Quelle
Statistische und topographische Beschreibung des Burggraftums Nürnberg unterhalb des Gebürgs oder des Fürstentums Brandenburg-Anspach
Johann Bernhard Fischer
[…]
Der Bauer im anspachischen Oberamt liebt eine reinliche häußliche Einrichtung. Er lebt gut, aber nicht kostbar […]
Die Nähe der Residenzstadt, und der öftere Aufenthalt der Bauern in selbiger, mag vieles beitragen, daß diese Volksgattung in hiesiger Gegend mehrere Lebensart besitzet und einigermassen höflicher als an entfernteren Orten ist.
Die rohe Erziehung der Bauernkinder kan keinen andern als rohen Karakter bilden. Die Mütter sind gewohnt ihren Kindern ein auch zwey Jahre, und noch länger, die Brust zu reichen. Dadurch kommt es, daß die Stamina vitae [d. i. Kettfäden des Lebens] vester ankleben, als nicht bey Kindern, durch künstliche, der Muttermilch bey weitem nicht gleichkommende Getränke und Speissen. Eben deswegen lernen sie auch eher lauffen, und leiden weniger am ersten Zahnausbruch, als jene Kinder, deren Mütter ihnen diese einzige und beste Nahrung versagen.
Bis ins sechste Jahr geniesen die Bauernkinder beinahe keines Unterrichts, sondern sind gleich Rousseau’s Emile sich selbst überlassen. Die Eltern brauchen ihre Kinder, so bald es nur einigermassen ihre Kräfte zulassen, zu allerhand leichten Feldgeschäften. Vom sechsten bis zwölften Jahre gehen dieselben zur Schule […] Ausser dem wenigen lesen, und noch wenigern schreiben, lernen sie sonst nichts, was ihnen doch in der Zukunft nützlich seyn könnte. Daher die Folge, daß bey dergleichen Kindern, wenn man ihnen, statt ihrer Religionsbücher, (denn keiner andern bedient man sich bey dem Unterrichte,) andere nützliche Bücher vorlegt, sogleich die ganze Lesekunst aufhöret; daher aber auch, die noch traurigere Folge bey Erwachsenen, daß diese, wenn die Feldgeschäfte zu Ende sind, sich auf keine andere Weise in den langen Winternächten zu vergnügen wissen, als durch Wirthshaus, Brandewein, Karten, und unflätige Zoten und Possen in den Rockenstuben oder sogenannten Vorsitz, welche immer eine Quelle vieler lasterhaften Ausbrüche und wilder Sitten sind.
In dem häußlichen Leben der Landleute zeichnet sich auch noch dieses vorzüglich aus: daß Eltern und Kinder so untereinander leben, als wenn keine Subordination vorhanden wäre. Die Kinder dutzen ihre Eltern, und gehen mit ihnen als ihres gleichen um. Setzt man sie über diese Unschicklichkeit zur Rede, so erfolgt die naive Antwort: man dutze ja auch unsern Herr Gott. Hiedurch geschieht aber auch, daß schon kleine Kinder ihren Eltern öfters auf eine ungestümme Art befehlen, frey ihre Handlungen tadeln, und den Gehorsam da zu entziehen pflegen, wo derselbe doch unumgänglich erforderlich ist.
Woher sonst der überaus viele Aberglauben unter dem gemeinen Volke, als aus der vernachlässigten Erziehung? Woher der Gedanke des Bauern: das wesentliche der Religion bestehe einzig, und allein im Kirchengehen, beichten und kommuniciren? – Und fließt nicht hieraus nothwendig die traurige Wahrheit: daß die Landleute in dem praktischen der Religion Jesu, in Sitten und gesellschaftlichen Tugenden so sehr zuruck sind, daß Betrug und Bevorteilung im Handel und Wandel, mehr unter ihnen im Gange ist, als daß nicht die bürgerliche Verfassung, in allen ihren Zweigen, darunter leiden sollte? – Woher endlich noch: die eigensinnige und dumme Anhänglichkeit, an die Sitten ihrer Väter, und an das alte überhaupt? so daß das neuere, bessere, nützlichere nicht Platz bey ihnen greifen kan, und sie sich in Krankheiten lieber an Fallmeister und schlechte Empyriker, als an geschickte Aerzte wenden? – Gewiß alles lediglich aus der vernachlässigten Erziehung.
Quelle: Johann Bernhard Fischer, Statistische und topographische Beschreibung des Burggraftums Nürnberg unterhalb des Gebürgs oder des Fürstentums Brandenburg-Anspach, Bd. 2. Ansbach, 1787, S. 10–14; abgedruckt in Jürgen Schlumbohm, Kinderstuben, Wie Kinder zu Bauern, Bürgern, Aristokraten wurden 1700–1850. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1983, S. 77–78.