Kurzbeschreibung

Dieses lebendige Bild der gesundheitlichen Bedingungen und des materiellen Lebens der einfachen Leute in Rostock aus Sicht der Aufklärung und der rationalistischen Medizinwissenschaften spiegelt sowohl eine genaue Beobachtung wie auch ein starkes Interesse an gesellschaftlichem Fortschritt wider. Dennoch verfällt auch dieser Autor, A.F. Nolde, in die für die gebildete Schicht seiner Zeit typischen Warnungen vor den körperlichen, sexuellen und psychischen Gefahren des Stillens. Seine Besorgnis hierüber reflektiert eine Voreingenommenheit über die vermeintlichen moralischen Mängel der Lebensweise der ärmeren Schichten.

Kindheit in Rostock an der Ostsee (1807)

  • A. F. Nolde

Quelle

Medicinisch-anthropologische Bemerkungen über Rostock und seine Bewohner

A.F. Nolde

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Daß die Anzahl der im Kindbette gestorbenen Personen zu der Summe der Geburten, nach einer Reduktion der Zwillingsgeburten, sich wie eins zu 781/7, und zu der ganzen Summe aller Gestorbenen etwa wie 1 zu 64 verhält, ist in der That ein sehr niederschlagendes Resultat, wovon der Grund nirgends anders, als in einer vernachlässigten oder verkehrten Behandlung der Kreißenden und Wöchnerinnen zu suchen ist []

Ehe ich mich zu einer andern Materie wende, habe ich noch Einiges über die physische Beschaffenheit der Kinder beyzufügen, die ich hier nicht übersehen darf, da diese einen so wichtigen Theil der bürgerlichen Gesellschaft ausmachen, die durch sie von Zeit zu Zeit ihren fortdauernden Verlust ersetzen, und sich gewissermaßen kompletiren muß. Ich unterscheide hier aber mit gutem Vorbedacht die in einer gesetzmäßigen Ehe gebornen Kinder von den unehelichen. In der körperlichen Beschaffenheit der letztern, so wie in ihrer Behandlung, liegt unstreitig der Grund von der großen Sterblichkeit unter denselben, und diese ist gewiß bedeutend genug, um einen nachtheiligen Einfluß auf das Ganze zu haben. Ich glaube, ohne Bedenken annehmen zu können, daß kaum der vierte Theil von ihnen das Ende der ersten Kinderjahre erreicht. Die außer der Ehe geschwängerten Mütter sind mehrentheils aus den untern Ständen. Diese suchen denn gewöhnlich Ammendienste, um nicht ganz außer Brod zu kommen: denn ihre Liebhaber geben ihnen entweder nicht so viel, daß sie selbst davon mit ihrem Kinde leben können, oder sie verlassen die Unglückliche, der sie die Ehe zugesagt, oder andere Versprechungen gethan hatten, wohl ganz. Die Mutter bringt also ihr Kind bey andern Leuten unter, und giebt es, wie man hier sagt, entweder auf die Brust, oder auf den Löffel. Im ersten Fall stillt die substituirte Mutter ihr eigenes Kind zu gleicher Zeit, und natürlich reicht sie dem fremden Kinde erst dann die Brust, wenn das ihrige schon gesättigt ist. Damit muß es zufrieden seyn; und will es das nicht, so giebt man ihm die wohlfeilste Kost, Kartoffeln und Mehlbrey, um es nur satt zu machen und in Ruhe zu erhalten. Wird ein solches Kind aber blos auf den Löffel ausgethan, so erhält es die zuletzt genannten Speisen allein. Wie nachtheilig eine solche Ernährungsart ist, weiß ein jeder meiner Leser. Dazu kommt noch in den meisten Fällen ein hoher Grad von Schmuz und Unreinigkeit, der vollends alles verdirbt. Wie ist es denn möglich, daß ein Kind unter so ungünstigen Verhältnissen noch sein Leben erhalten, vielweniger gedeyhen und zunehmen kann? Mehrentheils bekommen sie bald dicke Bäuche mit Verstopfung, oder übelriechende und erschöpfende Diarrhöen, zehren sich im Gesicht, an Armen und Beinen bis zu Skeletten ab, schreyen und wimmern unaufhörlich, daß man von Stein seyn müßte, wenn man nicht durch den Anblick eines solchen Jammerbildes innigst gerührt werden sollte [] Aber so etwas sehen solche gleichgültige Mütter nicht; sonst würden sie unmöglich Bequemlichkeit und Vergnügen der süßen Mutterpflicht, ihre Kinder selbst zu stillen, vorziehen.

Der größte Theil von den in einer gesetzmäßigen Ehe erzeugten Kindern genießt dagegen nicht nur in der Regel eine sehr gute Gesundheit – denn einzelne Ausnahmen kommen hier wie überall vor – sondern zeichnet sich auch durch eine diesem Alter eigenthümliche Schönheit aus []

Ich komme jetzt auf eine eben so wichtige, als weitschichtige Untersuchung, die aber auch zugleich die beste Auskunft geben kann, in wiefern man bey uns der Natur huldigt, oder sich ihr zu entziehen, und den von ihr vorgeschriebenen Weg zu verlassen sucht [] ich [will] zuerst von der physischen Erziehung reden, so wie ich als Arzt Gelegenheit gehabt habe, sie kennen zu lernen.

Luft und Nahrung sind ohnstreitig die ersten Bedürfnisse des neugebornen Menschen []

Die größte Anzahl der hiesigen Mütter folgt dem so wohlthätigen als belohnenden Naturtriebe, ihre eigene Brust dem neugebornen Säuglinge zu reichen. Selbst die Frauen aus den höhern Ständen machen hiervon kaum eine Ausnahme. Mit unpartheyischer Wahrheitsliebe bekenne ich es hier öffentlich, daß ich mehr als eine zärtliche Mutter fand, die sich kaum beruhigen konnte, wenn sie durch dringende Umstände an der Nichterfüllung dieser heiligen Mutterpflicht gehindert wurde, und mit schwerem Herzen und nassen Augen sich kaum zu einer Amme oder zum Auffüttern ihres Kindes entschließen wollte. Glücklicherweise tritt dieser Fall im Ganzen nur selten ein: denn die Natur gab den hiesigen Schönen mit freygebiger Hand, was sie eines nicht weniger sinnlich angenehmen, als sittlich erhabenen Geschäfftes fähig machen konnte, eine reiche Quelle der Gesundheit und der kindlichen Liebe für den schon durch sein dankbares Lächeln jede Beschwerde tausendfach belohnenden Säugling []

Das Auffüttern der Kinder ohne Brust ist hier noch lange nicht allgemein eingeführt. Ich weiß es wohl, daß manche Aerzte diese Methode der Anwendung einer Amme vorziehen; allein mich dünkt denn doch, daß eine gute Amme den Vorzug verdient []

Diejenigen, welche ihre Kinder selbst stillen, oder ihnen Ammen halten, entwöhnen sie mehrentheils nach Verlauf eines Jahres, oder wenn sie dieses Ziel beynahe erreicht haben. In der Regel werden sie aber schon dazu vorbereitet, indem man ihnen noch während des Stillens allerley anpassende oder unschickliche Speisen nebenher giebt. Nach dieser Periode ist man aber vollends weniger besorgt, bey der Auswahl der Speisen auf das Alter der Kinder Rücksicht zu nehmen. Sie müssen dann gewöhnlich alles essen, was der Tisch giebt, wohin insbesondere [] die Kartoffeln gehören, die überdem, so wie das hier sehr allgemein eingeführte Butterbrod, für die Kinder mehrentheils eine Lieblingsspeise abgeben. Daß sie sich recht satt essen, versteht sich, und der Arzt muß bey vorfallenden Krankheiten der Kinder hierauf immer besonders Rücksicht nehmen. Auf eine ähnliche Art hält man es mit den Getränken. Bald trinken sie Wasser, bald Bier, aber nicht selten gewöhnt man sie schon frühzeitig an den Kaffe und Wein, und von dem letztern giebt man ihnen bisweilen so reichlich, daß er ihnen den Kopf einnimmt. Ich habe dieß schon bey Kindern von einigen Jahren beobachtet, aber häufiger noch bey Knaben von 8, 10 oder 12 Jahren.

Ein zweytes unentbehrliches Requisit unserer thierischen Organisation ist die Luft, deren Einfluß auf den kindlichen Körper schon in den Schriften der neuern Pädagogen und Diätetiker so bestimmt angegeben ist, daß ich ihn als allgemein bekannt voraussetzen kann. Den Aerzten ist er außerdem schon bekannt. Ich glaube aber, daß man für die ganz kleinen Kinder in dieser Hinsicht bey uns nicht allemal genug Sorge trägt. So lange sie die Kinderstube noch nicht verlassen können, oder sich doch viel in derselben aufhalten müssen, sollten die Aeltern vor allen Dingen darauf Rücksicht nehmen, ihnen eine recht gesunde Kinderstube zu geben. Aber daran denkt man in der That noch zu wenig. Wenn ich hier auch gar nichts von dem geringen Handwerker oder dem Arbeitsmann sagen wollte, die sich auf eine sehr kleine und enge Wohnung überhaupt einschränken müssen, folglich auch keine eigene Kinderstube haben können, sondern gewöhnlich ihre Kinder in dem Stübchen bey sich haben, wo sie wachend oder schlafend den größten Theil der Zeit beysammen sind und ihre Geschäffte verrichten: so könnten doch die wohlhabendern und vornehmern Einwohner oft weit mehr für die Gesundheit ihrer Kinder in diesem Punkt thun, als wirklich geschieht. Sehr viele Kinderstuben sind vermöge der Einrichtung der hiesigen Giebelhäuser in die Hintergebäude verlegt, wo es freylich immer am ruhigsten und stillsten zu seyn pflegt: dagegen aber haben diese Stuben gewöhnlich die Fenster nach einem kleinen engen, auch wohl schmuzigen Hofe hin, es fehlt ihnen daher auch mehrentheils an Licht, und wenn die Fenster von Zeit zu Zeit geöffnet werden, so erhalten sie doch auf diesem Wege keine reine und gesunde Luft. Ueberdem werden die Fenster insgemein nur selten geöffnet, man trocknet zur Winterszeit die feuchte Wäsche der Kinder an dem Ofen, und läßt es geschehen, daß die Luft noch durch den Aufenthalt der übrigen Domestiken in solchen Zimmern, die darin essen, trinken, schlafen und andere Geschäffte verrichten, auf eine wirklich oft unverantwortliche Art verunreinigt und verdorben wird. Andere haben gar nicht einmal eine Kinderstube, sondern begnügen sich mit dem Wohnzimmer, oder stellen auch die Wiege in den angränzenden Alkoven, welches nicht viel besser ist []

Besonders wichtig scheint es mir aber zu seyn, daß man das Gesinde, welches einen so mannichfaltig nachtheiligen Einfluß auf die kleinern und größern Kinder haben kann, aus den Kinderstuben entfernt, und dann auch sich im Ganzen der Reinigkeit mehr befleißigt []

Sobald die Kinder so weit gekommen sind, daß sie für sich gehen können, pflegen sie gern die eingeschlossene Stubenluft zu fliehen. Sie laufen dann in den Häusern oder vor den Thüren umher, man schickt sie auch wohl in die Luft. Die Kinder der Aeltern, welche ich zu der untersten Klasse der Einwohner zähle, auch wohl die der Handwerker, pflegen gemeiniglich den ganzen Tag auf den Straßen zuzubringen, wobey sie sich recht wohl zu befinden scheinen. Aber dessen ungeachtet kann ich dieses Herumliegen auf den Straßen doch nicht billigen, und die Polizey sollte es nicht dulden. Denn nicht einmal zu gedenken, daß die Kinder ohne Aufsicht sind, und von einander allerley böse Gewohnheiten lernen, kommen sie nur gar zu leicht in Gefahr, zu fallen, getreten, gestoßen und übergefahren zu werden. Es ist in der That zu bewundern, daß dieses nicht noch häufiger der Fall ist, als es wirklich geschieht, da besonders die engern Straßen, welche von dem gemeinen Mann am meisten bewohnt werden, immer mit Kindern angefüllt sind.

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Ich habe schon angemerkt, daß viele Aeltern aus den untern Ständen ihre Kinder ohne Aufsicht auf den Straßen herumlaufen lassen: wie vielen Gefahren sie aber dabey ausgesetzt sind, wie leicht ihre physische Organisation und selbst ihre moralische Bildung darunter leiden kann, muß einem jeden nachdenkenden Menschen einleuchten. Es ist also unrecht, daß jene Aeltern auf diesen Punkt nicht aufmerksamer sind, und daß sie von den Geistlichen nicht genug daran erinnert werden. Aber auch selbst die vornehmern und reichern Aeltern sind hierin noch zu nachlässig und unbesorgt. Man verläßt sich häufig zu sehr auf die Amme oder Wärterin, und bekümmert sich selbst zu wenig um die kleinern und größern Kinder, weil man besorgt, daß die häuslichen Geschäffte darunter leiden werden, oder daß man auf alle Vergnügungen außer dem Hause Verzicht thun müsse. Mir sind freylich manche rühmliche Ausnahmen hiervon bekannt; es giebt auch bey uns Mütter, die den ganzen Umfang ihrer Pflichten selbst in dieser Beziehung zu erfüllen bemüht sind, und sich nur ungern in dem äußersten Nothfall von ihren Kindern trennen. So sehr sie deshalb zu loben sind, so fehlen doch auch sie bisweilen hierin auf eine doppelte Art. Entweder sind sie zu ängstlich und zu besorgt für die Gesundheit ihrer Kinder; entziehen ihnen die freye Luft, wornach jedes Kind instinktmäßig strebt, weil sie von jedem rauhen Lüftchen gleich die gefährlichsten Folgen befürchten; verzärteln die Kinder bey jeder auch noch so unbedeutenden Unpäßlichkeit noch mehr, quälen sie mit Arzneyen u. s. w. Aber dieses ist eine Methode, bey der sie gerade die Kinder um ihre Gesundheit bringen, und zu Treibhauspflanzen bilden, die in der Folge der Gesellschaft zur Last fallen. Oder sie können sich eben so wenig von dem Vergnügen, als von ihren geliebten Kindern trennen, nehmen sie also überall mit in Gesellschaften, Assembleen, Konzerte, Schauspiele, Bälle und Maskeraden, um sie nur immer unter Aufsicht zu haben; erwägen aber dabey nicht, wie wenig sie im Stande sind, diesen guten Vorsatz auszuführen, und wie leicht ihre Kinder bey solchen Gelegenheiten nicht nur sittlich verderben, sondern auch an ihrem Körper beschädigt werden, fallen, sich erhitzen und erkälten können, besonders wenn man auf Bällen selbst kleinen Kindern den Zutritt zu jedem Tanze verstattet.

So sehr indessen auch solche Mütter fehlen mögen, so fehlen sie doch aus guter Absicht, und verrathen wenigstens durch ihr Benehmen, daß sie es wissen, wie nothwendig den Kindern eine gute Aufsicht ist. Davon scheinen im Gegentheile jene kaum etwas zu ahnen, die ihre Kinder so ganz den Ammen und Wärterinnen überlassen, oder sie haben wohl gar das Pflichtgefühl gegen sie schon erstickt. Nicht nur sehen und hören die Kinder in solcher Gesellschaft so manches, dessen Kenntniß sie denn bey irgend einer Gelegenheit, zur größten Verwunderung der Aeltern verrathen, sondern besonders ist es noch in physischdiätetischer Hinsicht nicht selten der Fall, daß die Kinder von solchen Personen mit allerley unschicklichen Speisen gefüttert, oder gar gestoßen, geschlagen und übel behandelt, auch wohl sich selbst überlassen werden, während die Amme oder Wartfrau ihrem Vergnügen nachgeht. Da geschieht es denn aber nicht selten, daß die Aeltern ihr Kind, welches sie gesund verließen, nun krank wieder vorfinden und den Arzt rufen müssen, der nur selten die wahre Ursache der Krankheit erfährt, wenn seine Familienkenntniß ihn nicht auf den Verdacht derselben leitet.

Aber noch mehr als alles dieses verdient ein Gegenstand die angestrengteste Aufmerksamkeit der Aeltern, und besonders der Mütter auf ihre Ammen und Wärterinnen selbst, die man oft nicht allein mit wollüstigen Empfindungen die Kinder, welche sie warten, küssen und umarmen sieht, sondern von denen ich es selbst zum Theil mehr als zu deutlich gemerkt habe, daß sie aus Wollust ihre Hände häufig unter den Kleidern der Kinder haben, und da Gefühle zu erregen suchen, die noch lange hätten schlummern sollen. Auf solche Art legen dergleichen moralische Ungeheuer den Grund zu so vielen moralischen und physischen Leiden, indem jener behagliche Reiz, den die Kinder einmal empfunden haben, sie selbst zur Wiederholung desselben ermuntert. Ich halte mich wenigstens davon für überzeugt, daß der erste Grund eines leider eben so zerstörenden als bekannten Lasters in den wollüstigen, unmoralischen Ammen zu suchen ist, ohne daß man häufig eine solche Quelle vermuthet. Da aber diese verderbliche Kinderpest – denn diesen Nahmen verdient sie beynahe mit noch größerm Rechte, als die Blattern – in der That hier in Rostock nicht so gar selten ist, sondern unter kleinern und größern Kindern von beyden Geschlechtern den Aerzten Beyspiele genug vorkommen: so halte ich es um so mehr für Pflicht, hiervon zu reden, und bey dieser Gelegenheit alle Mütter nicht nur mißtrauisch gegen jede Amme und Wärterin zu machen, sondern ihnen zugleich die eigene Aufsicht über ihre Kinder recht dringend ans Herz zu legen. Hoffentlich wird manche brave, aber in diesem Stücke unwissende Mutter es mir noch im Stillen danken, daß ich sie an diese ihr unbekannte Quelle vieles physischen Elendes geführt und sie gewarnt habe, wo sie der Warnung bedurfte. []

Die meisten Kinder fangen hier gegen das Ende des ersten Jahres, viele auch später, an zu gehen. Sie lernen es aber nur bey den Aeltern der untern Klasse auf eine der Natur gemäße Art, das heist durch Kriechen und eigene Versuche, sich aufrecht zu halten, und von einer Stelle zur andern zu bewegen. Wer seinen Kindern aber eine Wärterin halten kann, pflegt sie mit einem Fallhut und Laufzaume zu versehen, an welchem sie denn nun unter oft sehr karrikaturmäßigen Bewegungen das Gehen lernen. Oftmals nimmt man ein bloßes Schnupftuch, oder ein breites Band dazu, welches man über die Brust und unter die Arme durchzieht und hinten zusammenhält. Die Laufbänke habe ich nur selten gesehen. Aber alle diese Methoden, den Kindern das Gehen beyzubringen, taugen eigentlich gar nichts. Das Kind drückt sich die Brust zu sehr, gewöhnt sich einen sonderbaren Gang an, ist vor dem Fallen nicht gesichert, und fällt wenigstens desto häufiger, wenn man es sich nun selbst überläßt. In den neuesten Zeiten habe ich aber auch unter den Vornehmern nicht selten gefunden, daß sie ihre Kleinen auf eine naturgemäßere Art das Gehen lernen lassen. Das Aufheben der Kinder bey einem Arm, besonders wenn die Wärterinnen zwey Kinder zugleich unter ihrer Aufsicht haben, kann ich immer nicht ohne Widerwillen ansehen, und es ist auch gewiß keine gleichgültige Sache.

Den etwas größern Kindern des gemeinen Mannes fehlt es nicht an Bewegung. Sie liegen beynahe den ganzen Tag auf der Straße und spielen unter einander. Die Aeltern erlauben ihnen das gern: weil sie dann ihre häuslichen Geschäffte ungestört verrichten können, und sich kaum anders um ihre Kinder bekümmern zu dürfen glauben, als wenn sie ein Geschrey auf der Straße hören, worauf sie gewöhnlich herbey laufen, und wenn ihre eigenen Kinder daran Theil nehmen, darein schelten, oder alles mit einer körperlichen Züchtigung auf der Straße abmachen. Aeltern von etwas feinerm Gefühle schicken ihre Kinder, sobald sie nur gehen können, in die kleinen Schulen, in der Meynung, daß sie dort unter Aufsicht sind, und ihnen selbst bey den häuslichen Geschäfften nicht zur Last fallen. Bey der Klasse von Müttern, die ohne alle weitere Unterstützung sich ihre Nahrungsmittel selbst herbeyschaffen und bereiten müssen, auch wohl außer ihrem Hause auf Arbeit gehen, kann man diesen Grund wohl gelten lassen. Aber wenn auch selbst Mütter aus den höhern Ständen ihre noch ganz kleinen Kinder gleich in die Schule schicken, um sie auf einige Stunden los zu werden und während der Zeit einmal frey athmen zu können: so weiß ich in der That nicht, was ich dazu sagen soll. Haben sie doch Domestiken, die ihnen zur Hand gehen können, und Zeit genug, ihre Vergnügungen abzuwarten: so sollte ich denken, sie müßten auch Zeit genug haben, auf ihre kleinen Kinder zu sehen. Welche Mutter wirklich aus dem Grunde ihre Kinder in die Schule schicket, um sich von ihrer Aufsicht einige Stunden dispensirt zu sehen, der werfe ich geradezu vor, daß sie keinen Begriff von Erziehung hat.

In den Schulen, die für solche kleine Kinder bestimmt sind, wird nun eigentlich gar nicht darauf gesehen, daß sie etwas lernen. Darum ist es den Aeltern eben nicht zu thun, und dieses tadle ich auch in dem Alter nicht. Aber nicht nur werden sie in solchen Schulen ganz von der ihnen so nöthigen Leibesbewegung abgehalten, und zur sitzenden Lebensart gewöhnt, welches nicht seyn sollte: sondern sie müssen noch überdem mehrere Stunden des Tages in einem engen Zimmer gedrängt sitzen, und eine eingeschlossene, verdorbene Luft einathmen; werden der Gefahr ausgesetzt, Ungeziefer zu bekommen, und sogar krank zu werden, wenn sie besonders aus der freyen Luft in diese engen, dunstigen Stuben kommen, wovon mir mehrere Beyspiele bekannt sind, oder sich zu erkälten, wenn die Witterung rauh und unangenehm ist. Von diesen Schulen aus verbreiten sich noch insgemein die ansteckenden Krankheiten, Blattern, Masern, Scharlachfieber, Keuchhusten, Krätze u. s. w., weil hier viele noch einer Ansteckung fähige Kinder unter andern sitzen, die ihnen das Miasma mittheilen. Dieses in die Schule Schicken der kleinen Kinder hat also viele und sehr wichtige Abfälle, unter welchen ich gegenwärtig nur besonders auf den Mangel an Bewegung aufmerksam machen will. Ich werde in der Folge auf diesen Gegenstand noch bey andern Gelegenheiten zurück kommen, und lasse es daher hier bey der angemerkten Erinnerung bewenden.

Gymnastische Uebungen sind unter den Kindern der Vornehmern nicht eingeführt. Die Knaben gehen freylich wohl bisweilen ins Freye, um den Ball zu schlagen: allein theils sind sie sich dabey ganz überlassen und ohne Aufsicht, theils genießen sie dieses Vergnügen nur eine kurze Zeit im Jahre; und die kleinen Mädchen nehmen gar keinen Theil daran. Im Winter laufen die Knaben zwar auf dem Eise herum; aber hier ist es noch weit gefährlicher, sie ohne Aufsicht zu lassen. Soll ich das Tanzen auch zu den gymnastischen Uebungen zählen, so wird diese bey uns sehr kultivirt, aber doch auf eine Art, daß ich sie als Arzt nicht gut heißen kann. Man fängt gewöhnlich schon sehr früh an, den Kindern Unterricht im Tanzen geben zu lassen, und bestimmt dazu häufig den Sommer, damit sie es gegen den Winter schon gelernt haben. Anstatt aber, daß man bey solchen Kindern, die noch Biegsamkeit genug haben, um alles aus ihnen zu machen, denen es hingegen an Festigkeit und Kraft fehlt, die zu den gewöhnlichen Tänzen erfordert wird, vorzüglich darauf sehen sollte, ihnen eine gute Haltung ihres Körpers und einen sichern Gang beyzubringen, freut man sich nur darüber, wenn sie in einigen Monaten alle modische Tänze gelernt haben. Wenn nun vollends während der heißen Sommertage sich mehrere Familien unter einander verbinden, um ihre Kinder gemeinschaftlich tanzen zu lassen: so ist wohl nichts so sehr zu befürchten, als eine schädliche Erhitzung, die noch um so gefährlicher für die Gesundheit dieser Kleinen werden muß, wenn sie gleich nach einem solchen Balle wieder nach Hause gehen, wobey sie sich nur gar zu leicht erkälten, wie ich aus Erfahrung weiß. Und eben so wenig kann ich es anpassend finden, daß man die Kinder nun den nächsten Winter mit auf die Bälle der Erwachsenen nimmt, wo sie zwischen und mit diesen oft in langen Reihen herumspringen und sich wieder zu sehr anstrengen, erhitzen, auch wohl bisweilen heimlich durch einen kühlenden Trunk, oder durch eine freyere Luft zu erquicken suchen. []

Noch muß ich eines Umstandes gedenken, ehe ich die Materie von der physischen Erziehung der Kinder verlasse, der von den hiesigen Einwohnern vorzüglich beherzigt zu werden verdient. Wir sind beynahe von allen Seiten mit Wasser umgeben, und man kann daher im Sommer sehr bald einen Platz zum Baden finden. Da es uns aber an öffentlichen Badehäusern fehlt: so geht ein jeder dahin, wo es ihm am besten gefällt, und wo er sich am sichersten glaubt. Dieß thun denn auch häufig die Knaben, die sich einzeln oder in Gesellschaft an einen solchen Ort begeben. Gegen das Baden selbst wird wohl kein Arzt etwas einzuwenden haben: aber daß die Knaben dieses ohne Aufsicht thun und sich selbst größtentheils überlassen sind, das verdient um so mehr eine strenge Rüge []

So wie übrigens das Baden ein Beförderungsmittel der Reinigkeit ist, und besonders den Knaben aus den untern Ständen in dieser Hinsicht sehr zu Statten kommt: so muß ich noch bemerken, daß man die Kinder der Vornehmen nicht nur mehrentheils sehr gut und reinlich gekleidet sieht, sondern daß man auch seit verschiedenen Jahren noch häufiger, als in den ersten Zeiten meines hiesigen Aufenthalts selbst die kleinsten Kinder badet, und damit so lange fortfährt, als es sich nur thun läßt. Seitdem unser gnädigster Landesherr die Badeanstalt zu Doberan gestiftet hat, und man jährlich viele Fremde dahin reisen sieht, um durch das Bad ihre Gesundheit wieder herzustellen, scheint man auch das Baden der Kinder noch eifriger zu beschaffen.

Wenn gleich körperliche Züchtigungen nicht unter allen Umständen bey der Erziehung vermieden werden können: so ist doch wohl nicht zu läugnen, daß sie häufig übertrieben werden. In vielen hiesigen Familien weiß man die Kinder auch ohne Schläge zum Gehorsam, zur Folgsamkeit und Ordnung zu bringen: und wer sollte sich davon nicht überzeugen, daß man durch ein freundliches Benehmen, durch Geduld und vernünftige Behandlung, wovon ich einen strafenden Ernst und andere mehr zur Humanität führende Besserungsmittel nicht ausschließe, sich weit sicherer das Zutrauen der Kinder erwerben und ungleich mehr ausrichten kann, als durch Schläge? Gleichwohl denken so nur die Gebildeten und Aufgeklärten unter uns. Bey weitem der größere Theil von Aeltern, und selbst auch einige Lehrer, die sich mit Erziehung und Unterweisung der Kinder beschäfftigen, glauben noch, ohne dieses Mittel nicht fertig werden zu können; und in manchen Familien aus den unkultivirten Klassen gehören noch die Schläge zur Tagesordnung. Aber auch hier habe ich fast immer die Wahrheit bestätigt gefunden, daß Schläge nur erbittern, oder höchstens einen erzwungenen Gehorsam bewirken, nicht aber wirklich bessern und die Humanität unter den Menschen befördern. Ja nicht selten sind mir Fälle aufgestoßen, wo gewiß die Schläge nicht nur ganz am unrechten Orte angebracht waren, sondern auch noch überdem mit so barbarischer Grausamkeit selbst von den Aeltern eine solche Strafe vollzogen wurde, daß die körperliche Gesundheit der Kinder darunter leiden mußte. Dergleichen Vorfälle seltener zu machen und die Aeltern von einer so strafbaren Handlungsweise zurückzubringen, steht allein in der Gewalt der Prediger, die sich durch freundschaftliche Unterhaltung über solche und ähnliche Gegenstände, oder durch einen hierauf sich beziehenden Kanzelvortrag und durch eigenes Beyspiel unstreitig weit verdienter um ihre Gemeinden machen können, als durch das ewige Dogmatisiren und Polemisiren.

Quelle: A. F. Nolde, Medicinisch-anthropologische Bemerkungen über Rostock und seine Bewohner. Band I. Erfurt, 1807, S. 92–126; abgedruckt in Jürgen Schlumbohm, Kinderstuben, Wie Kinder zu Bauern, Bürgern, Aristokraten wurden 1700–1850. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1983, S. 227–41.