Kurzbeschreibung

Am 9. September 1982 überreichte Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) ein „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“, das marktwirtschaftliche Prinzipien in den Vordergrund stellte. Es wirkte als Katalysator des endgültigen Bruches der sozialliberalen Koalition und wird deshalb als „Scheidungspapier“ bezeichnet.

„Scheidungspapier“: Das Ende der sozialliberalen Koalition (9. September 1982)

  • Otto Graf Lambsdorff

Quelle

Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit

I.

Nach der Besserung wichtiger Rahmenbedingungen (Lohn- und Zinsentwicklung, Leistungsbilanz) und der leichten Aufwärtsbewegung der Produktion im ersten Quartal 1982 haben sich seit Ende des Frühjahrs die Wirtschaftslage und die Voraussetzungen für einen baldigen Aufschwung erneut verschlechtert:

– Unerwartet starker Rückgang der Auslandsnachfrage bei stagnierender und zuletzt wieder rückläufiger Binnennachfrage
– Verschlechterung des Geschäftsklimas und der Zukunftserwartungen in der Wirtschaft (Ifo-Test)
– Einschränkung der gewerblichen Produktion
– Anstieg der Arbeitslosigkeit und Zunahme der Insolvenzen.

Der Zinssenkungsprozeß ist zwar – nach zeitweiliger Unterbrechung – zuletzt wieder in Gang gekommen; das Zinsniveau ist aber trotz der insgesamt angemessenen Geldpolitik der Bundesbank immer noch vergleichsweise hoch.

Diese erneute Verschlechterung der Lage ist zum Teil Reflex von Vorgängen im internationalen Bereich (anhaltende Schwäche der Weltkonjunktur, ungewisse Konjunktur- und Zinsentwicklung in den USA, amerikanisch-europäische Kontroversen). Die gesamte Weltwirtschaft steht offensichtlich in einer hartnäckigen Stabilisierungs- und Anpassungskrise. Bei immer noch hohen Inflationsraten und weiter zunehmender Arbeitslosigkeit hält die Wachstumsschwäche in Nordamerika und Europa nun schon ungewöhnlich lange an; auch Japan ist inzwischen in ihren Sog geraten.

Diese weltweite Wachstumsschwäche darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die derzeitigen weltwirtschaftlichen Schwierigkeiten die Summe einzelstaatlicher Fehlentwicklungen sind und daß ein wesentlicher Teil der Ursachen unserer binnenwirtschaftlichen Probleme auch im eigenen Lande zu suchen ist.

Eine Hauptursache für die seit Jahren anhaltende Labilität der deutschen Wirtschaft liegt zweifellos in der weitverbreiteten und eher noch wachsenden Skepsis im eigenen Lande. Die seit über zwei Jahren andauernde Stagnation, die immer neu hervortretenden Strukturprobleme, die wachsende Arbeitslosigkeit, die große Zahl von Insolvenzen, das Bewußtwerden internationaler Zinsabhängigkeit sowie nicht zuletzt die Auseinandersetzungen und die Unklarheit über den weiteren Kurs der Wirtschafts-, Finanz- und Gesellschaftspolitik haben in weiten Bereichen der deutschen Wirtschaft zu Resignation und Zukunftspessimismus geführt. Dieser offenkundige Mangel an wirtschaftlicher und politischer Zuversicht dürfte auch ein wesentlicher Grund dafür sein, daß die kräftige Expansion der Auslandsnachfrage im vergangenen Jahr – entgegen aller bisherigen Erfahrung – nicht zu einer Aufwärtsentwicklung der Binnenwirtschaft geführt hat.

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Das erforderliche Gesamtprogramm für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sollte insbesondere folgende Aktionsbereiche (die in einem inneren sachlogischen Zusammenhang zueinander stehen) umfassen:

A. Wachstums- und beschäftigungsorientierte Haushaltspolitik

Leitlinien:

– Festhalten und Absichern des bisher vorgesehenen mittelfristigen Ausgaberahmens für den Bundeshaushalt

1983

1984

1985

250,5 Mrd DM

258,0 Mrd DM

266,0 Mrd DM

(+ 2%)

-3%

-3%

– Mehrtätige Verstärkung der wachstums- und beschäftigungsfördernden Ausgaben (möglichst ohne Folgekosten) bei gleichzeitiger weiterer Kürzung der konsumtiven Ausgaben (Umstrukturierung)
– Ausgleich von unvorhergesehenen, unvermeidlichen Mehrausgaben durch Einsparung an anderen Stellen des Haushalts
– Ausgleich von Mindereinnahmen, die sich trotz vorsichtiger Steuerschätzung aufgrund der ungewöhnlich langen Fortdauer der Konjunkturschwäche ergeben, teilweise auch durch vorübergehend höhere Nettokreditaufnahme
– Anerkennung der politischen Führungsaufgabe des Bundes gegenüber Ländern und Gemeinden bei der Konsolidierung und Umstrukturierung, jedoch keine neue Mischfinanzierung.

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B. Investitions- und leistungsfördernde Steuerpolitik

Die gegenwärtige und mehr noch die für die Zukunft erwartete Steuerbelastung ist für Investitionsentscheidungen zweifellos von erheblicher Bedeutung; mindestens ebenso bedeutsam sind jedoch die Erwartungen des Investors hinsichtlich der künftigen Lohn-, Arbeitszeit-, Sozial-, Umwelt-, Rechts- sowie Wirtschafts- und Finanzpolitik schlechthin. Insofern darf die Wirkung isolierter Steuermaßnahmen nicht überschätzt werden.

Leitlinien:

– Vermeidung eines Anstiegs der gesamtwirtschaftlichen Steuerlastquote; kein Ausweichen in parafiskalische Regelungen (Pfennigabgaben)
– Leistungs- und investitionsfreundlichere Gestaltung des Steuersystems durch Beseitigung bzw. Reduzierung folgender Strukturprobleme (macht gezielte Investitionsanreize weniger dringlich):

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– Weitgehende Kompensation der Steuermindereinnahmen (im Zusammenhang mit der Lösung der genannten Steuerstrukturprobleme) durch Anhebung insbesondere der Mehrwertsteuer; jedoch nicht für die ohnedies notwendige Rückgabe der heimlichen Steuererhöhungen („inflationsbedingter Progressionseffekt“)
– Baldige inhaltliche Festlegung der Steuermaßnahmen, jedoch schrittweise Realisierung im Rahmen eines vorangekündigten Terminplanes

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C. Konsolidierung der sozialen Sicherung sowie beschäftigungsfördernde Sozial- und Arbeitsmarktpolitik

Leitlinien:

– Dauerhafte Konsolidierung der sozialen Sicherungssysteme ohne Anhebung von Beiträgen bzw. Einführung von Abgaben
– Stärkere Berücksichtigung der Prinzipien der Selbstvorsorge und Eigenbeteiligung sowie der Subsidiarität (soweit wie möglich dezentralisierte Hilfe, Stärkung der Eigenhilfe durch die Familie z. B. bei der Pflege älterer Menschen) in allen Bereichen der Sozialpolitik
– Erleichterung der Flexibilisierung der Arbeitszeit, jedoch keine staatlich verordnete oder geförderte Arbeitszeitverkürzung
– Generell keine weitere Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Unternehmen sowie Überprüfung der bestehenden gesetzlichen Regelungen auf ihre Wirkungen für die Beschäftigung.

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D. Politik zur Förderung von Marktwirtschaft, Wettbewerb und wirtschaftlicher Selbständigkeit

Die Leistungs- und Innovationsfähigkeit der Wirtschaft wird entscheidend bestimmt durch die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs und die Vielfalt der unternehmerischen Initiativen. Insbesondere die kleineren und mittleren Unternehmen sind infolge ihrer Kreativität, ihres unternehmerischen Wagemutes und ihrer Anpassungsfähigkeit unverzichtbare Träger des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts. Deswegen muß der Förderung der wirtschaftlichen Selbständigkeit und der Bereitstellung von Risikokapital in den nächsten Jahren besondere Aufmerksamkeit gelten.

Leitlinien:

– Abbau von unnötiger Reglementierung und Bürokratie in allen Bereichen der Wirtschaft und stärkere Verlagerung bisher öffentlich angebotener Leistungen auf den privaten Bereich; enge Begrenzung des Postmonopols (kein Vordringen in den Endgerätemarkt).
– Trotz der schwierigen Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage keine Lockerung der Wettbewerbspolitik und keine Gewährung von Erhaltungssubventionen; Fortsetzung des Kampfes gegen die Unternehmenskonzentration, auch um die Wiederholung von Sanierungsfällen wie AEG zu vermeiden.
– Verstärkte materielle und immaterielle Förderung der wirtschaftlichen Selbständigkeit, insbesondere der gewerblichen Existenzgründung.
– Neuorientierung der Vermögenspolitik durch relativ stärkere Förderung der Beteiligung am Produktivkapital.

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Quelle: Manfred Schell, Die Kanzlermacher. Erstmals in eigener Sache: Otto Graf Lambsdorff, Hans-Dietrich Genscher, Wolfgang Mischnick. Mainz: Hase & Koehler Verlag, 1986, S. 27–47.

„Scheidungspapier“: Das Ende der sozialliberalen Koalition (9. September 1982), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/zwei-deutsche-staaten-1961-1989/ghdi:document-1138> [22.04.2024].