Kurzbeschreibung

Hildegard Hamm-Brücher (FDP), eine erklärte Befürworterin der Reform des deutschen Bildungssystems, erinnert sich an erfolgreiche Initiativen zur Abschaffung konfessionell getrennter Schulen in Bayern. Sie bekräftigt ihre langjährige Kritik an bürokratischen Strukturen, die eine sinnvolle Koordinierung auf Bundesebene verhindern: Diese würde letzten Endes zu weniger verschiedenen Schulformen und -praktiken führen und bessere Bildungsergebnisse zeitigen.

Schulreformen in den 1960er Jahren (Rückblick, 2011)

Quelle

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Meine eigene Laufbahn als Bildungspolitikerin begann 1950 mit meiner Wahl in den Bayerischen Landtag. Ich wurde von meiner Fraktion zur schul- und bildungspolitischen Sprecherin bestimmt und geriet als junge Liberale alsbald in ein Wespennest. Tapfer stritt ich gegen die damals wieder eingeführte Prügelstrafe in den Schulen, körperliche Züchtigung genannt – sie blieb aber bis in die siebziger Jahre hinein legal. Zudem lernte ich die strikte konfessionelle Trennung von Schülern und Lehrern kennen, die sich in der Lehrerbildung und Schulbürokratie fortsetzte. Sie wurde bis hin zu separaten Fahrradkellern und Salzfächern in Schulküchen praktiziert. Es handelte sich dabei um ein veritables „konfessionelles Apartheidsystem“. Weiterhin kämpfte ich gegen die Nichtaufnahme von Mädchen in staatliche Gymnasien, die ausschließlich auf städtische oder konfessionelle Schulen verwiesen wurden und zumeist mit der mittleren Reife ihre Schullaufbahn beendeten. Auch wehrte ich mich gegen die Entlassung von Lehrerinnen, sobald ihre Männer aus der Gefangenschaft in den Staatsdienst zurückkehrten.

Kurz und gar nicht gut: Das bayerische Schulsystem entwickelte sich nicht weiter, sondern zurück. Die Zahl der ein- und zweiklassigen Zwergschulen, in denen immer alle Jahrgänge von der ersten bis zur achten Klasse von einem Lehrer in einem Klassenzimmer unterrichtet wurden, nahm rasant zu bis zu 8000; Schulbusse wurden als „unsittlich“ verboten. So ergab sich ein riesiges Gefälle zwischen den Bildungschancen für Stadt- und Landkinder, letztere besuchten meist nur sieben, später acht Jahre die Volksschule. Als ich das im Landtag mit selbst gebastelten Schaubildern und Statistiken veranschaulichen und damit die großen Ungleichheiten demonstrieren wollte, wurde ich des Sitzungssaals verwiesen. Stattdessen tourte ich dann mit meinen Schaubildern über Land, diskutierte auf Elternabenden und überzeugte so Wählerinnen und Wähler von der bayerischen Schulmisere.

Schon Anfang der sechziger Jahre, ich war in der dritten Legislaturperiode „MdL“ (Mitglied des Landtages), ohne dass auch nur ein einziger meiner zahllosen Anträge und Interventionen angenommen worden war, fasste ich [] den Entschluss, mit Hilfe des Artikels 74 der Bayerischen Verfassung, den der SPD-Verfassungsrechtler Wilhelm Hoegner aus der Schweizer Emigration mitgebracht hatte, Unterschriften zu sammeln. Sie sollten für ein Volksbegehren sein, zugunsten der Einführung einer christlichen Gemeinschaftsschule anstelle des nach Konfessionen getrennten Systems.

Das hatte noch niemand versucht. Als ich aber spürte, wie unzufrieden die Eltern mit der rigiden konfessionellen Trennung ihrer Kinder in den Schulen waren – ich gehörte mittlerweile auch dazu, mein Mann war Katholik, die Kinder evangelisch getauft, in welche Schule also mit ihnen? – , dachte ich daran, diesen Vorstoß zu wagen. Im Frühjahr 1966 entstanden fast überall in Bayern Elterngruppen, die damit begannen, die notwendigen 25 000 Unterschriften für einen Antrag zusammenzubringen. Innerhalb kürzester Zeit hatten wir die doppelte Zahl beisammen. Über Megafone gaben wir Informationen, Unterschriftenlisten lagen auf Plätzen und in Geschäften aus, mit Fahrradkorsos und anderen Veranstaltungen mobilisierten wir genügend Eltern, um dann den zweiten Schritt, das eigentliche „Begehren“, in Angriff zu nehmen. Dafür waren mindestens zehn Prozent amtlich beglaubigter Unterschriften von Wahlberechtigten aus ganz Bayern erforderlich. Niemand traute uns zu, dass wir dieses Ziel erreichten. Wir hatten keine großartige Organisation, keine Ressourcen im Hintergrund, nur unser Engagement. Gegen uns waren außer der CSU mit ihrem flächendeckenden Apparat beide Kirchen, einige evangelische Pfarrer ausgenommen. Ich wurde mit meinen Schulplänen sogar im Gottesdienst als „glaubensfeindlich“ buchstäblich abgekanzelt.

Mit 9,6 Prozent verfehlten wir nur knapp das Ziel, aber in einem zweiten Anlauf zwei Jahre später, bei dem sich nun auch die SPD offiziell beteiligte, schafften wir es glatt. Für die letzte Stufe, den eigentlichen Volksentscheid, einigte man sich auf einen vernünftigen Text, der schließlich von allen Volksvertretern im Landtag, ausgenommen einigen besonders klerikalen CSU-Abgeordneten, mitgetragen wurde. Heute ist die christliche Gemeinschaftsschule in Bayern selbstverständlich, und kein Mensch weiß mehr, wie hart und verleumderisch es damals bei unserem „Kulturkampf“ zugegangen ist. Einige Jahre später durften sogar die ehedem als „unsittlich“ bezeichneten Schulbusse eingeführt werden.

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Progressive Bildungspolitik auf Länderebene mit ständigem Blick auf das Ganze zu betreiben, das bedeutete für mich, permanent von zwei Seiten eingegrenzt zu werden. Zum einen wurde ich von der Kultusministerkonferenz der Länder (KMK) blockiert, die sich außerhalb der beiden Verfassungsebenen des Grundgesetzes in einer gleichsam dritten Instanz zu einer Mammutbehörde ausgebreitet hatte. Die KMK unterliegt keinerlei parlamentarischer Kontrolle, und auch Sitzungsprotokolle sind selbst für Landtagsabgeordnete nicht einsehbar. Da ich als hessische Staatssekretärin selbst für eine Zeit Mitglied der KMK war, kann ich manch garstig Lied von ihrem abstrusen bürokratischen Machtanspruch singen. Deshalb meine ständige Forderung: die KMK gehört aufgelöst und stattdessen eine Länder- Bund-Zusammenarbeit installiert, wenn möglich unter einem Dach. Damit könnte das ständige Gerangel um den Kulturföderalismus entschärft werden. Denn ein kooperatives Wirken von Bund und Ländern in diesem Bereich – und dies war die zweite Blockade – wurde ständig behindert oder gar unmöglich gemacht. Bei der KMK hat sich die Situation bislang nicht viel geändert, und sie ist – politisch gesehen – ein zählebiges Relikt aus reformfeindlicher Länder-Eigenbrötelei.

Bis heute bedauere ich, dass es nicht gelungen ist, Erziehung und Bildung kommender Generationen zu einer gemeinsamen Aufgabe von Bund und Ländern zu machen; nicht zentralistisch, jedoch im Sinne einer gesamtstaatlichen Verantwortung. Dies wäre ein entscheidend wichtiges Thema für die gegenwärtige wie auch für die künftige Bildungspolitik im Land, in Europa und weltweit.

Quelle: Hildegard Hamm-Brücher, Und dennoch …. Nachdenken über Zeitgeschichte – Erinnern für die Zukunft. © 2011 Wolf Jobst Siedler Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, S. 122–26.

Schulreformen in den 1960er Jahren (Rückblick, 2011), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/zwei-deutsche-staaten-1961-1989/ghdi:document-5039> [23.04.2024].