Kurzbeschreibung

Man schreibt das Jahr 1986 – und Theo Sommer ist der erste westdeutsche Journalist, der offiziell eine der Kasernen der Nationalen Volksarmee (NVA) in der DDR besichtigen darf. Seine Überlegungen lesen sich teilweise wie ein Vergleich zwischen der NVA und der westdeutschen Bundeswehr. Offizielle Propaganda wird vermischt mit Fragen darüber, wie wohl ost- und westdeutsche Soldaten im Fall einer militärischen Konfrontation tatsächlich reagieren würden.

Die NVA und die Bundeswehr (27. Juni 1986)

Quelle

Besuch bei der Volksarmee
Würden Deutsche auf Deutsche schießen?

Der Jeep der Nationalen Volksarmee wartet an der regennassen Autobahnabfahrt Lehnitz- Oranienburg, fünfzig Kilometer nördlich von Berlin. Ein strammer junger Offizier meldet sich als Lotse zur Kaserne des Rudolf-Gyptner-Regiments. Die Unterkünfte sind ziemlich neu und wirken wie blank gewienert. Der Parkplatz gleich hinter dem Kasernentor steht leer. Vom Dienstbetrieb ist nichts zu sehen; er scheint sich anderswo abzuspielen.

Unsere Fahrzeugkolonne hält vor dem Klubgebäude des Lehnitzer Artillerieregiments. Fünf Obristen und Oberstleutnante empfangen mich in freundlicher Befangenheit; ein Gefühl, das ich durchaus teile. Sie wissen, daß ich einmal Leiter des Planungsstabes im Bundesministerium der Verteidigung war; ich weiß, daß ich der erste westdeutsche Journalist bin, den die Volksarmee ganz offiziell zu sich gelassen hat. Die Herren stellen sich vor, ehe wir ins Traditionszimmer hinaufgehen: stellvertretender Divisionskommandeur; Parteisekretär; Leiter der Politabteilung; ein grauhaariger Haudegen, der von Anfang an – seit dreißig Jahren – dabei ist. Auch Oberst Jochen Michel ist gekommen, der Sprecher des Verteidigungsministeriums. Er hat eine Sekretärin dabei, die das Gespräch mitstenographiert. Der Regimentskommandeur, ein schlanker, nachdenklicher Typ, heißt Aré-Lallement.

Wären da nicht die hellgrauen Uniformblusen, die Schulterstücke der Wehrmacht, die uns Westdeutschen sehr fremd geworden sind, die unvertrauten Orden und Ehrenzeichen, ich hätte mir leicht einbilden können, ich wäre bei der Bundeswehr in Neumünster oder Sigmaringen. Ich erkannte sie jedenfalls alle wieder: den knochenharten Troupier, den Schreibtischoffizier, den Intellektuellen, den Verantwortlichen für die Innere Führung, pardon: für die Politabteilung. Militär ist überall Militär, Soldaten sind Soldaten. Und Traditionszimmer sind Traditionszimmer. Fahnen und Wimpel; Modelle von Waffen und Kriegsgerät; Vitrinen mit Pokalen, Erinnerungsstücken, Urkunden, Photos von Manövern und Verbündeten.

Nur daß es im Falle des Regiments in Lehnitz andere Verbündete sind: nicht Amerikaner, sondern Sowjets, nicht eine belgische Brigade, sondern das Warschauer Artillerieregiment. Und daß, natürlich, eine andere Tradition gepflegt wird. Scharnhorst und Gneisenau, gewiß, aber sonst nichts von Preußens Gloria, nichts aus der Zeit der Reichswehr, erst recht nichts aus Hitlers Wehrmacht. Orden aus dem Zweiten Weltkrieg; „Die haben wir noch nie getragen“, sagt Oberstleutnant Hill, der Mann der ersten Stunde. „Auch nicht ohne Hakenkreuz?“ – „Noch nie!“

Der Regimentskommandeur Aré-Lallement hat, zwischen Kaffeegeschirr und Gebäckteller, Notizen zur Traditionspflege in der Nationalen Volksarmee vor sich liegen. „Sie ist eingebunden in die gesamte Erziehungsarbeit“, sagt er. „Sie dient der Motivierung hinsichtlich des Klassenauftrages unserer Armee; es ist die Pflege der Tradition des Kampfes gegen den Faschismus und Krieg. Die Vereidigung unserer jungen Soldaten findet halbjährlich in der nationalen Gedenkstätte Sachsenhausen statt, unter großer Beteiligung der Bevölkerung. Die Erinnerung an die Tatsache, daß dort hunderttausend Menschen von den Faschisten umgebracht worden sind, läßt manchen Armeeangehörigen die Waffe fester fassen. An der Vereidigungszeremonie wird die progressive Zielstellung der NVA deutlich.“

In der DDR heißt es meistens „Zielstellung“, wo wir „Zielsetzung“ sagen. Ich frage mich, ob das semantisch von Bedeutung ist: Setzen tut man sich Ziele selbst, gestellt werden sie einem, darin liegt der Unterschied zwischen Selbstverwirklichung und Fremdbestimmung. []

Aré-Lallement, zwei goldene Sterne auf den geflochtenen Achselklappen, ernst und ein bißchen angestrengt die Miene, sagt: „Generell ist es eines unserer Ziele in der Traditionsarbeit, daß wir die Erinnerung an die Leiden der Menschen wachhalten.“ So könnte es auch ein

Bundeswehroffizier ausdrücken. „Dafür die Waffe zu tragen, daß sich das nicht wiederholt, ist unser wichtigster Auftrag.“ Er erklärt, wer Rudolf Gyptner ist, nach dem das Regiment seit 1. März 1967 benannt ist: Sohn eines deutschen Altkommunisten, Widerstandskämpfer, mit 21 Jahren als Partisan in Polens Wäldern gefallen. „Wir ehren unser revolutionäres Vorbild in Meetings und dadurch, daß wir alljährlich einen Rudolf-Gyptner-Gedenklauf durchführen.“

Die Volksarmee ist eine Bündnisarmee – wie die Bundeswehr. „Die gesamte Generalstabsausbildung findet in der Sowjetunion statt“, erfahre ich am Rande. Die NVA übt viel mit den Verbündeten. Einer der Herren fügt hinzu: „Der Stolz, den ich empfinde, wenn ich die jungen Menschen bei Übungen und Wettkämpfen mit dem Waffenpartner erlebe, erfüllt mir Herz und Seele.“

Wettkämpfe und Wettbewerbe spielen eine große Rolle im Alltag der Volksarmee. „Eine Kompanie ruft auf zum sozialistischen Wettbewerb. Die Leistung dieser Kompanie wird dann zum Maßstab.“ Beurteilt werden der politisch-moralische Zustand, der Ausbildungsstand, die sportlichen Erfolge, die „Ableistung von Soldatenauszeichnungen“, die Zahl der Schützenschnüre. „Es geht dabei um die Festigung des militärischen Kampfkollektivs. Die Sache wird ideell und materiell stimuliert.“ Auf gut Deutsch: Der Soldat hat etwas davon. Für ein Klassifizierungsabzeichen, das „besonders gute Beherrschung der Kampftechnik“ belohnt, gibt es 300 bis 500 Mark extra, nicht bloß ein Stück Lametta für die Ordensschnalle.

Der Regen hat sich mittlerweile gelegt. Wir fahren hinaus auf den Schießplatz. Wäßriger Dunst liegt über dem weitläufigen Gelände: braune Heide, eingesäumt von märkischen Kiefern. Der Platz hat Tradition, wie viele Standorte in der DDR. Jüterbog, Nauen, Strausberg, Zossen - rund um Berlin war das Militär schon immer zu Hause. Eine Stunde Autofahrt weiter nördlich liegt Eggesin, wo viele der 174 000 Volksarmee-Soldaten ihre Grundausbildung durchlaufen, wenn sie für 18 Monate „zur Fahne“ gehen (wie ihre westdeutschen Altersgenossen „zum Bund“). „Grab meiner Jugend“ nennen die jungen Leute den vorpommerschen Übungsplatz, vertraute mir eine Berlinerin an, deren Sohn dort war. „Alles halb so wild“, kommentierte milde lächelnd der stellvertretende Divisionskommandeur in Lehnitz.

Auf dem Schießplatz geht es nicht viel anders zu als bei der Bundeswehr. „Treffen mit dem ersten Schuß“, ist die Devise. Gleich vornean steht ein Plakat: „Hohe Gefechtsbereitschaft – Produkt unserer Tätigkeit“. In Bundeswehranzeigen hieß es lange: „Wir produzieren Sicherheit.“

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Gespräch am Rande. „Gibt es bei Ihren Soldaten Klagen über Gammeldienst?“ – „Das ist nicht ihr Ausdruck, aber die Sache ist bekannt. Sie haben’s lieber, wenn es rumst, als wenn sie Geräte reinigen müssen.“

Was sie von der Bundeswehr halten? „Wissen Sie“, sagt Oberstleutnant Aré-Lallement, „wenn ich das Photo eines Bundeswehrsoldaten sehe, frage ich mich immer: „Was geht wohl unter dem Helm vor?“ – „Wissen Sie“, sage ich, „das ist dieselbe Frage, die sich unsere Offiziere stellen, wenn sie das Photo eines Soldaten der Nationalen Volksarmee sehen ...“

Die Übung ist beendet. Die Kanoniere ziehen sich Drillichzeug an. Zwei Dutzend versammeln sich, vor Bergen von belegten Brötchen, im nahegelegenen Dienstgebäude zur Diskussion mit dem westdeutschen Journalisten, Soldaten, Gefreite, Unteroffiziere, der Batteriechef, alles gute Typen: frisch, aufgeweckt, artikuliert, schlank, gut geschnittene Gesichter. Die Herren vom Stab sind auch dabei.

„Was ist denn national an der Nationalen Volksarmee?“

„Wir verstehen uns als ein Teil des Volkes“, sagt einer.

„Da wird uns weiszumachen versucht, daß die deutsche Nation ein Ganzes wäre“, setzt der Batteriechef hinzu. „Ich persönlich glaube das nicht. Da haben ganz andere Leute den Schlußstrich gezogen. Wir haben eine andere Kultur, andere Produktionsverhältnisse. Unsere Menschen haben eine ganz andere Lebensauffassung.“

„Diskutieren auch Sie“, erkundige ich mich, „die Frage, die in der Bundeswehr oft diskutiert wird: Würden im Ernstfall Deutsche auf Deutsche schießen?“

Die Antwort gibt einer der Stabsoffiziere: „Die Bundesrepublik ist Partner in der Nato, wir sind Verbündete im Warschauer Vertrag. Bei einem Krieg treten zwei verschiedene Staaten, zwei verschiedene Gesellschaftsordnungen gegeneinander an. Unser Auftrag ist es, einen Krieg zu verhindern, und, wenn er doch eintritt, ihn so schnell wie möglich zu beenden. Wenn die Bundeswehr eine Intervention machen würde, würden wir selbstverständlich zur Waffe greifen.“

Ein Gefreiter meldet sich: „Da werden in der BRD noch immer FDJ-Angehörige aus den Zügen geholt. Da werden Grenzen in Frage gestellt - wie beim Schlesiertreffen. Für welche Interessen kämpft der Bundeswehrsoldat eigentlich?“

Ein Oberst stößt nach: „Was unsere Genossen immer wieder bewegt“ – auch in der Volksarmee nennt man einander Genosse – „ist dies: Die Bundesrepublik Deutschland spielt eine außerordentliche Rolle in der Nato. Aber bei den Chemiewaffen spielt sie den Vorreiter. Sie bekundet die Überzeugung, daß von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen darf, aber sie unternimmt keine praktischen Schritte.“

Der alte Haudegen ergänzt die Klageliste: Die Bundesrepublik habe SDI bedingungslos zugestimmt; sie habe den amerikanischen Staatsterrorismus gegen Libyen unterstützt; wegen Tschernobyl habe sie aus fadenscheinigen Gründen eine Massenpsychose ausgelöst; es habe schon lange nicht mehr solch unverfrorene „Revanchistentreffen“ gegeben wie in München und Essen; warum sage die Bundesregierung den Amerikanern nicht: Macht Schluß mit den Kernwaffentests. Unsere Menschen verstehen das nicht.

Ich versuche dagegenzuhalten: daß SDI bisher nur ein Forschungsvorhaben sei; daß wir den Bomben auf Libyen ja nicht eben Beifall geklatscht hätten, im Gegenteil; daß die Treffen der Landsmannschaften im Wesentlichen, nun: Heimattreffen seien, bei denen alte Bekannte wieder einmal ein Glas miteinander leerten; schließlich, daß die Verängstigung wegen Tschernobyl ja wohl der sowjetischen Informationspolitik zuzuschreiben sei, nicht der Bundesregierung – überhaupt, warum solle sie eigentlich Atomangst schüren, wo sie doch für Kernkraft eintrete?

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Auf dem Weg zum Auto will der stellvertretende Divisionskommandeur noch wissen, wie wir zu den Geraer Forderungen Erich Honeckers stehen.

Dann reden wir über Feindbilder, und ich frage nach der „Erziehung zum Haß“, wie sie in der Volksarmee geübt wird. „Es gibt keine Erziehung zum Haß", werde ich belehrt.

Oberstleutnant Aré-Lallement kommt noch einmal auf die Frage zurück, ob Deutsche auf Deutsche schießen würden: „Wir haben nichts gegen den einzelnen Menschen in der BRD. Aber in dem Moment, in dem er zur Waffe greift, wird er zum Feind, egal, ob er der Onkel ist oder nicht. Wenn ich nicht auf ihn schieße, wird er doch auf meinen Waffengefährten neben mir schießen...“

Es ist die offizielle Antwort, wie sie in ähnlicher Formulierung, wenngleich mit umgekehrten Vorzeichen, auch in der Bundeswehr gegeben wird. Im Auto zurück von Lehnitz nach Berlin, versunken in die Betrachtung zweier Klassifizierungsabzeichen und einer silbernen Schützenschnur, die mir der stellvertretende Divisionskommandeur zum Abschied verehrt hat, frage ich mich, ob diese offizielle Antwort eigentlich beschreibt, was wirklich passieren würde, wenn es je zum Schlimmsten käme.

Ganz sicher kann sich da wohl keiner sein – weder hüben noch drüben.

Quelle: Theo Sommer, „Besuch bei der Volksarmee. Würden Deutsche auf Deutsche schießen?“, Die Zeit, Nr. 27/1986. © Die Zeit. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung. Online verfügbar unter: https://www.zeit.de/1986/27/besuch-bei-der-volksarmee