Quelle
Gegenwärtig sind Diskussionen zum Ausreisegeschehen in die BRD in Partei- und Arbeitskollektiven verstärkt im Gespräch. In Mitgliederversammlungen machen Genossen darauf aufmerksam, daß sie zwar versuchen, parteilich auf Fragen zu reagieren, aber wegen mangelnder Sachkenntnis nicht überzeugend wirken.
Dabei handelt es sich um folgende Fragen:
– Stimmt es, daß
täglich 100 Bürger aus der DDR ausreisen?
– Wieso stellen so
viele Menschen einen Ausreiseantrag?
– Warum genehmigen wir das
in solcher Höhe?
– Gibt es dazu Vereinbarungen mit der
BRD?
– Warum wird darüber nicht auf dem Parteiweg
informiert?
Beispiele für das Auftreten von Genossen zu diesen Fragen:
–
Im Staatsbürgerkundeunterricht der Betriebsberufsschule
Starkstromanlagenbau Leipzig/Halle fragt ein Lehrling, ob das
stimmt, was das Westfernsehen an Zahlen veröffentlicht. Die Genossin
Staatsbürgerkundelehrerin antwortete, daß ihr bekannt ist, daß
täglich 100 Bürger seit Januar 1984 die DDR verlassen und es sei
doch gut, wenn wir solche miesen Staatsbürger loswürden.
In der darauffolgenden APO-Versammlung dieser Schule stellte ein Kandidat die gleiche Frage und bezweifelte die Auskunft der Lehrerin. Der APO-Sekretär bestätigte die genannte Zahl und argumentierte, daß unser Staat damit ein gutes Geschäft macht, weil jeder Ausreisende die Ausbildungskosten an die DDR zurückzahlen müsse.
– In einer Zusammenkunft eines Wohnparteiaktivs in Grünau wurde gefragt, was man denn antworten soll, wenn in den Hausversammlungen zur Vorbereitung der Wahl die Bürger dazu Fragen stellen würden.
Zunächst bestätigten alle Genossen, daß in ihren Partei- und Arbeitskollektiven dazu diskutiert wird.
Es entwickelten sich dann folgende Argumentation: Eine Genossin vom Hauptpostamt Leipzig: „Wir treten bei uns so auf, daß wir sagen, die BRD zahlt ja für jeden die Ausbildungskosten zurück, also machen wir dabei nur gut.“ Eine Genossin der KMU: „Ich glaube, das hat andere Gründe und hängt mit den Wahlen am 6. Mai zusammen. Im Grunde sind doch die Antragsteller die Nichtwähler der letzten Wahl. Ich jedenfalls bin froh, daß aus meinem Wohnabschnitt einige weg sind. […]“
Daraus leitete eine Genossin vom Rat des Stadtbezirkes West die Forderung ab, nicht wieder so viele Agitatoren zum Wahltag einzusetzen, da wir doch dadurch nun weniger Probleme hätten. Ein Genosse von der Deutschen Spedition äußerte: „Warum haben wir es plötzlich so eilig, bei uns kann sich das niemand erklären und es gibt viele Diskussionen. Da die Ausreisenden so kurzfristig die DDR verlassen müssen, bekommen wir Speditionsaufträge, die wir, auch aus Treibstoffgründen, gar nicht realisieren können. Mir scheint das alles überstürzt und unüberlegt.“
Der Leiter des Parteiaktivs argumentierte, daß man Vertrauen haben müsse, auch wenn man manche Maßnahmen nicht gleich verstünde, aber hoffentlich dürften solche Leute nie wieder die DDR betreten. Wenn das wahr sei, was so erzählt wird, daß Ausgereiste 3mal jährlich die DDR besuchen dürften, dann würde bei den Genossen das Verständnis aufhören.
Eine Genossin diskutierte und wurde dazu von zwei weiteren unterstützt, daß sie zwar nicht wisse, was daran überhaupt wahr sei, denn die genannten Fakten stammten ja offensichtlich von Westsendern, aber sie erkläre sich das so, daß das zur Kompromißbereitschaft der DDR zu rechnen sei im Sinne der Schaffung guter Beziehungen zur BRD zur Erhaltung und Sicherung des Friedens und der Entspannungspolitik. Dazu schwiegen jedoch die anderen Genossen und es entstand der Eindruck, daß diese Argumentation nicht richtig ankam.
Quelle: StAL SED-BL Leipzig, IV/E–2/5/301, Blatt 24 f.; abgedruckt in Henrik Eberle und Denise Wesenberg, Hrsg., Einverstanden, E.H.: Parteiinterne Hausmitteilungen, Briefe, Akten und Intrigen aus der Honecker-Zeit. Berlin, 1999, S. 286–88.