Kurzbeschreibung

In einem Interview anlässlich des fünfzigsten Jahrestages des Baus der Mauer stellt ein westdeutscher Historiker rückblickend die Behauptung auf, die Mauer hätte im Grunde eine stabilisierende Wirkung auf den Kalten Krieg gehabt, weil sie signalisiert habe, die DDR sei von Dauer. Die Mauer zwang sowohl Ost- wie Westdeutsche dazu anzuerkennen, dass die SED-Diktatur Bestand haben würde.

Die zweite Gründung der DDR (Rückblick 2011)

Quelle

1961 war die zweite Gründung der DDR

Der Historiker Edgar Wolfrum spricht im Interview über die weltpolitische Bedeutung der Mauer und die Passivität der Deutschen.

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Sie selbst sprechen von einem „Beruhigungsfaktor“, den der Mauerbau für die Weltpolitik gehabt habe. Warum?

Es war ein „Beruhigungsfaktor“ in doppelter Hinsicht. Zum einen für die DDR: die Menschen konnten nicht mehr fliehen, deshalb konnte sich dieser Staat stabilisieren. 1961 war sozusagen die zweite Gründung der DDR. Zum anderen für die internationale Ebene: die Westalliierten, aber auch die Sowjetunion waren es 1961 leid, sich ständig mit diesem Konfliktherd Berlin herumschlagen zu müssen. Washington wie Moskau stellten sich zu der Zeit auf globale Aufgaben ein. Die Kuba-Krise ein Jahr später spricht da Bände. Die USA verstrickten sich bereits langsam in den Vietnamkrieg. Mit dem Mauerbau war ein Modus Vivendi gefunden und der Kalte Krieg zumindest in Mitteleuropa für einige Zeit stillgelegt. Beide Supermächte waren zufrieden mit dieser Lösung, so schrecklich sie für die Deutschen auch war.

Hat Moskau die Führung in Ostberlin beim Mauerbau angetrieben oder gebremst?

Diese Frage ist nicht endgültig geklärt, der Zugang zu Dokumenten in Moskau weiterhin versperrt. Aber wir sollten auf keinen Fall von der deutschen Verantwortung ablenken. Walter Ulbricht, der DDR-Staatsratsvorsitzende, drängte den Kreml seit Mitte der 50er Jahre, etwas zu unternehmen. Er sah ja, dass sein Staat durch die Massenflucht ausblutete. Kremlchef Nikita Chruschtschow hatte bis zuletzt Skrupel. Er musste den Kommunismus im globalen Maßstab sehen. Eine Mauer zu bauen, um die eigene Bevölkerung einzusperren, war natürlich ein Armutszeugnis für jeden Arbeiter-und-Bauern-Staat. Deshalb hat er bis zum Schluss gebremst. Gleichwohl: ohne Zustimmung Moskaus wäre die Mauer nie gebaut worden.

Der Bundesnachrichtendienst hat gerade seine Archive geöffnet. Ergibt sich daraus der Befund, dass Kanzler Konrad Adenauer nicht so überrascht gewesen sein kann vom Mauerbau wie immer behauptet?

Da würde ich die Kirche im Dorf lassen. Alle wichtigen Politiker wussten, dass etwas vor sich geht. Der Mauerbau war eine riesige logistische Arbeit, man musste Materialien über Monate ansammeln vor den Toren Berlins, man musste Arbeiter und Truppen zusammenziehen. Vielleicht wusste man nicht, dass es eine Mauer wird, aber dass es zu Abriegelungsmaßnahmen kommen würde, war Tage vorher bekannt.

Das spätere Sterben an der Mauer geschah teilweise unter den Augen der Weltöffentlichkeit – beispielsweise als der 18-jährige Peter Fechter verblutete. Gleichzeitig war vielen Deutschen im Westen das Leben der Bürger in der DDR ziemlich egal. Woher rührte dieses Desinteresse?

Die Duldsamkeit, ja Passivität gerade der Westdeutschen angesichts der Teilung ihrer Nation ist schon bemerkenswert. Die Westdeutschen waren auf der richtigen Seite des Kalten Krieges gelandet, ihnen ging es gut. Der Geldbeutel saß ihnen offensichtlich näher als irgendwelche nationalen Gefühle. Die Ostdeutschen wurden dagegen zweimal für die deutsche Geschichte bestraft – erst unter Hitler und dann unter Pieck, Ulbricht, Honecker.

Die Mauer ist Symbol menschenverachtender Politik. Doch bis heute schotten sich Staaten ab. Wird aus Geschichte nicht gelernt?

Ein bedeutender Mann hat einmal gesagt: „Aus der Geschichte lernt man vor allem, dass man nichts aus ihr lernt.“ So pessimistisch bin ich nicht. Wir sind durchaus sensibilisiert worden durch die Mauer. Aber das große Versprechen von 1989 – ein Leben in Frieden, Freiheit und mit durchlässigen Grenzen – ist natürlich ad absurdum geführt worden. Auch von den Europäern, die sich etwa gegen Zuwanderung aus Afrika abriegeln. Es gibt natürlich einen gravierenden Unterschied. Bei den heutigen Mauern wird nicht die eigene Bevölkerung abgehalten, das Land zu verlassen, sondern die Länder schotten sich nach außen ab. Sie wollen Elendsflüchtlinge abhalten oder andere unerwünschte Menschen. Aber eines gilt für alle: jede Mauer ist Ausweis eines politischen Versagens.

Quelle: Rainer Pörtner, Interview mit Historiker Edgar Wolfrum: „1961 war die zweite Gründung der DDR“, Stuttgarter Zeitung, 7. August 2011, S. 2– 4. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Prof. Wolfrum. Online verfügbar unter: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.interview-mit-historiker-edgar-wolfrum-1961-war-die-zweite-gruendung-der-ddr.ae4b1518-d3a2-4cfb-9248-268cd0fd3ea0.html