Kurzbeschreibung

Anfang der sechziger Jahre begann eine „situationistische“ Avantgarde in Städten wie München gegen die Wiedereinführung der bürgerlichen Werte nach dem Zweiten Weltkrieg zu rebellieren. An ihrer Stelle wurden zum Spaß (oder zur „Gaudi“) die Entfesselung der Kreativität und die Revolutionierung der sozialen Beziehungen proklamiert.

Antiautoritäres Manifest der Situationistischen Avantgarde (Januar 1961)

Quelle

JANUAR-MANIFEST

1. Wer in Politik, Staat, Kirche, Wirtschaft, Militär, Parteien, soz. Organisationen keine Gaudi sieht, hat mit uns nichts zu tun.

2. Boykottiert alle herrschenden Systeme und Konventionen, indem Ihr sie nur als mißratene Gaudi betrachtet.

3. Jeder echte Künstler ist zur Umänderung seiner Umwelt geboren.

4. Preise, Stipendien, gute Kritiken, alles wirft man uns nach; aber eins ist sicher: brauchen kann man uns nicht.

5. Unbrauchbarkeit ist unser höchstes Ziel: Gaudi ist unpopuläre Volkskunst.

6. Die ganze Welt ist der Bereich, in dem sich der schöpferische Impuls, der allein der Gaudi vorbehalten ist, entfalten kann.

7. Alles was anwendbar ist, ist nicht für den Menschen. Ohne den Künstler gäbe es schon jetzt keinen Menschen mehr.

8. Wir sind gegen den Fasching, weil der Fasching die Gaudi kommerziell engagiert. Der Mißbrauch der Gaudi ist das größte Verbrechen.

9. L’art pour l’art ist beendet, ebenso l’art pour l’argent und l’art pour la femme. Jetzt beginnt l’art pour la Gaudi.

10. Schöpferisch sein heißt: Durch dauernde Neuschöpfung mit allen Dingen seine Gaudi zu treiben.

11. Mensch sein heißt homo ludens und homo gaudens.

12. Seit der Herrschaft des dialektischen Materialismus und des Determinismus ist die Gaudi kein integrierendes Moment der Kultur mehr: Wir fordern ihre Befreiung aus der Unterdrückung durch die herrschenden Ideologien und den Rationalismus.

13. Dem Satz „Wissen ist Macht“, der das Zeitalter der Wissenschaft eingeleitet hat, wird der Satz folgen „Gaudi ist Macht“, der das Zeitalter der Gaudi einleitet.

14. So wie Marx aus der Wissenschaft eine Revolution abgeleitet hat, leiten wir aus der Gaudi eine Revolution ab.

15. Die sozialistische Revolution mißbrauchte die Künstler. Die Einseitigkeit dieser Umstürze beruhte auf der Trennung von Arbeit und Gaudi. Eine Revolution ohne Gaudi ist keine Revolution.

16. Es gibt keine künstlerische Freiheit ohne die Macht der Gaudi.

17. Alle unzufriedenen Kräfte sammeln sich in einer Organisation der Antiorganisateure, die sich in einer umfassenden Revolution verwirklichen.

18. Wir fordern allen Ernstes die Gaudi. Wir fordern die urbanistische Gaudi, die unitäre, totale, reale, imaginäre, sexuelle, irrationale, integrale, militärische, politische, psychologische, philosophische Gaudi.

19. Durch die Realisierung der Situationistischen Gaudi werden alle Probleme der Welt gelöst: Ost-West-Problem, Algerienfrage, Kongo-Problem, Halbstarkenkrawalle, Gotteslästerungsprozesse und sexuelle Verdrängungen.

20. Wir engagieren die ganze Welt für unsere Gaudi! Januar 1961

Gruppe Spur
STURM, PREM, FISCHER, KUNZELMANN, ZIMMER

Quelle: Gruppe Spur (Helmut Sturm, Heimrad Prem, Lothar Fischer, Dieter Kunzelmann, Hans-Peter Zimmer), „Januar-Manifest“, Januar 1961; abgedruckt in Jürgen Miermeister und Jochen Staadt, Hrsg., Provokationen. Die Studenten- und Jugendrevolte in ihren Flugblättern 1865–1971. Darmstadt, 1980, S.13–14.

Antiautoritäres Manifest der Situationistischen Avantgarde (Januar 1961), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/zwei-deutsche-staaten-1961-1989/ghdi:document-888> [07.11.2024].