Kurzbeschreibung

Bei den Spekulationen um ein mögliches Ende der sozialliberalen Koalition gehen die meisten Beobachter davon aus, dass die FDP die Koalition verlassen wird. In diesem Aufsatz argumentieren die Autoren, dass das Ende der Koalition jedoch auch durch die Führungskrise in der SPD zustande kommen könne. Der Erfolg der „Grünen“, der NATO-Doppelbeschluss, Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik haben die SPD und deren Führungstroika Helmut Schmidt, Willy Brandt und Herbert Wehner zunehmend gespalten und damit die Stellung des Bundeskanzlers gegenüber dem Koalitionspartner FDP entscheidend geschwächt.

Krise in der SPD (5. Oktober 1981)

Quelle

„Die SPD ist doch nicht euer Eigentum“

[]

In der Spitze der Sozialdemokratie ist offener Krieg entbrannt. Der Wunsch des FDP-Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher, die Bonner Koalitionsregierung dürfe nur ja nicht an den Liberalen[1] zerbrechen, könnte bald schon in Erfüllung gehen.

Ohne Rücksicht auf das Ansehen der Partei hacken die drei an der Spitze aufeinander ein.[2] Was sich an Zorn und Zanklust angestaut hat, entlädt sich nun im offenen Streit.

„Kanzler kommen und gehen, der Parteivorsitzende bleibt bestehen“, reimen Brandt-Mitarbeiter, und der SPD-Chef handelt danach. Für ihn haben die Überlebensinteressen der Partei Vorrang vor der Kanzlerschaft Helmut Schmidts.

Seit der Regierungschef bei der letzten Bundestagswahl trotz des Traumgegners Franz Josef Strauß nur enttäuschende 42,9 Prozent für die SPD zusammenbrachte, hat der Vorsitzende begonnen, „über Schmidt hinaus auf die Zukunft der Partei zu schauen“ (ein Brandt-Vertrauter).

Brandt weiß sich dabei einig mit vielen SPD-Funktionären, etwa mit den Landesvorsitzenden aus Schleswig-Holstein, Günther Jansen, und dem Saarland, Oskar Lafontaine, die in der Bonner Regierungspolitik die Ursache für das Siechtum der Partei in Ländern und Kommunen sehen.

Der designierte rheinland-pfälzische SPD-Vorsitzende Hugo Brandt zur Lage: „Wer heute die Partei mobilisieren will, muß sie gegen die Regierung mobilisieren.“

Willy Brandt sieht sich gefordert, seine SPD vor der „biologischen Bedrohung“ (Brandt) zu bewahren. Die Partei dürfe die junge Generation nicht den Protestbewegungen überlassen, sie müsse offen bleiben für Anhänger der Friedensbewegung, für Alternative und Grüne.

Der Partei-Obere sitzt dabei, in den Worten Hugo Brandts, „zwischen Baum und Borke“. Einerseits zur Loyalität gegenüber der Regierung verpflichtet, kann er andererseits Glaubwürdigkeit bei den neuen Zielgruppen nur gewinnen, wenn er sich in der Friedenspolitik, beim Umweltschutz und in der Energiepolitik gegen die Regierung wendet.

Sein Gegenspieler Helmut Schmidt spürt, daß seine Ära zu Ende geht. Viele Sozialdemokraten haben das Gefühl, dem Macher von einst sei von Hans-Dietrich Genscher, dem heimlichen Kanzler, das Heft aus der Hand genommen worden – in der Haushaltspolitik wie in der Sicherheitspolitik.

Schmidt merkt, daß er nicht mehr mitreißt, daß sich seine Regierungskunst derzeit im Verwalten erschöpft.

Reichlich spät erkennt er, daß es ein Fehler war, seinen Regierungskurs nicht in der Partei abzusichern, und daß es falsch war, sich nie intensiv um das Programm der Partei gekümmert zu haben. Jetzt sieht Schmidt die Gefahr, daß seine Kritiker in der SPD das Fundament der Regierung ins Wanken bringen. „Der Kanzler fühlt“, so einer seiner Berater, „daß ihm der Teppich unter den Füßen weggezogen wird.“

Die Schuldigen sieht Schmidt nicht primär in den erklärten Gegnern seiner Politik wie Eppler, Lafontaine und Jansen. Daß die Kritiker überhaupt zu einer ernsthaften Bedrohung werden konnten, glaubt er, sei Willy Brandt zu verdanken – der nur nach außen loyal zur Regierung stehe, in Wirklichkeit aber durch mehrdeutige Äußerungen die Stimmung gegen Koalition und Kanzler schüre.

[]

Doch diesmal war Brandt, der sich am Vortag noch von der Heftigkeit der Attacken hatte überrumpeln lassen, auf der Hut. In den sechziger Jahren, verteidigte er cool seinen Integrationskurs, habe er sehr spät erst begriffen, daß die Revolte der Jugendlichen nur ein Symptom für die Veränderungen in der Gesellschaft gewesen sei.

Es sei richtig gewesen, die SPD für die Protestgeneration zu öffnen: „Die Partei ist dadurch nicht langweiliger und nicht schwächer geworden.“ Wenn die Sozialdemokraten, um ihre Stammwähler in der Arbeiterschaft nicht zu verunsichern, die Jugendlichen aufgäben, habe die SPD keine Zukunft.

Dann machte Brandt klar, daß er bereit sei, sich dem Kampf mit Schmidt zu stellen: „Ich will euch ehrlich sagen, ändern werdet ihr mich nicht. Zu ändern ist das nur, wenn ihr den Zeitpunkt für gekommen erachtet, zu entscheiden, wer Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei sein soll.“

Schmidt seinerseits versucht, die Macht jener Funktionäre und Parteifürsten zu brechen, die er für die Misere der SPD verantwortlich macht. Helfen soll ihm dabei AfA-Chef Rohde.

[]

Anmerkungen

[1] d.h., die FDP—Hrsg.
[2] Kanzler Helmut Schmidt, Parteivorsitzender Willy Brandt und Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion Herbert Wehner—Hrsg.

Quelle: „Die SPD ist doch nicht euer Eigentum“, Der Spiegel, 5. Oktober 1981, S. 17–21. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.