Quelle
Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
I.
Nach der Besserung wichtiger Rahmenbedingungen (Lohn- und Zinsentwicklung, Leistungsbilanz) und der leichten Aufwärtsbewegung der Produktion im ersten Quartal 1982 haben sich seit Ende des Frühjahrs die Wirtschaftslage und die Voraussetzungen für einen baldigen Aufschwung erneut verschlechtert:
– Unerwartet starker Rückgang der Auslandsnachfrage bei
stagnierender und zuletzt wieder rückläufiger
Binnennachfrage
– Verschlechterung des Geschäftsklimas und
der Zukunftserwartungen in der Wirtschaft (Ifo-Test)
–
Einschränkung der gewerblichen Produktion
– Anstieg der
Arbeitslosigkeit und Zunahme der Insolvenzen.
Der Zinssenkungsprozeß ist zwar – nach zeitweiliger Unterbrechung – zuletzt wieder in Gang gekommen; das Zinsniveau ist aber trotz der insgesamt angemessenen Geldpolitik der Bundesbank immer noch vergleichsweise hoch.
Diese erneute Verschlechterung der Lage ist zum Teil Reflex von Vorgängen im internationalen Bereich (anhaltende Schwäche der Weltkonjunktur, ungewisse Konjunktur- und Zinsentwicklung in den USA, amerikanisch-europäische Kontroversen). Die gesamte Weltwirtschaft steht offensichtlich in einer hartnäckigen Stabilisierungs- und Anpassungskrise. Bei immer noch hohen Inflationsraten und weiter zunehmender Arbeitslosigkeit hält die Wachstumsschwäche in Nordamerika und Europa nun schon ungewöhnlich lange an; auch Japan ist inzwischen in ihren Sog geraten.
Diese weltweite Wachstumsschwäche darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die derzeitigen weltwirtschaftlichen Schwierigkeiten die Summe einzelstaatlicher Fehlentwicklungen sind und daß ein wesentlicher Teil der Ursachen unserer binnenwirtschaftlichen Probleme auch im eigenen Lande zu suchen ist.
Eine Hauptursache für die seit Jahren anhaltende Labilität der deutschen Wirtschaft liegt zweifellos in der weitverbreiteten und eher noch wachsenden Skepsis im eigenen Lande. Die seit über zwei Jahren andauernde Stagnation, die immer neu hervortretenden Strukturprobleme, die wachsende Arbeitslosigkeit, die große Zahl von Insolvenzen, das Bewußtwerden internationaler Zinsabhängigkeit sowie nicht zuletzt die Auseinandersetzungen und die Unklarheit über den weiteren Kurs der Wirtschafts-, Finanz- und Gesellschaftspolitik haben in weiten Bereichen der deutschen Wirtschaft zu Resignation und Zukunftspessimismus geführt. Dieser offenkundige Mangel an wirtschaftlicher und politischer Zuversicht dürfte auch ein wesentlicher Grund dafür sein, daß die kräftige Expansion der Auslandsnachfrage im vergangenen Jahr – entgegen aller bisherigen Erfahrung – nicht zu einer Aufwärtsentwicklung der Binnenwirtschaft geführt hat.
[…]
Das erforderliche Gesamtprogramm für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sollte insbesondere folgende Aktionsbereiche (die in einem inneren sachlogischen Zusammenhang zueinander stehen) umfassen:
A. Wachstums- und beschäftigungsorientierte Haushaltspolitik
Leitlinien:
– Festhalten und Absichern des bisher vorgesehenen mittelfristigen Ausgaberahmens für den Bundeshaushalt
1983 | 1984 | 1985 |
250,5 Mrd DM | 258,0 Mrd DM | 266,0 Mrd DM |
(+ 2%) | -3% | -3% |
– Mehrtätige Verstärkung der wachstums- und
beschäftigungsfördernden Ausgaben (möglichst ohne Folgekosten) bei
gleichzeitiger weiterer Kürzung der konsumtiven Ausgaben
(Umstrukturierung)
– Ausgleich von unvorhergesehenen,
unvermeidlichen Mehrausgaben durch Einsparung an anderen Stellen
des Haushalts
– Ausgleich von Mindereinnahmen, die sich trotz
vorsichtiger Steuerschätzung aufgrund der ungewöhnlich langen
Fortdauer der Konjunkturschwäche ergeben, teilweise auch durch
vorübergehend höhere Nettokreditaufnahme
– Anerkennung der
politischen Führungsaufgabe des Bundes gegenüber Ländern und
Gemeinden bei der Konsolidierung und Umstrukturierung, jedoch
keine neue Mischfinanzierung.
[…]
B. Investitions- und leistungsfördernde Steuerpolitik
Die gegenwärtige und mehr noch die für die Zukunft erwartete Steuerbelastung ist für Investitionsentscheidungen zweifellos von erheblicher Bedeutung; mindestens ebenso bedeutsam sind jedoch die Erwartungen des Investors hinsichtlich der künftigen Lohn-, Arbeitszeit-, Sozial-, Umwelt-, Rechts- sowie Wirtschafts- und Finanzpolitik schlechthin. Insofern darf die Wirkung isolierter Steuermaßnahmen nicht überschätzt werden.
Leitlinien:
– Vermeidung eines Anstiegs der gesamtwirtschaftlichen
Steuerlastquote; kein Ausweichen in parafiskalische Regelungen
(Pfennigabgaben)
– Leistungs- und investitionsfreundlichere
Gestaltung des Steuersystems durch Beseitigung bzw. Reduzierung
folgender Strukturprobleme (macht gezielte Investitionsanreize
weniger dringlich):
[…]
– Weitgehende Kompensation der Steuermindereinnahmen (im
Zusammenhang mit der Lösung der genannten Steuerstrukturprobleme)
durch Anhebung insbesondere der Mehrwertsteuer; jedoch nicht für
die ohnedies notwendige Rückgabe der heimlichen Steuererhöhungen
(„inflationsbedingter Progressionseffekt“)
– Baldige
inhaltliche Festlegung der Steuermaßnahmen, jedoch schrittweise
Realisierung im Rahmen eines vorangekündigten Terminplanes
[…]
C. Konsolidierung der sozialen Sicherung sowie beschäftigungsfördernde Sozial- und Arbeitsmarktpolitik
Leitlinien:
– Dauerhafte Konsolidierung der sozialen Sicherungssysteme ohne
Anhebung von Beiträgen bzw. Einführung von Abgaben
– Stärkere
Berücksichtigung der Prinzipien der Selbstvorsorge und
Eigenbeteiligung sowie der Subsidiarität (soweit wie möglich
dezentralisierte Hilfe, Stärkung der Eigenhilfe durch die Familie
z. B. bei der Pflege älterer Menschen) in allen Bereichen der
Sozialpolitik
– Erleichterung der Flexibilisierung der
Arbeitszeit, jedoch keine staatlich verordnete oder geförderte
Arbeitszeitverkürzung
– Generell keine weitere Einschränkung
der Bewegungsfreiheit der Unternehmen sowie Überprüfung der
bestehenden gesetzlichen Regelungen auf ihre Wirkungen für die
Beschäftigung.
[…]
D. Politik zur Förderung von Marktwirtschaft, Wettbewerb und wirtschaftlicher Selbständigkeit
Die Leistungs- und Innovationsfähigkeit der Wirtschaft wird entscheidend bestimmt durch die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs und die Vielfalt der unternehmerischen Initiativen. Insbesondere die kleineren und mittleren Unternehmen sind infolge ihrer Kreativität, ihres unternehmerischen Wagemutes und ihrer Anpassungsfähigkeit unverzichtbare Träger des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts. Deswegen muß der Förderung der wirtschaftlichen Selbständigkeit und der Bereitstellung von Risikokapital in den nächsten Jahren besondere Aufmerksamkeit gelten.
Leitlinien:
– Abbau von unnötiger Reglementierung und Bürokratie in allen
Bereichen der Wirtschaft und stärkere Verlagerung bisher
öffentlich angebotener Leistungen auf den privaten Bereich; enge
Begrenzung des Postmonopols (kein Vordringen in den
Endgerätemarkt).
– Trotz der schwierigen Wirtschafts- und
Arbeitsmarktlage keine Lockerung der Wettbewerbspolitik und keine
Gewährung von Erhaltungssubventionen; Fortsetzung des Kampfes
gegen die Unternehmenskonzentration, auch um die Wiederholung von
Sanierungsfällen wie AEG zu vermeiden.
– Verstärkte
materielle und immaterielle Förderung der wirtschaftlichen
Selbständigkeit, insbesondere der gewerblichen
Existenzgründung.
– Neuorientierung der Vermögenspolitik
durch relativ stärkere Förderung der Beteiligung am
Produktivkapital.
[…]
Quelle: Manfred Schell, Die Kanzlermacher. Erstmals in eigener Sache: Otto Graf Lambsdorff, Hans-Dietrich Genscher, Wolfgang Mischnick. Mainz: Hase & Koehler Verlag, 1986, S. 27–47.