boden „zwei gefestigte, mit Selbstbewußtsein ausgestattete normale Staaten“ entdeckte und schrieb, sie sei „nun unwiederbringlich vertan: die staatliche Einheit in den uns vertrauten Formen“.
Wirklich: So nahe war die DDR in den zwei Jahrzehnten deutscher Zwietracht ihrem Ziel noch nie, von Bonn für voll genommen – und damit international hoffähig – zu werden. Noch nie aber auch – und insofern mag Erfurt gleichfalls eine Stunde der Wahrheit gewesen sein – war dieser Staat so unmittelbar dem Problem konfrontiert, wie er den Risiken entgehen kann, die unvermeidlich scheinen, wenn in einer Welt des Wandels die Fronten zwischen Ost und West in Bewegung geraten.
Nicht, daß die DDR ins Wanken geriete, wenn ihre Bürger, wie in Erfurt geschehen, den anderen Willy ans Fenster rufen. Auch nicht, daß die Sowjet-Union ihr Interesse am Westpfeiler ihres Imperiums verlöre und ihn stürzen ließe.
Unwägbarkeiten vielmehr sind es, die das Risiko ausmachen: die Frage etwa, inwieweit – bei fortschreitender Entspannung – die Eigeninteressen der Bruderländer im sozialistischen Lager mit DDR-Interessen kollidieren könnten; die Frage, inwieweit der Schritt aus der schützenden Isolierung, den der Kontakt zur westlichen Welt bedingt, die DDR unerwünschten, fremden Einflüssen auszusetzen droht; die Frage schließlich, inwieweit diese Entwicklung auf das Bewußtsein nicht nur der DDR-Bevölkerung, sondern auch auf die Denkweise des Funktionärs-Korps der SED einzuwirken vermag.
Gewiß nicht in Unkenntnis dieser auf lange Sicht unabweisbaren Gefahren war die DDR-Führung am Tag von Erfurt wie danach auf ein Hauptziel fixiert: auf die volle völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik und damit die vertragliche Absicherung der bestehenden Zustände (Status quo) in Deutschland und Europa.
DDR-Ministerpräsident Willi Stoph nachts nach dem Treffen mit Willy Brandt: „Man kann keinen Bogen um die Herstellung normaler, gleichberechtigter Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten auf der Grundlage des Völkerrechts, um die Anerkennung der europäischen Grenzen und die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges machen“.
DDR-Staatsratsvorsitzender und SED-Chef Walter Ulbricht am Tag danach im thüringischen Suhl: „Deshalb fordert das Volk der Deutschen Demokratischen Republik nachdrücklich und mit vollem Recht von seiner Staatsführung, daß Vereinbarungen über Teilaspekte der Normalisierung durch einen völkerrechtlichen Grundsatzvertrag über gleichberechtigte, nicht diskriminierende Beziehungen gesichert werden müssen“.
Erst nach Abschluß eines solchen Vertrages, so Ulbricht, „werden wir zweifellos über manche Teilfragen mit uns sprechen lassen und über viele Fragen übereinkommen können“ – wobei offenbleibt, ob er darunter versteht, was Bonn darunter verstanden wissen möchte (menschliche Erleichterungen vom Reiseverkehr bis zum gesamtdeutschen Fußballturnier) oder womöglich die Forderung, für die Flüchtlingsabwanderung in den Jahren vor dem Mauerbau von Bonn 100 Milliarden Mark Schadenersatz zu kassieren.
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Quelle: „Wo wären wir“, Der Spiegel 13/1970, 23. März 1970, S. 29–32. Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/politik/wo-waeren-wir-a-69e36b2e-0002-0001-0000-000045225714?context=issue. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.