Kurzbeschreibung

Dieser Text enthält eine merkwürdige Mischung aus Beschreibung (des Lebens junger und heranwachsender Dorfbewohner, besonders derer, denen es nicht bestimmt war, den familiären Hof zu erben) und Vorschreibung (insbesondere normativer täglicher Arbeitsleistung). Aus seiner rhetorischen Form lässt sich schließen, dass der Text als Ansprache oder Predigt an ein dörfliches Publikum intendiert war. Gleichzeitig gab er der gebildeten Leserschaft eine Zusammenfassung dessen, was die durch gesellschaftliche Instanzen definierte Gewohnheit den einfachen Leuten im Alltag vorschrieb.

„Die Erziehung des lippischen Landmanns“ (1789)

Quelle

Die Erziehung des lippischen Landmanns

Es wird nicht unwichtig vielmehr für Philosophen, Volkslehrer und Oeconomen nützlich seyn; den Mann und dessen Erziehung näher kennen zu lernen, der [] täglich von früh Morgens an bis in die späte Nacht mit gemeinnützlichen Arbeiten sich beschäftigt, durch den die Erndten vervielfältigt werden, der unabläßig die Zuzucht des Viehes besorgt, und sich die Vermehrung desselben angelegen seyn läßt.

So wie die allgemeine Naturgeschichte dann erst lehrreich und nützlich wurde, wie man Lebensart und Charakter einzelner Thiere sorgfältiger beobachtete und emsiger studierte; so kann auch Menschenkenntniß und Menschenliebe befördert werden, wenn man statt allgemeinen Formeln und Gemeinörter individuelle Züge und Beobachtungen von Menschen sammelt, die mit uns unter einem Himmel gebohren sind, und die den zahlreichsten Theil der Nation ausmachen.

Die hier nachfolgende Beschreibung der Erziehung und Geschäfte des Lippischen Landmanns von der Kindheit an bis ins männliche Alter kann nebenher dazu nützen, Arbeitsamkeit, Fleiß und Industrie bekannter zu machen, damit es den Unwissenden nicht an Beyspielen zur Nachahmung fehle:

Gleich nach seiner Geburt hat dieser Zögling der Natur, alle die Vortheile, die zur Entwickelung eines Körpers gehören der beyzunehmenden Jahren allen Abwechslungen einer feuchten Luft und rauhen Witterung ausgesetzt seyn, und zu schweren Arbeiten ausgebildet werden soll. An dem Busen seiner Mutter empfängt er die stärkende Milch []

So wie Wasser aus einer frischen Quelle mehr stärkt als das aus einem stillstehenden Teiche, so muß auch seine erste Nahrung zur Gesundheit und zum Wachsthum des Kindes ungemein zuträglich seyn.

Drey Jahre lang wird das Kind auf die Art unterhalten. Ob diese Erziehungsweise für Mutter und Kind gleich vortheilhaft sey, darüber mögen die Aerzte spekuliren. In Ansehung des Kindes ist der Vortheil entschieden, indem da die säugende Mutter sich allen Arbeiten unterzieht, des Kindes Gliedmaaßen, Rückgrad und Nerven frühzeitig zu allerley Bewegungen gebogen und gestärkt werden ehe es laufen kann. Die Sorgfalt der Mutter fürs Kind wird durch diese anhaltende zärtliche Verbindung auch nicht wenig erhöhet.

Das Gehen lernt es auf der Stube unter Aufsicht der Mutter kann auch ohne Gefahr auf der weitläuftigen von dem Feuerheerd abgekleideten leimernen Deel (Dreschtenne) sich mit laufen und springen zu der Bewegkeit und Fertigkeit vorbereiten, die zu seiner künftigen Bestimmung gehört.

Kaum ist diese erste Uebungszeit der körperlichen Kräfte zurückgelegt, so leistet das Kind vom vierten Jahre an, meistens dem Kuhhirten Gesellschaft, wird also unter dessen Aufsicht schon frühzeitig mit der väterlichen Flur bekannt, worauf es die erste Laufbahn seines arbeitsamen Lebens anfangen soll. Im siebten Jahre seines Alters, worinn die Zeit der moralischen Bildung, nach gesetzlicher Vorschrift, seinen Anfang nimmt wird die körperliche Uebung mit Schulgehen, nach einer, oft eine halbe Stunde von dem elterlichen Hause, entfernten Schule, heilsam fortgesetzt, der Körper dabey zu den Abwechselungen der Witterung nach und nach im Winter abgehärtet, wo die Schulzeit Vormittags und Nachmittags jedesmal auf drey Stunden festgesetzt ist.

Damit aber der Knabe außer den Schulstunden nicht unbeschäftigt bleibe, muß er beym Schulgehen, von Martini [11. November] oder von der Zeit an, wenn das Vieh aufgestallt wird, bis Maytag [1. Mai], täglich 7 Bind Garn, jedes Gebind zu 66 Faden über den langen Haspel von viertehalb Ellen, und in Gegenden, wo klein Garn gesponnen wird, 10 Gebind zu 60 Faden über den zwey und ein viertel Ellen langen kleinen Haspel liefern, in der Zeit von Maytag bis 14 Tage nach Michaelis [Michaelis = 29. September] aber die Gänse hüten und dabey der Schulordnung gemäß in der Mittagszeit, einige Stunden nach der Schule gehen.

Von der Wilbaser Kirmis an (14 Tage vor Michaelis) wird in der Ucht (der Zeitraum von des Morgens 2 Uhr an, bis Tagesanbruch) das Reinemachen des Flachses, so lange es die Witterung zuläßt, vorgenommen, 4 Personen Klein und Groß vom Pferdejungen angerechnet, müssen in der bemerkten Zeit vor dem Frühstück einen gebockten Boten (ein Gebund Flachs zu 50 bis 60 Pfund schwer) den die Hausfrau des Abends vorher, auf die Deel gebracht hat, fertig rakken, (d. i. auf der hölzernen Flachsbreche brechen) so daß ihn die Hausfrau und Mägde am Tage strippen (über die Flachsbreche ziehen) ribben und hecheln können. Diese Arbeit wird auf der Deel bey einer wohl verwahrten Leuchte, bey deren Schein der Knecht in der Schneidekammer zugleich das Futter schneiden muß, so lange emsig fortgesetzt, bis die eintretende Kälte, die sämtliche Hausfamilie in die Spinnstube treibet.

Hier wird in langen Winterabenden, von Hausherrn, Frau und dem Gesinde, klein und groß, von jedem, die ihm nach Maasgabe des Alters und der sonst obliegenden Geschäfte herkömmlich angewiesene gewisse Zahl Gebinde Garns, bey einem, an einem beweglichen hölzernen Haken, mitten in der Stube hangenden Lampen gesponnen. Die vielleicht zu freien Gespräche der Alten durch die Gegenwart der Kinder, und der Muthwille der letztern durch den Ernst der Alten gemäßigt, und so die Zeit in angenehmen Kreisen mit Spinnen zugebracht, die sonst doch nur mit Nichtswürdigkeiten vertändelt seyn würde. Wie sehr würde lange Weile Menschen martern, die sich durch spekulative Betrachtungen nicht unterhalten können, wenn ununterbrochene Arbeit und Beschäftigung ihnen diese Unterhaltung nicht wohlthätig gewährte.

Wie viel Garn jeder er sey klein oder groß in diese Spinnstube täglich liefern müsse, soll bey der stuffenartigen Beschreibung eines jeden emsigen Bedienten in dieser gemeinschaftlichen Vorrathsstube hiernächst bemerklich gemacht werden. Das was der 7jährige Knabe, der die Gänse hütet liefern muß, ist schon vorhin bemerkt.

Dieser wird im 9ten Jahre Kuhhirte. Das Kuhhüten dauert von Maytag an bis Martini, wobey er in der Mittagszeit wenigstens eine Stunde in die Schule gehen, oder wenn dies nicht möglich ist, den Heidelbergischen Catechismus und Psalter, nach Verordnung des Schulmeisters lernen, des Winters aber 6 Stunden in die Schule gehen; dabey täglich entweder 9 Binde Garn über der langen oder 15 Bind über den kleinen Haspel spinnen muß.

Vom 10ten bis ins 12ten Jahre bleibt es beym Kuhhirten, Schulgehen und Zahl Garn spinnen wie in der vorhergehenden Epoche.

Vom 12ten bis ins 13te Jahr muß er aber des Sommers alle Sonntag Nachmittag in die Kinderlehre gehen, (nehmlich in die Kirche wo der Prediger catechesirt) damit die Begriffe der Religion in den Gemüthern erneuert werden, die sonst bald ausarten würden und damit der Jüngling nicht in Unwissenheit zwischen den Viehheerden aufwachse.

Der Kuhhirte bekommt, wenn er nicht bey seinen Eltern ist, an Lohn vom Sommer 1 Rthlr., und 3 Ellen Mengellakenlinnen (von einmal gehechelten Flachse, wozu heeden Einschlag kömmt) zum Hemde.

Vom 13ten Jahre an wird er Pferdejunge und gehet dabey von Martini (den 11ten Nov.) an des Winters 6 Stunde in die Schule und einen Tag um den andern auch zuletzt tagtäglich zum Prediger zur Confirmation, die dann gewöhnlich vor Maytag erfolgt damit ein jeder die ihm obliegende Dienste thun könne.

In dieser Zeit vom 13ten bis ins 16te Jahr muß er als Pferdejunge, des Sommers den Pflug treiben auch solchen zuweilen halten, in der Heuerndte heuen helfen, in der Kornerndte abnehmen (gemehet Schwaden Korns in Ordnung legen) und harken.

Des Abends die Pferde hüten, im Herbste aber in der Ucht Flachs racken, im Winter die Pferde streuen, striegeln, Wasser tragen, das Schaufkorn, Stroh und Heu, vom Fourage-Boden werfen, und in die Schneide- oder Futterkammer bringen, auch Holz hauen, beym Dreschen entweder Wenden, und dabey, wenn er im Christenthum confirmirt ist, und nicht mehr zum Prediger geht, 15 bis 20 Gebind Garn über den langen Haspel oder 25 bis 30 Gebind über den kleinen Haspel spinnen; wenn aber nicht gedroschen wird 20 Bind d. i. ein Stück Garn über den langen oder anderthalb Stück über den kleinen Haspel, auch wenn er 17 Jahre alt wird 25 Gebind über den langen Haspel liefern. Er bekömmt nach der Gesindeordnung vom 6ten Febr. 1752 jährlich an Lohn 4 Rthlr. dabey nach dem Herkommen zu zwey Hemder das Mengellakenlinnen.

Nach erfolgter Bestätigung im Christenthum wird er gleich nach vollendeten 16ten Jahre enrollirt, und in die Conscriptionsliste eingetragen dabey von ihm nach der Landesherrlichen Verordnung vom 19ten Febr. 1765 an Eidesstatt feyerlich angelobt, daß er sein Vaterland nicht verlassen, ohne Urlaub und Paß nicht in andere Länder sich begeben, noch über die Zeit des Urlaubs ausbleiben wolle []

Vom 17ten bis ins 20te Jahr wird er Schulte, Kleinknecht, dieser muß im Sommer alle ungemessene Hofarbeit verrichten, die ihm Herr und Frau befehlen, und wozu der Pferdejunge und Grosknecht nicht gebraucht werden können. Er muß im Garten graben, Hecken schlüchtern und Wiepe (zur Bekleidung der Zäune) daraus verfertigen, Holz hauen, den Pflug halten, und in der Erndte mehen helfen.

Im Herbste von Wilbaser Kermis an und im Winter bis Petri Stuhlfeyer (22ten Febr.) in der Ucht dreschen helfen, des Abends die zu dreschende 4 Haufe Korn, vom Boden auf die Deel schaffen, dabey ein Stück Garn über den langen oder anderthalb Stück über den kleinen Haspel spinnen; wenn aber ein ganzes Tagwerk Korn 8 Haufe der Hauf zu 10 Schaufe gerechnet gedroschen wird, so spinnt er über den langen Haspel, ein halb Stück zu 10 Gebind, oder 13 Gebind über den kleinen Haspel, sogenanntes klein Garn.

Wird aber an einem Tage gar nicht gedroschen, so muß er anderthalb Stück über den langen oder zwey Stück Garn über den kleinen Haspel liefern. Um Petri Stuhlfeyer werden, wenn es die Witterung erlaubt, Hofarbeiten vorgenommen.

Dabey muß der Schulte Hecken schlüchtern, Wiepe hauen und auf die Zäune bringen: beym Anfahren des Schlag- und Schlüchterholzes für den Sommerbrand helfen. In der Frühjahrsbestell- und Brachzeit nehmlich in den Monaten April, May, Junius den Pflug halten, Erde aufladen helfen, in der Erndte mehen und das Korn aufstechen (mit der Forke dem Knecht auf den Wagen zu bringen.)

In diesem Zeitraum eures Lebens fangen zwar die Leibeskräfte an, merklich zuzunehmen, aber desto vorsichtiger müsset ihr bey dem Gebrauch derselben seyn, denn nie könnt ihr mehr in Gefahr kommen, eure Gesundheit zu zerrütten, als in eben diesem Zeitraume.

Bey Verhitzungen kann entweder durch einen kalten Trunk oder durch plötzliche Verkältung eine Stockung der Säfte in den kleinen Gefäßen und in den edelsten innern Theilen des Körpers entstehen, worauf dann Ruhren, Auszehrung und Schwindsucht, oder wie das Heer von Krankheiten sonst heißen mag, unmittelbar folgen.

Hauptsächlich meidet die Reizungen der Wollust und das Laster der Unkeuschheit, damit die Lebensgeister vor den Jahren nicht abnehmen und die schrecklichen Folgen der Selbstschwächung, wofür die Weisen des Volks immer mit wehmüthigen Ernst gewarnt haben; nemlich Trägheit, Trübsinn, Schwermuth, stumpfe Albernheit, Mangel des Gedächtnisses, Wahnwiz, Steifigkeit und Lähmung der Glieder, euch im Alter nicht treffen. Denn die meisten Uebel, die man im Alter duldet, kommen oft von Auschweifungen her, denen man sich in der Blüthe seiner Jahre überlassen hat.

Vom 21ten Jahre an kann der nunmehro erstärkte und abgehärtete Jüngling, die Dienste eines Großknechts übernehmen, muß 4 bis 8 Pferde füttern und Futter dafür schneiden, von Petri-Stuhlfeier bis zur Zeit wo der Pflug zu Felde geht, hilft er von Tagesanbruch an die Hecken schlüchtern, Wiepe und Sommerholz hauen und andere Arbeiten verrichten, die außerhalb dem Hause vorfallen. Bey der Feldarbeit muß er pflügen und säen, sowol bey der Sommer- als Wintersaatsbestellung, und dabey den Herrn-Spanndienst verrichten. In der Ernte mehet er vor, faßt das Korn auf den Wagen und fährt es in die Scheune. Von Wilbasen an muß er in der Ucht Futter schneiden, und bey Tagesanbruch die Feldarbeit vornehmen. Sobald die Wintersaatsbestellung geendigt ist, muß er in der Ucht dreschen helfen, und dann bey Tage Pferdefutter schneiden, dabey ein halb Stück Garn über den langen und 15 Bind über den kleinen Haspel spinnen. Wenn ein ganz Tagwerk gedroschen wird, muß er ebenfals dreschen helfen und dabey für die Pferde Futter schneiden, alsdann aber der Meier und der Schulte das Korn rein machen. Wenn nicht gedroschen wird, muß er beym Futterschneiden und Pferde futtern alle Tage ein Stück Garn über den langen Haspel oder 27 Gebind über den kleinen Haspel liefern, im Fall er aber den Pferdestall ausmistet, welches alle 8 Tage geschiehet, so ist er vom Zahlspinnen frey.

Der Meyer und Hausherr muß alle diese Arbeiten und Geschäfte beobachten, bey jeder Arbeit gegenwärtig seyn, jedes Geschäft vorerst in Bewegung bringen, das fehlende selbst ersetzen, hauptsächlich aber die Schneide- und Futterkammern fleißig untersuchen, und auf die Reinlichkeit der Krippen für alles Vieh genau sehen; zur Zeit der Feldarbeit beym Pflügen täglich nachsehen, ob der Pflug recht gekeilt ist (d. i. ob das lange Eisen, dieser Compas des Pflugs gehörig gerichtet ist.)

Außerdem ist eigentliches Geschäft für ihn, das futtern der Mästeschweine, wenn er keinen Schweinehirten hält, weil er nicht leicht einem andern den Schlüssel zur Kornbühne anvertrauen wird.

Aus diesem nehmlichen Grunde verrichtet er auch das Mahlen, Brodtbacken und Obstdörren selbst. So wie er als ein aufmerksamer Verwalter das Ganze seiner Haushaltung ins Augenmerk nimmt und im Gange erhält, so muß er auch des Morgens der erste und des Abends der letzte seyn, besonders aber vorm Schlafengehen jedesmal das Arbeits- und Ackergeräthe nachsehen, damit, wenn Gebrechen sich dabey äußern sollten, solche in Zeiten ausgebessert werden, und dadurch kein Aufenthalt in der Arbeit entstehe. Was ein Meyer in den verschiedenen Verhältnissen des bürgerlichen Lebens als Unterthan, Eigenbehöriger, Pacht- und Zehntpflichtiger zu beobachten hat, gehört zur politischen Erziehung []

Bey Uebersicht der beschriebenen thätigen und geschäftvollen Lebensart des Landmanns, wird dem Politiker, wenn er die gesammelte Einrichtungen vereiniget, begreiflich werden, wie es möglich sey, daß in der Grafschaft Lippe, auf diesem [] 25 Geographische Meilen großen Distrikte, unter dem 51ten Grade der Breite, 64 465 Menschen, also auf jeder Quadratmeile – 2578 Menschen sich satt essen können.

Der Moralist, welcher weiß, daß Thätigkeit, Arbeit und Fleiß, die sichersten Verwahrungsmittel wider Ausschweifungen und Laster sind, wird ein so emsig arbeitsames Volk, im ganzen für ein gutes und tugendhaftes Volk zu erkennen, nicht abgeneigt seyn, daher ihm die Hochschätzung nicht versagen die dem tugendhaften in niedrigen Hütten, so gut als in Pallästen gebührt.

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Quelle: Lippisches Intelligenzblatt (1789), S. 5–7, 11–16, 18–19; abgedruckt in Jürgen Schlumbohm, Kinderstuben, Wie Kinder zu Bauern, Bürgern, Aristokraten wurden 1700–1850. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1983, S. 81–87.