Quelle
Statt Deutschland nur noch „BRD“?
In den drei Jahren der Annäherung an die „DDR“ ist die Bundesrepublik Deutschland einem Wandel unterworfen worden, der sich nicht nur greifen und begreifen, sondern auch ablesen läßt: sie ist zu den drei Buchstaben „BRD“ geschrumpft. Die entseelte Kurzform ist ein Importartikel aus jenem anderen Drei-Buchstaben-Bereich, dessen Teilungsstrategen den Begriff Deutschland auszulöschen wünschen.
Es dauerte nicht lange, bis die Einübung durch SED-Repetitoren die westdeutschen Klassenersten der Annäherung zu flüssigem Nachsprechen gebracht hatte. Jetzt hört man es bei uns landauf, landab „BRD“. Es spricht sich leichter, klingt wie ABC und Pkw, und niemand braucht sich etwas dabei zu denken. Wir haben wieder etwas mehr Bequemlichkeit.
Ja, weiß man denn nicht, daß es der „DDR“ — Adjektiv: „deutsch“ — darum geht, der Nation den Namen ihres Vaterlandes — Substantiv: Deutschland — auszureden? Im Palais mit dem beziehungsreichen Namen Schaumburg weiß man's schon. Und läßt es trotzdem — oder gar deshalb? — bestehen. Die „DDR“, von ihren Anführungsstrichen und von nichts sonst befreit, ist gleichberechtigt mit der „BRD“, zwei deutsche Staaten, anerkannt der eine wie der andere, kein Deutschland mehr.
Das ist der Grund des Grundvertrages. Als das Teilungspapier paraphiert wurde, sprach Egon Bahr, der Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland, einmal von der „BRD“ und von der „Deutschen Demokratischen Republik“. Die Mühe der 31 Buchstaben zugunsten des Prestiges der Gegenseite im Partnerlook war ihm die Sache wert. Er sparte den Aufwand durch „BRD“ wieder ein. Bei uns wird abgekürzt. Deutschland braucht zuviel Zeit. Die Angelegenheit eilte überdies, denn der Wahltermin war nahe. Unser Wahltermin! Die anderen haben keine Wahl, leben aber auch in Deutschland — oder nicht mehr?
Als die vier Mächte Zangengeburtshilfe zum Grundvertrag leisteten, bestanden sie auf der Fortdauer ihrer Verantwortlichkeit, konnten aber nicht mehr sagen wofür. Ihre Erklärung spart den Begriff aus — Deutschland ist unaussprechlich geworden.
Dafür haben wir jetzt gute Nachbarschaft beider deutscher Staaten. Die Präambel des Nachbarschaftsvertrages weist allerdings Unverträglichkeit nach: Die Einheit der Nation, die in der Vorwerbung als Bindemittel angepriesen worden war, ist zur „Frage“ herunterverhandelt worden. Man kam darin überein, nicht übereinzukommen. Das gleiche mit der Staatsbürgerschaft, die doch wohl eine grundlegende Frage ist. Auch sie blieb ohne Antwort im Grundvertrag, denn sie berührt Unberührbares: Deutschland.
Und wenn da noch einer kommt und nach Deutschland fragt, dann wird man mahnend den Zeigefinger der rechten Hand auf die Lippen legen: pst! Nicht so laut, es könnte den guten Nachbarn stören. Der hört das nicht so gern. Außerdem ist ja wohl „Deutschland“ eines jener großen Worte, die nach Willy Brandt weniger gut als kleine Schritte sind.
Es waren, wie man im Wahlkampf hört, Unions-Regierungen in der Vergangenheit, die zwanzig Jahre lang versäumten, sich mit der „DDR“ zu arrangieren, so daß die Linkskoalition nun alles Versäumte nachholen muß. Natürlich ist es schwer, zwei Jahrzehnte großsprecherischer Untätigkeit aufzuarbeiten. Aber man versteht schon, es sich leichter zu machen:
Kaum hatte Franz Josef Strauß gesagt, einen solchen Vertrag hätten wir schon vor zwanzig Jahren haben können, da erkannte die „Frankfurter Rundschau“: Konrad Adenauer war schuld daran, daß die Menschen in diesem geteilten Lande sich nicht begegnen konnten. War es nicht der SED-Staat, der die Grenzen zog? Und war es nicht die SPD, die Ulbrichts Sirenenruf „Deutsche an einen Tisch!“ mit schneidender Schärfe zurückwies? Damals galt noch Deutschland, und in seinem freien Teil sagte einer seiner Politiker:
„In Westdeutschland geht die nationalbolschewistische Durchsetzung ... weiter als viele wahrhaben wollen, während grundsatzlose Rapallo-Vorstellungen bis in hohe Kreise der Regierungsparteien vorgedrungen sind. Sie werden durch Geschäftsinteressen gestützt, die man von östlicher Seite durchaus geschickt anzusprechen versteht. Die eigentliche Gefahr droht aber in dieser Runde von den ‚Koordinatoren‘, den Nachfolgern der gescheiterten ‚Brückenbauern‘. Sie erklären, daß man die Ostregierung doch nicht ignorieren dürfe. Sie sei nun mal eine Realität. Irgendwie müsse man miteinander auskommen. Schließlich stünden auf der anderen Seite auch Deutsche. Mit ihnen müsse man praktische Vereinbarungen treffen. Unterstützt wird diese Argumentation durch die Gedankenlosigkeit derer, die ihre ach so trügerische westliche Ruhe haben möchten und die in einem Teil der Presse so tun, als gebe es zwei deutsche Regierungen, die zum gemeinsamen Besten in einem Strang ziehen sollten.“
Von wem stammen diese Worte, für die unsereiner heute auf der freien Seite des unaussprechlichen Landes der Entspannungsfeindlichkeit bezichtigt würde? Der das sagte, war Willy Brandt. Der frühere.
Und die Regierungspartei, die er verdächtigte, ihre westliche Ruhe haben zu wollen, war die Union. So ändern sich die Zeiten, und unsere politischen Propheten ändern sich mit ihnen. Mit ihnen ändert sich leider auch Deutschland bis zur Unkenntlichkeit. Wir haben jetzt eine „BRD“. Und sie ist auch danach.
Quelle: Matthias Walden, „Statt Deutschland nur noch ‚BRD‘?”, Die Welt, 16. November 1972. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.