Kurzbeschreibung

In einem Buch, das in der DDR zum „Bestseller“ wurde, berichtet Landolf Scherzer von den Mühen der Parteipolitik auf lokaler Ebene. In dieser Schilderung fragt der 1. Kreissekretär der SED in Bad Salzungen unter anderem, ob der einzelne Mitbürger, der mehr staatliche Leistungen verlange, auch willens sei, seinen Beitrag dazu beizutragen.

Wirtschafts- und Sozialpolitik auf Kreisebene (1986)

  • Landolf Scherzer

Quelle

Dienstag, 2. Dezember
Vergilbte Losungen

Die milden Herbsttage sind zu Ende. Heute morgen gefriert der Regen zu durchsichtigen Eishäuten.

HDF und ich schlittern durch die Stadt. Parteileitungssitzung im Kaltwalzwerk, in jenem Salzunger Betrieb, der sich nach einem „Staatsplanvorhaben“ in den nächsten Jahren zweimal vergrößern wird, der eines der modernsten Walzgerüste des RGW erhält und die Produktion von extrem dünnem Stahlblech um hundert Prozent steigern soll . . .

Horst Gubitz, der Parteisekretär, empfängt uns beim Pförtner. Er strahlt.

Der Erste fragt, weshalb er so fröhlich sei. (Vielleicht sind fröhliche hauptamtliche Parteisekretäre verdächtig – außer bei der Feier auf dem Kissel habe ich in den vier Wochen keinen fröhlich gesehen.)

Der Plan sei übererfüllt, sagt Horst Gubitz, außerdem das Kampfprogramm der Partei für 87 fertig . . .

HDF lobt, dann sagt er: „Aber schau mal, über dem Pförtnerhaus und dort am Verwaltungsgebäude . . .“

Weiße, schon unkenntliche Schrift auf rotem Stoff. Er habe neulich 17 dieser Losungen im Betrieb gezählt, sagt HDF, alle von „krumm nach schräg“, und fragt, ob die Arbeiter besser arbeiten, wenn sie fünf Jahre lang lesen, daß die Beschlüsse des XI. Parteitages erfüllt werden, und danach die XI durch eine XII ersetzt wird . . .

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Das Programm ist nicht dünngewalzt, insgesamt 18 Seiten stark . . . 95 Prozent aller Lehrlinge sollen sofort nach Abschluß die Leistung eines Facharbeiters bringen . . . die Produktion muß rechnergesteuert werden . . . 50 Prozent der Werktätigen sollen sich am Neuererwesen beteiligen, davon genau 72 Prozent Jugendliche . . . der Export soll auf 200 Prozent gesteigert . . . Ausschuß um 10 Prozent gesenkt . . . Q-Produktion um 80 Prozent erhöht werden . . .

Hinter 36 Kampfpositionen steht: Verantwortlich – BD (das heißt Betriebsdirektor). Termin – laufend.

An der Parteileitungssitzung kann der BD nicht teilnehmen, er wurde vom Minister kurzfristig nach Berlin bestellt. Ich versuche mir vorzustellen, wie viele Arbeitstage er allein dafür brauchen wird, alle seine 36 Kampfpositionen einmal im Monat zu kontrollieren und zu analysieren und Weisungen zu geben . . .

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Noch vor drei Jahren habe man in zehn Minuten durch das Kaltwalzwerk laufen können, heute brauche man dafür eine dreiviertel Stunde. Mehr als für die ganze Innenstadt von Salzungen, sagt HDF. In diesen Dimensionen müsse die Partei denken, wenn sie Kampfprogramme ausarbeite . . .

So gedankenlos wie in manchen Versammlungen die ökonomische Strategie der Partei, die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, jedem Referat und Diskussionsbeitrag vorangestellt werde, so einfach sei sie in der Praxis nicht zu verwirklichen. Die Wirtschaftspolitik hier im Kaltwalzwerk durchzusetzen – mit neuer Technologie zweistellige Steigerungsraten zu erreichen – das alles sei eine überschaubare, abrechenbare, also bei allen Problemen lösbare Aufgabe. Auch die Sozialpolitik, die besseren Arbeitsbedingungen, ein neuer Speiseraum . . . alles sei in diesem Fall eine planbare, bekannte Größe. Es wäre sogar noch relativ einfach, die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik so zu erklären, daß jeder versteht: Je billiger und schneller in unseren Betrieben produziert wird, um so mehr Wohnungen können wir bauen, um so mehr Kindergarten-Plätze werden wir haben. . . Auch mit dem Slogan: Wir leisten was – Wir leisten uns was, könne man allgemein sehr überzeugend argumentieren, sagt der Erste. Aber sobald es konkret werde, in der Grundorganisation, bei jedem einzelnen Genossen im Betrieb – dort, wo sich alle Strategien erst verwirklichen –, sei es komplizierter. Über das „Wir leisten uns was“ werde oft und gern geredet und geschrieben: die neue Wohnung, der neue Jugendklub, der Farbfernseher. Aber noch nicht alle wären bereit, mit der gleichen Begeisterung, offen und ehrlich darüber zu reden, was ein jeder, wirklich jeder, dafür leistet. Doch erst dort, mit der Arbeit des einzelnen, schließe sich der Kreis, der Zusammenhang von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Deshalb gehörten zu den Kampfprogrammen der Partei, die in diesen Tagen aufgestellt würden, nicht nur die ökonomischen Aufgaben, sondern vor allem Fragen der Ideologie, der Offenheit, der Ehrlichkeit, der Kritik und Selbstkritik. So wie es die Partei beschlossen habe . . .

Quelle: Landolf Scherzer, Der Erste. Eine Reportage aus der DDR. Köln, 1989, S. 196–200. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Autors.