Kurzbeschreibung

In der Hoffnung, eine „Neue Linke“ bilden zu können, die sich von der alten Arbeiterbewegung abhebt, diskutierte die 17. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) mit Blick auf die Überwindung des demokratischen Kapitalismus der Bundesrepublik über die Modernisierung der marxistischen Theorie sowie über die Notwendigkeit drastischer Reformen der universitären Strukturen.

„Neue Linke“ (4.-5. Oktober 1962)

  • Tilman Fichter
  • Sigward Lönnendonker

Quelle

Konformismus und Nonkonformismus

Bereits im Spätsommer 1959 waren in Heidelberg, Köln und Saarbrücken vom SDS unabhängige sozialdemokratische Hochschulgruppen gegründet worden. Am 26. März 1960 beschloß der SDS-Bundesvorstand, dem Antrag der Saarbrücker SHB-Gruppe auf Aufnahme in den SDS unter der Bedingung stattzugeben, daß sie den Unvereinbarkeitsbeschluß zwischen Korporations- und SDS-Mitgliedschaft akzeptiere. Da die SHB-Gruppe dies ablehnte, wurde sie nicht aufgenommen. Am 2. Mai suspendierte der SDS-Bundesvorstand außerdem die SDS-Gruppe Saarbrücken, weil sie sich geweigert hatte, die Mitglieder Gerhard Lambrecht und Hans Schurze aus dem Verband auszuschließen. (Beiden wurden Kontakte zur illegalisierten KPD vorgeworfen. Sie waren zu diesem Zeitpunkt bereits aus der SPD ausgeschlossen worden.) In Saarbrücken gab es also keinen SDS mehr.

Am 6. Mai beschloß dann die Bonner ‚Albert-Schweitzer-Gruppe‘ mehrheitlich, aus dem SDS auszutreten und künftig an keiner Delegiertenkonferenz mehr teilzunehmen. Ein Teil der Mitglieder verließ die Bonner Gruppe und blieb weiterhin im SDS. Bereits einen Tag nach der Sezession der ‚Albert-Schweitzer-Gruppe‘ nahmen zwei Vertreter des Bonner SHB an der Konferenz des SDS-Landesverbandes Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf teil, auf der sie – zusammen mit den Düsseldorfer Delegierten sowie dem SDS-Landesvorsitzenden Heinz Niedrig – gegen die Stimmen der Kölner und der Bonner SDS-Restgruppe den Austritt des Landesverbandes aus dem SDS und den Anschluß an den SHB beschlossen. Da die Bonner SHBler mitgestimmt hatten, obwohl sie gerade erst am Vortag den Austrittsbeschluß gefaßt hatten, fochten die Delegierten der SDS-Hochschulgruppen Köln und Münster den Beschluß an.

Auch in anderen Landesverbänden hatte der Konflikt zwischen SDS und dem parteikonformen SHB organisatorische Konsequenzen. Z.B. wählte die SDS-Gruppe am ‚Otto-Suhr-Institut‘ (OSI) an der Freien Universität Berlin am 6. Mai 1960 ihren bisherigen ersten Vorsitzenden Manfred Geßner wegen ‚nicht mehr zu leugnender Unfähigkeit‘ ab. Am 7. Mai gründeten daraufhin die ehemaligen SDS-Mitglieder Manfred Geßner, Waldemar Ritter, Hans Adolph, Hermann Klag und Udo F. Löwke eine SHB-Gruppe am OSI. Geßner wurde zum provisorischen ersten Vorsitzenden des geplanten SHB-Landesverbandes Berlin bestimmt, Ritter in den noch nicht bestehenden Bundesvorstand nach Bonn delegiert; Löwke wurde Gruppenvorsitzender am OSI.

Am Vormittag des 9. Mai 1960 gab Jürgen Maruhn die Gründung des ‚Sozialdemokratischen Hochschulbundes‘ (SHB) in Bonn durch ‚15 sozialdemokratische Studentengruppen aus dem Bundesgebiet einschl. Berlin‘ vor der Presse bekannt. Zum ersten provisorischen Vorsitzenden wurde Jürgen Maruhn (Bonn) berufen. Seine beiden provisorischen Stellvertreter waren Waldemar Ritter (Berlin) und Peter-Paul Henckel (Saarbrücken).

Die SHB-Gründer bekannten sich ausdrücklich zum neuen Grundsatzprogramm der Partei. Darüber hinaus wollte der SHB hauptsächlich praktische Hochschulpolitik betreiben und sich an der politischen Bildung in der Partei beteiligen. Wesentliche pädagogische Ziele waren, einerseits die ‚Auseinandersetzung mit dem Kommunismus‘ und andererseits die ‚Verbreitung der Idee des demokratischen Sozialismus‘. Die SHB-Initiatoren waren der ewigen kritischen Distanz der Linksintellektuellen überdrüssig geworden. Sie forderten das Positive.

Daß der SDS aufgrund seiner Widerständigkeit schon bald zum Initiator und Interpreten einer studentischen Revolte werden sollte, konnten sich die Spalter damals noch nicht vorstellen. Ihr Ziel war im Grunde eine sozialdemokratische, parteikonforme Arbeitsgemeinschaft an der Universität. Radikale Nonkonformisten waren in der SPD Anfang der 60er Jahre nicht gefragt. Dennoch erklärt der im SPD-Parteivorstand damals vorherrschende Antiintellektualismus nicht die Taktik der offenen üblen Nachrede und Verdächtigungen, wie sie auf der Bonner SHB-Pressekonferenz gegen den SDS in Umlauf gesetzt wurden. So behauptete der gerade erst ernannte neue SHB-Bundesvorstand, im SDS gebe es Leute, ‚die direkte Beziehungen zur SED‘ unterhielten. Insbesondere in Berlin existiere ein ‚enger Kontakt‘ zwischen einigen SDS-Gruppen und den ‚mitteldeutschen Kommunisten‘. Der Berliner SDS-Landesverband habe darüber hinaus häufig Aktionen unterstützt, die ‚vorher in Ost-Berlin’ angelaufen seien. Darüber hinaus sprachen sich die SHB-Funktionäre gegen eine Fortsetzung von ‚aufwendigen Kongressen einflußloser Leute über große Politik‘ aus. Der SHB werde – so die ‚Frankfurter Allgemeine Zeitung‘ – kein ‚Wanderer zwischen zwei Welten’ sein, sondern ‚entschieden für die Sache des freien Westens’ arbeiten. Ferner bejahe der provisorische SHB-Bundesvorstand ausdrücklich die ‚Landesverteidigung bei gleichzeitiger Sicherung des Rechts auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen‘.

Selten haben sich eine mehrheitssozialdemokratische Führung – und eine bürgerlich-konservative Presse – über die Grundstimmung in der studentischen Linken so sehr getäuscht wie zu Beginn der 60er Jahre. Obgleich führende SPD-Funktionäre wie Fritz Erler, Waldemar von Knoeringen und Willy Brandt gegen Ende der 20er Jahre selbst zum rebellierenden Teil der Arbeiterjugend gehört hatten, forderten sie vom SDS nun eine bedingungslose Unterordnung unter die – parteiintern nie ausdiskutierte – langfristige Bündnispolitik der SPD. Ein Dialog über Ziele, Strategien und Taktik blieb tabu.

Auf der SHB-Pressekonferenz unterstellte Maruhn – wie vorher schon Wehner in einem Interview – dem SDS, fellowtraveller der Kommunisten zu sein. Wehner wie Maruhn redeten freilich selbst in der entfremdeten Sprache der stalinistischen Bürokratie über den angeblich unterwanderten und von außen gesteuerten SDS. Die kommenden Jahre sollten indessen zeigen, daß von einer Unterwanderung des SDS durch dogmatische Parteikommunisten überhaupt keine Rede sein konnte. Statt dessen entstand im SDS ein Fokus für neue Aktionsformen und theoretische Kommunikationszusammenhänge. Es gelang dem SDS vorübergehend, die Politik in die Alltagsverhältnisse der Studenten und Jugendlichen zu übersetzen. So entwickelte sich Mitte der 60er Jahre in großen Teilen der bundesrepublikanischen Jugend eine alternative Lebensform, die von der Faszination einer autonomen Politik jenseits der klassischen Großorganisationen der Arbeiterbewegung und von einer kulturellen und politischen Widerständigkeit geprägt war. Doch die rebellische Subjektivität der antiautoritären Studenten- und Jugendbewegung hatte allerdings mit kommunistischer Parteidisziplin, stalinistischer Willkür oder sowjetischen Sicherheits- und Machtinteressen nichts zu tun. Erst durch die Gründung der maoistischen Kleinstparteien Anfang der 70er Jahre wurde dieser antiautoritäre Konsens von innen heraus aufgekündigt. Soziologisch gesehen bedeutete der Rückzug in eine ausgeliehene proletarische Disziplin die Rückkehr in gewohnte kleinbürgerliche Disziplin- und Ordnungsvorstellungen. Da bis heute eine selbstkritische Darstellung des deutschen Maoismus fehlt, müßte das Thema nun endlich von außen erforscht werden.

Quelle: Sigward Lönnendonker und Tilman Fichter, Kleine Geschichte des SDS. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund von 1946 bis zur Selbstauflösung. Berlin, 1977, S. 75–78.