Kurzbeschreibung

Der durch das Buch Die deutsche Bildungskatastrophe bekannt gewordene Pädagoge Georg Picht kritisiert die Engstirnigkeit des traditionellen deutschen Wissenschaftsbetriebes und plädiert für eine Reform des Hochschulwesens, die sowohl eine Umorientierung des Lehrstoffes wie eine Zukunftsplanung beinhalten müsse.

Die deutsche Bildungskrise (1963)

  • Georg Picht

Quelle

Tradition und Zukunft der Universität

[] Die Gründe für die innere Schwäche unserer Hochschulen sind nicht schwer zu erkennen. Schon der Erste Weltkrieg bedeutete einen furchtbaren Aderlaß, für den der Name Langemarck zum Symbol geworden ist; die jüngere Elite der deutschen Wissenschaft wurde sinnlos geopfert. In der Weimarer Zeit reichte die Finanzkraft des durch Reparationen und Wirtschaftskrise belasteten Staates nicht aus, um den im Zuge der Weltentwicklung erforderlichen Ausbau der Hochschulen in die Wege zu leiten; wir leiden noch heute unter den Versäumnissen von damals. Mit dem Nationalsozialismus brach dann über die deutschen Hochschulen eine Katastrophe herein. Bis zum Wintersemester 1934/35 waren bereits 14,8 Prozent der Hochschullehrer entlassen worden. Nach einer Schätzung von 1938 wurde bis dahin ein Drittel aller Lehrkräfte an Hochschulen entlassen, zwangsweise pensioniert oder versetzt. Die wissenschaftsfeindliche Haltung des Regimes führte dazu, daß die Studentenzahl im Wintersemester 1938/39 (55 300) auf etwa die Hälfte der entsprechenden Zahl des Wintersemesters 1928/29 (111 600) gesunken war. Dies gilt auch für die Naturwissenschaften und für die technischen Fächer. So wurde in einer Zeit, in der die Weltstellung eines Staates immer mehr von seinem wissenschaftlichen Potential abhängig wird, die deutsche Wissenschaft bewußt abgebaut und ideologisch vergiftet. Über die derart äußerlich geschwächte und moralisch und geistig in einen furchtbaren Krankheitsprozeß verstrickte Wissenschaft brach dann der Zweite Weltkrieg herein, der neue riesige Blutopfer forderte, unersetzliche Institute und Bibliotheken vernichtete und mit dem Verlust einer Reihe der bedeutendsten Hochschulen und Universitäten endete.

Aus diesen Feststellungen ergibt sich eine sehr einfache Folgerung: Die ältere, heute die Hochschulen regierende Generation, hat durch die Emigration und durch den Krieg solche Verluste erlitten, ist durch die Erfahrungen des Nationalsozialismus in ihrer Selbstgewißheit so erschüttert und hat in den Kriegs- und Wiederaufbaujahren so viele Kräfte für wissenschaftsfremde Aufgaben verschwenden müssen, daß ein Neubau der deutschen Hochschulen von ihr nicht erwartet werden kann. Wenn wir noch Hoffnung haben, daß die deutsche Wissenschaft einmal wieder internationale Geltung erlangt, so ruht diese Hoffnung auf der jungen Generation. Die Zukunft der deutschen Hochschulen hängt davon ab, ob die geistig lebendigen Kräfte unter den jungen Dozenten und den Studenten die Aufgaben erkennen und ergreifen, die ihnen in einer neuen Welt gestellt sind. Wie sehen diese Aufgaben aus?

1. Die Wissenschaft bestimmt in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens die Welt der technischen Zivilisation. Sie ist in einem noch kaum begriffenen Maße das Grundgesetz der modernen Welt geworden. Die wirtschaftliche und politische Selbstbehauptung eines Staates ist deshalb schlechterdings abhängig von der Zahl und dem Niveau der Wissenschaftler, die ihm zur Verfügung stehen. Da die gesteigerten wissenschaftlichen Anforderungen sich zwangsläufig auf sämtlichen Bildungsstufen bis hinab zur Volksschule durchsetzen, ist gleichzeitig ein erheblicher Ausbau des gesamten Bildungswesens erforderlich, denn von dem Stand des Bildungswesens hängt die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft ab. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, müssen wir uns auf eine Expansion der wissenschaftlichen Hochschulen einstellen, die über die bisherigen Pläne des Wissenschaftsrates noch weit hinausgreift. Wir haben jenen verzweifelten Punkt erreicht, wo eine Steigerung der Qualität nur noch durch eine Steigerung der Quantität und die damit verbundene Niveausenkung erreicht werden kann, weil die numerische Relation zwischen den qualifizierten Lehrern und der Zahl der Studenten so unsinnig geworden ist, daß die Qualität sich nicht mehr vermitteln läßt.

2. Die Wissenschaft lebt noch in dem Gehäuse der alten Humboldt-Universität, aber von dem universalen Geist, der diese Universität inauguriert hat, ist heute nur noch wenig zu spüren. Tatsächlich sind unsere Hochschulen heute eine äußerliche Zusammenfassung von hochspezialisierten und nach dem Prinzip der Arbeitsteilung organisierten Fachinstituten. Sie haben in ihren Denkweisen und ihren Methoden eine frappierende Ähnlichkeit mit jener Wissenschaft des 18. Jahrhunderts, die einst die Philosophie des deutschen Idealismus durch eine Revolution des Denkens zu überwinden hoffte. Ähnlich wie damals und doch in einem ganz neuen Sinne gilt es heute zu erkennen, daß das Bewußtsein der angeblich modernen Spezialwissenschaften auch wissenschaftlich rückständig ist. Es ist rückständig, weil es der tatsächlichen Stellung und der realen Funktion der Wissenschaft in der technischen Welt nicht gerecht wird. Die Forschungsergebnisse der Spezialwissenschaften übersetzen sich heute unmittelbar in die technische, wirtschaftliche und politische Praxis einer Gesellschaft, die konstitutionell unfähig ist, sich gegen die Auswirkungen der Wissenschaft selbständig und kritisch zu verhalten. Damit sind die überlieferten Vermittlungen zwischen Theorie und Praxis hinfällig geworden. Die Theorie ist selbst und unmittelbar die radikalste Praxis unserer Zeit. Wenn die Wissenschaft Wissenschaft bleiben soll, muß sie sich diesem Tatbestand stellen, das heißt, sie muß ihn bewußt zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion erheben. Das theoretische Durchdenken der möglichen Folgen der Wissenschaft und die Theorie der Weltbezüge der Wissenschaft werden notwendig zu einem Bestandteil der Wissenschaft selbst.

3. Da die praktischen Auswirkungen der wissenschaftlichen Forschung nur von den Wissenschaftlern selbst überschaut werden können, fällt der Wissenschaft zwangsläufig eine Aufgabe zu, die bisher den Politikern vorbehalten war. Nur die Wissenschaft ist der modernen Form der Politik gewachsen, nämlich der Planung – einer Planung, die, wenn sie Hand und Fuß haben soll, sich auf wissenschaftlich fundierte Prognosen stützen muß. Die Wissenschaft kann sich diesem Auftrag nicht entziehen, denn die Machtmittel, die sie heute bereitstellt, sind so gewaltig, daß es katastrophale Folgen haben müßte, wenn man sie weiterhin bedenkenlos Politikern auslieferte, die wissenschaftliche Dilettanten sind. Der Forscher kann sein Gewissen nicht mehr durch das rückständige Bewußtsein einer angeblich reinen Wissenschaft salvieren.

4. Damit öffnen sich aber wieder die großen Horizonte, in denen die Gründer der Berliner Universität den Auftrag der Wissenschaft einst gesehen haben. Denn aus dem bisher Gesagten ergibt sich, daß die Verantwortung der Wissenschaft in der modernen Gesellschaft nur wahrgenommen werden kann, wenn sie im Blick auf ihre möglichen Wirkungen die großen geistigen, politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge im Auge behält, in denen jede wissenschaftliche Erkenntnis ihren Ort hat. Die Wissenschaft muß das, was sie selber tut, wieder zum Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis machen. Das ist aber das klassische Thema der Wissenschaft von der Wissenschaft, nämlich der Philosophie, die sich, wo sie in großem Stile auftrat, stets auch als Wissenschaft von der Politik verstanden hat. Deshalb verbindet sich in diesem Auftrag die Tradition der deutschen Universität mit den Zukunftsaufgaben der Wissenschaft.

Nicht nur die Zukunft unserer Hochschulen, sondern auch die Zukunft unseres Staates und unserer Gesellschaft, vielleicht sogar der Bestand der Menschheit hängen davon ab, ob es der Wissenschaft gelingt, die hier skizzierten Aufgaben zu lösen. Gelöst werden können sie aber, wie schon gesagt, nur durch die junge Generation. Wer heute eine Wissenschaft erlernt, sollte zugleich ein Bewußtsein für die unermeßliche Verantwortung entwickeln, die in unserer Zeit mit der Ausübung einer jeden Wissenschaft verbunden ist. Über die einzelne wissenschaftliche Leistung hinaus muß sich ein allgemeiner Bewußtseinswandel und eine allgemeine Horizonterweiterung vollziehen. Ein solcher Prozeß kommt aber nur in Gang, wenn jeder einzelne sich daran selbsttätig beteiligt. Sollte unsere Kultur in einer Katastrophe zugrunde gehen, so liegt die Schuld bei der geistigen Lethargie, der spezialistischen Blindheit und jener spießerhaften Gesinnung, die über den eigenen Gartenzaun nicht hinausschauen will. Jeder ist heute dazu aufgerufen, diese lebensgefährliche Mentalität, die sich gerade auch an unseren Hochschulen breitmacht, zu bekämpfen.

Quelle: Georg Picht, „Tradition und Zukunft der Universität“, (1963); abgedruckt in Irmgard Wilharm, Hrsg., Deutsche Geschichte 1962–1983. Dokumente in zwei Bänden, Bd. 1, Frankfurt am Main, 1989, S. 23133. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.