Kurzbeschreibung

Vor dem Hintergrund wachsender Ausländerfeindlichkeit kritisiert der Autor, dass Forderungen nach einer Wiedervereinigung immer mehr vom rechtsradikalen Lager aufgenommen werden, während sich die Mehrheit der Deutschen in Ost und West mit der Teilung des Landes arrangiert habe, was sich auch am Desinteresse der Westdeutschen an der DDR zeige.

„Reden kostet nichts“ (1989)

Quelle

[]

In den vierzig Jahren deutscher Zweistaatlichkeit haben wir bewiesen, was manche Sowjets und Amerikaner, wie ich weiß, anfangs nie geglaubt hätten: Die Deutschen haben, tüchtig und gründlich und gehorsam, wie sie sind, ihre Teilung funktionsfähig gemacht. Musterschüler beide in NATO und Warschauer Pakt, die DDR für Polen, Ungarn und nun auch sogar noch für die Sowjetunion Schulmeister.

Und wir? Wir bieten permanenten Unterricht darüber an, wie man am besten mit Kommunisten umgeht – dosierte Vernunft und möglichst wenig Gönnerhaftigkeit – , sogar die CDU hat‘s gelernt.

Daß sich die meisten Westdeutschen kaum ernsthaft für die anderen Deutschen interessieren, daß die meisten Bundesbürger ihnen faktisch den Rücken zukehren – wen stört‘s?

Daß Fremdenfeindlichkeit auch auf Auswanderer aus der DDR übergreift, daß die wachsende Zahl der Besucher aus der DDR endlich auch finanziell als willkommene Gäste behandelt werden sollten, anstatt für manchen demütigende Besuche auf Sozialämtern machen zu müssen, um sich ihr Begrüßungsgeld abzuholen, anstatt ihr hart erarbeitetes Geld bei uns regulär eintauschen zu können – vielleicht bis zu dreihundert Deutsche Mark im Jahr – wer zerbricht sich hierzulande darüber schon den Kopf?

Es war einmal ein schönes großes Land, fast hundertzwanzig Jahre ist das jetzt her. Dieses Deutsche Reich haben wir verspielt, so ähnlich wie Hans im Glück. Dennoch laufen bei uns immer mehr einfältige, weder in der Schule ausreichend informierte noch von unserer Ellenbogengesellschaft umsorgte junge Leute herum, die auf ihrer Kleidung plakatieren: „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein!“ – womit sie Ausländerfeindlichkeit demonstrieren.

Immer wieder haben Vernünftige hierzulande vor den Folgen einer Millionenarbeitslosigkeit, vor allem für junge Menschen, gewarnt und daran erinnert, wie es zu 1933 kam. Auch Wiedervereinigungssprüche sind von diesen jungen Rechten zu hören.

Sicher gibt‘s auch in der DDR Typen mit solchen Sprüchen, obwohl dort gewiß nicht Arbeitslosigkeit die Ursache ist, sondern wohl eher fehlende Reisemöglichkeit und Langeweile für junge Menschen. Außerdem sind viele mutlos und resignierend, weil sich in ihrem Staat, verglichen mit Polen, Ungarn und der Sowjetunion, so wenig bewegt.

Gern reden wir mit Blick auf eine offene oder nichtoffene deutsche Frage vom gemeinsamen europäischen Haus oder von einer noch immer existierenden deutschen Nation oder Kulturnation. Reden kostet nichts. Und schließlich hatte jeder mit sich selbst zu tun, bis wir so wurden wie wir sind. Ich weiß [] dieser Schlußsatz klingt weder hoffnungsvoll noch pointiert. Aber eine Pointe ist auch nicht in Sicht!

Quelle: „Mußten wir werden, wie wir sind?“, Metall 1989, Nr. 10; abgedruckt in Christoph Kleßmann und Georg Wagner, Hrsg., Das gespaltene Land. Leben in Deutschland, 1945–1990. München, 1993, S. 45.