Kurzbeschreibung

In diesem Meinungsartikel diskutiert ein Journalist die weit verbreiteten Ängste vor atomarer Vernichtung in Deutschland. Solche Ängste verbanden die Proteste der Umweltschützer mit einer wachsenden Friedensbewegung gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden durch die NATO.

Kommentar zum raschen Anwachsen der Angst vor atomarer Bedrohung (1981)

  • Wilhelm Bittorf

Quelle

Die Wiederkehr der Angst

Was wäre heute, wenn die erste Atombombe 1945 auf das Land gefallen wäre, für das sie erfunden und gebaut worden ist – auf Deutschland? Nur die verspätete Fertigstellung der Endzeit-Waffe hat ja verhindert, daß die ersten beiden gegen Menschen angewandten Exemplare über Berlin oder Dresden detonierten statt über Hiroschima und Nagasaki.

Bei den Japanern, diesem stoischen und tapferen Volk der Samurai und Kamikazeflieger, bricht noch heute eine Art nationale Panik aus, wenn sich herausstellt, daß die amerikanischen Raketen-U-Boote Kernwaffen an Bord haben, wenn sie ihren japanischen Stützpunkt anlaufen, und daß solche Waffen in diesem Stützpunkt sogar gelagert werden.

So tief steckt das Entsetzen jener Augusttage vor 36 Jahren auch den Nachgeborenen noch in den Knochen, ein Entsetzen, das offenbar unvergleichbar ist selbst dem Horror der „konventionellen“ Bombenteppiche, die auf deutsche Städte fielen. Auch die Japaner haben einiges davon erlebt, den verheerenden Brandangriff auf Tokio im März 1945 zum Beispiel, bei dem nahezu 100 000 Menschen umgekommen sein sollen. Trotzdem ist die Erinnerung daran neben der Unfaßbarkeit der beiden Atomblitze zu einem Schemen verblaßt.

Mehr als 6000 nukleare Sprengköpfe lagern in der Bundesrepublik. Der schwerste Sprengkopf, der auf einer der heute in der Bundesrepublik stationierten 180 Raketen vom Typ Pershing 1 A verwendet werden kann, hat eine Explosionskraft von 400 Kilotonnen, dreißigmal soviel wie die Hiroschima-Bombe.

Wie haben es die Deutschen geschafft, einen Zustand für erträglich und sogar höchst wünschenswert zu halten, der in Japan den totalen kollektiven Nervenzusammenbruch zur Folge hätte?

Eines ihrer Geheimnisse ist, daß sie ihren von Hitler geweckten, aber enttäuschten Wunderwaffen-Glauben auf die Kernwaffen übertragen haben. Endlich ein todsicheres Mittel, die „asiatischen Horden in Schach zu halten“ – und noch dazu recht kosteneffektiv. Endlich eine Waffe, die den Frieden in Europa bewahrt, weil sie um so weniger losgeht, je mehr man davon hat – welch optimale Verbindung von Sicherheit und Wettrüsten.

Doch schon dieser Wunderglauben ist nicht so kindlich-naiv, wie er wirkt. Er ist ein Produkt der Angst wie der Wunderwaffen-Glaube im Deutschland des letzten Kriegsjahres. Damals sollte er das Bewußtsein des nahen Untergangs betäuben. Aber auch in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten ist er eine der vielen raffinierten Methoden gewesen, mit denen die Zeitgenossen (und besonders die besonders gefährdeten Deutschen) versucht haben, die realen Gefahren der nuklearen Rüstung zu vergessen, zu verleugnen, zu verharmlosen, durch vielerlei Selbstbetrug aus ihren Gedanken zu verbannen.

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Sie haben einen Fachjargon entwickelt, der etwa die zerfetzten, verschmorten und strahlenverseuchten Zivilpersonen, die bei einem Kernwaffen-Angriff auf ein militärisches Ziel anfallen, unter dem Begriff „Kollateralschaden“ subsumiert. Unvorstellbare Katastrophen werden zu mathematischen Quizfragen („Wie viele Sprengköpfe bleiben mir zur Vernichtung der Ballungszentren des Gegners, wenn er vorher alle meine Landraketen-Silos auslöscht?“). Das Unausdenkbare wird immer denkbarer.

Tiere, die sich einer unabwendbaren Gefahr gegenübersehen, verfallen oft auf „Übersprunghandlungen“. Wie um sich von ihrer lähmenden Hilflosigkeit abzulenken, tun sie etwas Widersinniges – sie putzen sich zum Beispiel. Ähnlich ist es in den vergangenen Jahren vielen besorgten Bürgern gerade aus der jüngeren Generation ergangen. Weil sie die Hauptgefahr Atomrüstung entweder noch gar nicht begriffen oder sich ihr gegenüber hilflos fühlten, wandten sie sich anderen Problemen zu – wichtigen Problemen und doch sekundären wie dem Umweltschutz.

So kam es zu dem Kuriosum, daß Zehntausende erbittert gegen das Kernkraftwerk Brokdorf kämpften, aber die geplante Einführung neuer Kernwaffen-Systeme in ihrem Land lange Zeit völlig ignorierten – einem Menschen vergleichbar, der in einem auf Dynamit gebauten Haus lebt, aber keine andere Sorge kennt als die Betriebssicherheit seines Toasters.

Doch das ändert sich nun. Der Streit um die „Nachrüstung“ hat die eingeschläferten Ängste geweckt, hat die schon in allen Fugen krachenden Verdrängungen und Verleugnungen aufgebrochen, hat die erste und einzige wirklich existentielle Frage für die Deutschen und ihre Nachbarn mit größerer Schärfe aufgeworfen als je zuvor.

Ein Begreifen geht durchs Land, daß es wenig Sinn macht, sich um all die anderen Probleme unserer Gesellschaft zu kümmern, wenn in der Existenzfrage dieser Gesellschaft nichts geschieht. Es macht so wenig Sinn, wie wenn ein Mann, der in ein Minenfeld geraten ist, sich über seine Altersversorgung den Kopf zerbricht.

Quelle: Wilhelm Bittorf, „Die Wiederkehr der Angst“, Der Spiegel, Nr. 25, 14. Juni 1981. Online verfügbar unter: https://www.spiegel.de/politik/die-wiederkehr-der-angst-a-df017e97-0002-0001-0000-000014338993. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.