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Eine Vereinigung hatte Honecker nicht im Sinn
Der ehemalige Ständige Vertreter der Bundesregierung in der DDR, Hans Otto Bräutigam, über seine Arbeit in Ostberlin
Interview: Hans-Jörg Heims
In den Augen der SED-Funktionäre war er der „Botschafter des Klassenfeindes“ in Ostberlin. Für viele DDR-Bürger war der Ständige Vertreter der Bundesrepublik jedoch die Anlaufstelle, um in die Freiheit zu gelangen. Nach Günter Gaus und Klaus Bölling leitete Hans Otto Bräutigam von 1982 bis Januar 1989 die diplomatische Vertretung. Bräutigam, 78, lebt in Berlin.
SZ: Herr Bräutigam, wie haben Sie den 13. August 1961 erlebt?
Bräutigam: Ich arbeitete damals am Völkerrechtlichen Institut in Heidelberg. Persönlich berührte mich der Mauerbau nicht, denn ich hatte keine Verwandten in der DDR. Aber politisch ging mir dieses Ereignis wie den meisten Westdeutschen sehr nahe. Die Teilung Deutschlands war damit zementiert.
SZ: Sie sind Jahrgang 1931, haben also den Zweiten Weltkrieg erlebt. Hatten Sie in dem Augenblick, als mitten in Deutschland wieder Panzer auffuhren, Angst vor einem neuen Krieg?
Bräutigam: Natürlich hat man sich die Frage gestellt: Nimmt die Kriegsgefahr jetzt zu? Aber uns wurde schon bald klar, zur Lösung der deutschen Frage darf es keinen Krieg geben. Das Ziel einer neuen Ostpolitik musste sein, die Kontakte zwischen den Menschen trotz der Mauer zu normalisieren. Unter der Kanzlerschaft von Willy Brandt ist dieser Weg dann beschritten worden.
SZ: In erster Linie war es doch ein Geschäft: Menschliche Erleichterungen gegen harte Devisen. Hat die Bundesrepublik nicht einen hohen Preis bezahlt, wenn sie etwa Häftlinge freikaufte?
Bräutigam: Ich habe die Frage des Häftlingsfreikaufs einmal dem ehemaligen Minister für innerdeutsche Beziehungen, Egon Franke, gestellt. Dessen Reaktion war heftig. Er sagte, er habe während der Nazidiktatur sechs Jahre im Gefängnis und Konzentrationslager gesessen, und kein Häftling sei damals freigekauft worden. Für jede Bundesregierung war es eine zutiefst politisch-moralische Frage, das Menschenmögliche zu tun, um Familien zusammenzuführen und politische Häftlinge freizubekommen.
SZ: Wie lief das ab?
Bräutigam: Der Weg führte über Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. Wenn ich diesen von Zeit zu Zeit in seinem Büro besuchte, dann hatte ich eine Liste mit Fällen dabei, die mir persönlich bekanntgeworden waren. Meistens durch Hinweise aus kirchlichen Kreisen. In der Regel wurden Fälle direkt an die Bundesregierung herangetragen. Außerdem brachte fast jeder West-Politiker, der in den achtziger Jahren Honecker besuchte, eine Liste mit Ausreisefällen mit. Die wurden dann geprüft und ein erheblicher Teil davon positiv beschieden.
SZ: Warum vertraute man Vogel?
Bräutigam: Vogel war ein Mittler, der immer auch die legitimen Forderungen des Westens im Auge hatte. Wenn er Zusagen machte, konnte man darauf vertrauen, dass sie eingehalten wurden. Selbst in schwierigen Fällen bemühte er sich, dabei war von Vorteil, dass er einen direkten Zugang zu Honecker und dessen Umgebung hatte. Aber ohne die Zustimmung der Staatssicherheit konnte niemand ausreisen.
SZ: Das hieß, wenn Vogel nichts erreichte, ging gar nichts?
Bräutigam: Dann half nur massiver politischer Druck.
SZ: Was bedeutete: Bonn zahlte und im Gegenzug ließ Ostberlin die Leute ziehen. Wäre es nicht einfacher gewesen, man hätte die von Honecker 1980 formulierten „Geraer Forderungen“ erfüllt, also Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft, Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Botschaften und Markierung der Elbgrenze in der Strommitte.
Bräutigam: Bei der Elbgrenze waren wir nah dran. Eine Einigung scheiterte aber am Einspruch von Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht. Die Frage der Staatsangehörigkeit war hingegen der harte Kern der deutschen Frage. Es wäre ein schwerwiegender Fehler gewesen, die gesamtdeutsche Staatsangehörigkeit aufzugeben.
SZ: Aber wäre die DDR nicht auch wie die anderen Ostblockstaaten an ihren wirtschaftlichen Problemen gescheitert, unabhängig davon, ob ihre Bürger eine vom Westen anerkannte Staatsbürgerschaft besaßen?
Bräutigam: Die Frage, ob die DDR ohne finanzielle Unterstützung der Bundesrepublik früher zusammengebrochen wäre, kann niemand beantworten. Jedenfalls hat die Bundesrepublik weder den Zusammenbruch der DDR herbeigeführt noch deren Existenz verlängert.
SZ: Sie standen 1987 in Honeckers Nähe, als dieser während seiner Reise durch die Bundesrepublik im Saarland völlig unerwartet von einer Grenze sprach, die nicht trennen, sondern vereinen könne. Wollte der DDR-Staatschef wirklich eine andere Grenze?
Bräutigam: Eine Vereinigung hatte Honecker sicherlich nicht im Sinn, allenfalls eine humanere Grenze. Denn auf dieser Reise, und dabei ganz besonders unter dem Eindruck des Besuches in seiner saarländischen Heimat, ist Honecker vielleicht bewusst geworden, dass die Grenze, wie sie mit dem Schießbefehl existierte, dem Ansehen der DDR schweren Schaden zufügte.
Quelle: „Eine Vereinigung hatte Honecker nicht im Sinn“ [Interview: Hans-Jörg Heims], Süddeutsche Zeitung, 7. Mai 2010. © Süddeutsche Zeitung. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.