Kurzbeschreibung

Unter Hinweis auf die massiven Proteste gegen die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen wenden sich Bürger der Bundesrepublik und der DDR gemeinsam an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und fordern erneut die Rücknahme des NATO-Doppelbeschlusses, was auch der Verbesserung der innerdeutschen Beziehungen dienen würde.

Gesamtdeutsche Initiative (1983)

Quelle

Wir wenden uns an Sie als Abgeordnete, weil von Ihrem Verhalten wesentlich die Entscheidung über die Aufstellung neuer amerikanischer Flugkörper abhängt. Nach dem Grundgesetz hat jeder Abgeordnete frei nach seinem Gewissen zu entscheiden. Entscheiden Sie in dieser ernsten Frage ohne Fraktionszwang und in geheimer Abstimmung!

Sagen Sie Nein zu dieser neuen Rüstungsrunde! Setzen Sie ein Signal der Umkehr, für Entspannung in der Welt und Disengagement in Europa!

Wir appellieren an Sie, die Argumente für und wider die Stationierung der neuen Raketen noch einmal und im Lichte der seit dem NATO-Doppelbeschluß veränderten Voraussetzungen zu überprüfen:

1. Ist das Argument, das für die Stationierung neuer Raketen angeführt wird, zwingend? Niemand sollte die gegen Westeuropa gerichteten sowjetischen SS-20 verharmlosen, aber muß der Vorteil, den die UdSSR durch sie in dem besonderen Bereich der landgestützten Mittelstreckenraketen gewonnen hat, durch die Stationierung von ebenfalls landgestützten amerikanischen Raketen ausgeglichen werden? Kommt es bei Atomwaffen überhaupt auf Gleichgewicht an? Gewiß nicht, wenn doch ihr einziger Zweck, sofern es überhaupt einen solchen gibt, in der Abschreckung bestehen soll. Sind nicht sowohl die französischen und englischen Mittelstreckenraketen als auch die see- und luftgestützten amerikanischen „Vorgeschobenen Nuklearsysteme“ jede für sich als Abschreckung gegen den Einsatz der SS-20 bei weitem ausreichend? Gerade neue landgestützte und entsprechend verwundbare Raketen können überhaupt nicht zur Abschreckung gegen die SS-20 dienen. Dessen ungeachtet muß an der Forderung festgehalten werden, daß die SS-20 abgebaut und verschrottet werden müssen.

2. Die neuen amerikanischen Raketen wären nicht ein bloßer Ausgleich für die SS-20, sondern würden eine Eskalation darstellen, da sie das russische Kernland mit einer bisher unbekannten Treffgenauigkeit in wenigen Minuten erreichen könnten. Diese Tatsache gewinnt eine zusätzliche Bedeutung angesichts der Pläne amerikanischer Regierungsberater, die einen Atomkrieg auf Europa begrenzbar und gewinnbar machen sollen. Auch wenn zu hoffen ist, daß der amerikanische Präsident diese Pläne nicht in die Tat umsetzt, sollte sich der Bundestag doch darüber im klaren sein, daß er mit einer Zustimmung zur Stationierung dem Oberhaupt eines anderen Staates die Möglichkeit einräumt, einen atomaren Krieg von deutschem Boden aus in Gang zu setzen.

Auch genügt die Existenz dieser Pläne, um die Stationierung der neuen Raketen in sowjetischen Augen als übermäßige Bedrohung erscheinen zu lassen. Die Folge der Stationierung wird daher die von der UdSSR angekündigte „Nach-Nachrüstung“ in der DDR und den anderen osteuropäischen Staaten sein. Künftig wird bei jeder weltpolitischen Krise jede Seite einen Präventivschlag der anderen fürchten müssen. Ebenso erhöht sich das Risiko eines in seinen Folgen unkorrigierbaren Fehlalarms. Führt dann nicht die Stationierung der neuen amerikanischen Raketen zum Gegenteil dessen, was sie bezwecken sollte: zu einer dramatischen Erhöhung der Gefahr eines baldigen Atomkrieges in Mitteleuropa und zu einer erschreckenden Verminderung der Sicherheit im Osten und im Westen?

3. Von der Bundesregierung wird inzwischen als das entscheidende Argument für die Stationierung d[ie] Notwendigkeit d[er] Loyalität angeführt. Aber darf ein Abgeordneter bestätigen und beschließen, was er für falsch erkennt, ja wovon er weiß, daß es zum kollektiven Selbstmord führen kann, nur um die Verläßlichkeit und Bündnistreue der Bundesrepublik unter Beweis zu stellen?

Ist die Welt im Atomzeitalter nicht zu komplex und gefährlich geworden[,] als daß wir die Unfähigkeit, eine Vorentscheidung unter veränderten Bedingungen zu revidieren, noch als Tugend ansehen dürfen? Auch sind es gerade große Teile des amerikanischen Volkes und bedeutende amerikanische Politiker, die sich jetzt wenigstens von den Europäern einen Akt der Vernunft erhoffen.

4. Eine entschiedene Rückkehr zu einer Politik der Entspannung und viel Phantasie bei ihrer Neugestaltung ist erforderlich. Angesichts des auf deutschem Boden angehäuften ungeheuren atomaren und konventionellen Waffenpotentials ist es die besondere Verpflichtung deutscher Politiker, eine wirkliche Abrüstung einzuleiten. Wir appellieren an den Bundestag, sich der Politik der Konfrontation und bedingungslosen Blockbindung, die die Teilung Europas und insbesondere Deutschlands weiter zu vertiefen droht, zu widersetzen. Das von der jetzigen Bundesregierung geäußerte Interesse an einer Verbesserung des Verhältnisses zur DDR ist mit dem Vollzug der „Nachrüstung“ nicht zu vereinbaren. Wem es um bessere Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten und um das Wohl des deutschen Volkes geht, kann der Stationierung nicht zustimmen. Dies wäre auch ein Schlag gegen die Friedenskräfte in der DDR, insbesondere gegen die eigenständigen Friedensinitiativen.

Die große Mehrheit der Bevölkerung lehnt – wie eindeutig aus Meinungsumfragen hervorgeht – die Stationierung ab und zieht allemal die unbefristete Fortführung der Verhandlungen und den Aufschub der Stationierung vor.

Mit Millionen Mitbürgern und gemeinsam mit vielen Bürgern aus der DDR appellieren wir an ihr Gewissen, einen neuen Schritt zur Fortsetzung des Rüstungswettlaufs zu verweigern, und beschwören Sie: Sagen Sie Nein!

Heinrich Albertz, Astrid Albrecht-Heide, Ulrich Albrecht, Peter Brandt, Andreas Buro, Ingeborg Drewitz, Oskar Lafontaine, Jo Leinen, Alfred Mechtersheimer, Horst Eberhard Richter, Rudolf Steinke, Ernst Tugendhat, Michael Theunissen, Werner Vitt, Jörg Zink u.a.

Quelle: Appell von Bürgern aus der BRD und DDR: SAGEN SIE NEIN! (Herbst 1983); abgedruckt in Bernhard Pollmann, Hrsg., Lesebuch zur Deutschen Geschichte, Band 3, Vom deutschen Reich bis zur Gegenwart. Dortmund, 1984, S. 265–67.