Quelle
Stellungnahme der Kultusministerkonferenz zum Bericht der Bundesregierung über die strukturellen Probleme des föderativen Bildungssystems (Strukturbericht)
I. Grundsätzliche Bemerkungen
1. Die Bundesregierung fordert in ihrem Strukturbericht einheitliche Entscheidungen in bestimmten Bereichen des Bildungswesens wegen
– der Gewährleistung eines Mindestmaßes an Freizügigkeit
– der Gewährleistung gleicher Chancen für alle Bürger in Bildung und Beruf.
Diese einheitlichen Entscheidungen werden gefordert in folgenden Punkten:
(1) Dauer der Bildungspflicht
(2) Übergang von der Grundschule zur Sekundarstufe I einschließlich der gegenseitigen Anerkennung der Prüfungs- und Auswahlverfahren
(3) Übergänge und Abschlüsse der Sekundarstufe I einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Abschlüssen
(4) Abschlüsse der Sekundarstufe II für alle berufsbezogenen und studienqualifizierenden Abschlüsse einschließlich der Hochschulzulassung
(5) In der Weiterbildung: die Vergleichbarkeit und Anerkennung der weiterführenden Abschlüsse
(6) Die Abstimmung der Gestaltung der Ausbildungsinhalte in der beruflichen Bildung
(7) Lehrerausbildung
Die Bundesregierung trifft die Feststellung, daß die Vielfalt im einzelnen Bildungsangebot und ein Wettbewerb der Länder um neue Modelle und Verbesserungen im Bildungswesen nicht ausgeschlossen werden dürfen.
[…]
3. Die Kultusministerkonferenz räumt ein, daß im föderativen Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland eine Reihe von Problemen und Schwierigkeiten aufgetreten sind, die einer Lösung bedürfen. Es trifft ferner zu, daß der aus dem Grundgesetz abgeleitete Gesetzesvorbehalt von der Rechtsprechung in letzter Zeit verschärft worden ist. Dies wirft die Frage nach einer parlamentarischen Legitimation länderübergreifender Regelungen verstärkt auf.
Die Kultusministerkonferenz ist sich bewußt, daß in der Bundesrepublik Deutschland ein stärkeres Maß an Einheitlichkeit insbesondere in den von der Bundesregierung angesprochenen Problembereichen angestrebt werden muß.
Die Kultusministerkonferenz nimmt den Bericht der Bundesregierung zum Anlaß, Grundfragen im Sinne eines kooperativen Föderalismus mit dem Ziel aufzugreifen, zu einer verstärkten Abstimmung und Anerkennung von Gleichwertigkeiten zu gelangen, so daß eine noch größere Einheitlichkeit im Bildungswesen erreicht wird.
Unbeschadet dessen, daß der Bundesregierung nicht die Berechtigung bestritten werden kann, einen solchen Bericht in eigener Verantwortung und ohne Beteiligung der Länder herauszugeben, bedauert die Kultusministerkonferenz, daß die Bundesregierung den Ländern vor der Vorlage ihres Berichts keine Gelegenheit zur Abgabe einer eigenen Stellungnahme gegeben hat.
[…]
4. Die Kultusministerkonferenz stellt fest, daß der im föderativen System gegründete mannigfache Wettbewerb der Länder um die beste Qualität des Bildungswesens einen hohen Stand differenzierter Ausgestaltung des Bildungswesens hervorgebracht und gleichzeitig kulturelle Vielfalt erhalten und gefördert hat. Eine Reihe von Schwierigkeiten, die sich dem Bürger im Bildungswesen stellen, kann durch Gesetz nicht erfaßt werden. Allerdings hat es sich nun herausgestellt, daß – unbeschadet der Vielfalt der Gestaltung in den einzelnen Ländern und innerhalb der Länder – die Sicherheit von bestimmten Eckwerten für alle Länder erforderlich ist.
5. Da nach der Verfassungsrechtsprechung die Kulturhoheit das Kernstück der Eigenstaatlichkeit der Länder darstellt, ist bei Überlegungen für Kompetenzverteilungen im Bildungs- und Kulturbereich in besonderem Maße die Frage zu prüfen, ob die Bestandsgarantie der Länderstaatlichkeit nach Artikel 79 Abs. 3 GG berührt wird. Seit Verabschiedung des Grundgesetzes wurde das Grundgesetz 34mal geändert. Von den Änderungen brachten 29 eine Verschiebung von Kompetenzen unmittelbar oder mittelbar zu Lasten der Länder. Nach der Enquete-Kommission „Verfassungsreform“ ist bereits der substantielle Entscheidungsbereich der Länder bis in die Nähe des Artikels 79 Abs. 3 GG gewährleisteten Kernbereichs geschrumpft.[1]
Auch aus diesen Gründen ist daher jede verfassungsändernde Maßnahme von größerem Gewicht zu Lasten der Länderkompetenz grundsätzlicher Art und vor dem Hintergrund des föderativen Systems insgesamt zu beurteilen. […]
6. Den Problemen und Schwierigkeiten, auf die die Bundesregierung hinweist, kommt unterschiedliches Gewicht zu. Nicht alle haben die im Bericht dargelegte Bedeutung, vielmehr bedarf es einer differenzierten Analyse. Unbestreitbar ist allerdings, daß im Hinblick auf die von der Bundesregierung herausgestellten Grundbedingungen für Freizügigkeit und gleiche Möglichkeiten im Rahmen einheitlicher Lebensverhältnisse sowie beim Übergang zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem, die von der Kultusministerkonferenz uneingeschränkt bejaht werden, Änderungen und Verbesserungen in den genannten Bereichen notwendig und durch die Länder mit Vorrang zu realisieren sind. Die Länder sind entschlossen, besonders im Rahmen der Kultusministerkonferenz und der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, bestehende Schwierigkeiten zu bewältigen.
[…]
Aus der Staatsqualität der Länder und ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung als Gliedstaaten des Bundesstaates folgt die Befugnis, aber auch die Pflicht, bei der Erfüllung der Aufgaben untereinander und mit dem Bund zusammenzuwirken.
Mit dem durch die Grundgesetzänderung im Jahre 1969 eingeführten Institut der Gemeinschaftsaufgaben wurden zwei neue Formen der Koordinierung von Bund und Ländern auf dem Gebiet der Ziel- und Rahmenplanung ermöglicht. Es handelt sich um den Planungsausschuß für den Hochschulbau, dessen Organisation und Aufgaben im Hochschulbauförderungsgesetz festgelegt ist, und eine nur fakultativ vorgesehene Einrichtung für gemeinsame Planung im Bildungswesen. Mit dem Verwaltungsabkommen über die Errichtung der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung haben Bund und Länder im Jahre 1970 ein solches Instrument des kooperativen Föderalismus geschaffen.
[…]
Die Ziel- und Rahmenplanung im Bildungswesen stellt den gemeinsam gebilligten Rahmen dar, in dem sich die Entwicklung des Bildungswesens vollziehen soll. Zur Wahrnehmung gemeinsamer Zielsetzung kommt daher der Koordination im Umsetzungs- und Verwirklichungsprozeß eine hervorragende Bedeutung zu.
Im Interesse der größeren Gleichwertigkeit des Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik erfolgt diese ständige Koordination in der Kultusministerkonferenz. Diese Zusammensetzung der Länder kann sich von einer lockeren Zusammenarbeit (Meinungsaustausch, gegenseitige Unterrichtung) über intensive Kooperation (hierzu gehört insbesondere auch der weite Bereich der gemeinsamen Mitwirkung auf verschiedenen Sachgebieten, insbesondere die partnerschaftliche Mitwirkung der Länder an der auswärtigen Kulturpolitik) bis zur präzisen Koordination durch Absprachen oder Vereinbarungen, sei es der Verwaltungen, sei es der Regierungen, und bis zum Abschluß von Staatsverträgen erstrecken. Bei der Regierungskoordinierung handelt es sich um die Zusammenarbeit parlamentarisch bestellter Minister, die in parlamentarischer Verantwortung stehen. Aus der gleichberechtigten Staatsqualität der einzelnen Länder folgt zugleich das Einstimmigkeitsprinzip für die gemeinsame Koordinierung. Ungeachtet der Schwierigkeiten bei einer einstimmigen Koordinierung, die Mehrheitsentscheidungen ausschließt, führt dieses Prinzip positiv dazu, daß gewichtige Veränderungen, insbesondere im Bildungswesens kontinuierlich und auf der Grundlage einer breiten Einigung aller Beteiligten durchgeführt werden können. In ihrer Wirkungsweise handelt es sich bei den Ergebnissen der gemeinsamen Koordinierung um politische Willenskundgebungen, die unabhängig von ihrer politischen Verbindlichkeit für die Koordinierung sich überwiegend als Empfehlungen an die Länder richten, deren verfassungsrechtliche Zuständigkeit unberührt bleibt. Dies bedeutet, daß derartige Empfehlungen und Vereinbarungen erst dann zu verbindlichem Landesrecht werden, wenn sie von den zuständigen Landesorganen in der landesrechtlich vorgesehenen Form transformiert werden.
Anmerkung: Auf einer Besprechung der Ministerpräsidenten der Länder am 11./12. Mai 1978 haben die von der CDU bzw. CSU regierten Länder Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, Saarland und Schleswig-Holstein erklärt, „daß sie keinen Schlußfolgerungen aus dem Bericht der Bundesregierung zustimmen, die eine Zentralisierung von Bildungszuständigkeiten im Wege einer Grundgesetzänderung zum Inhalt haben“.
Anmerkungen
Quelle: „Stellungnahme der Kultusministerkonferenz zum Bericht der Bundesregierung über die strukturellen Probleme des föderativen Bildungssystems (Strukturbericht) vom 20./21. April 1978“, abgedruckt in Oskar Anweiler et al., Hrsg., Bildungspolitik in Deutschland 1945–1990. Ein historisch-vergleichender Quellenband. Opladen, 1992, S. 86–89.