Quelle
Bemerkungen über den neuen Gemeingeist
Nirgends zeigte sich eine bessere Gelegenheit, diese Bemerkungen anzustellen, als auf dem Märzfelde zu Paris, im Juli 1790. Hier, wo die Franken, ein freier germanischer Bund, sich jährlich versammelten, um ihren Königen den Willen des souveränen Volkes zu befehlen, hier feierte man jetzt das erste Bundesfest der wiedererrungenen Freiheit. Die völlige Gleichheit war eben jetzt unter den Bürgern durch die Niederreißung aller erblichen Unterschiede wieder hergestellt. Jeder galt nur durch persönliches Verdienst, und über dieses entschied die Stimme des Volkes. Aus den verachteten Hütten des Bauers und des Handwerkers gingen jetzt, im Glanz eigentümlicher Geistesvorzüge, des Vaterlandes Stützen wie neue Sterne hervor, und mancher aufgeblähete Bewohner eines Palastes sank in der Blöße persönlicher Nichtswürdigkeit unerkannt in den Staub; denn das Andenken großer Ahnherrn war wie ein erborgter Schmuck von seinem Haupte gefallen, und der lügenhafte Schimmer fremder Tugenden erloschen. Ein Sturm der Begeisterung hob die ganze Nation zur Höhe des Selbstgefühls. Mensch zu sein, war der schöne Stolz von 25 Millionen, das erste und letzte Ziel ihrer Befreiung. Der Eid der Brudertreue ward am 14. Juli in der nämlichen Stunde von allen Einwohnern eines Reiches geschworen, das eine Fläche von 10 000 Quadratmeilen auf unserer Erdkugel einnimmt; in 1900 Städten und 100 000 Dörfern stiegen an einem Tage und in einer Stunde die feierlichen Zusagen wechselseitiger Liebe und Treue einträchtig zum Himmel. Fünfmalhunderttausend Menschen saßen nur allein auf dem zum Amphitheater umgeschaffenen Märzfelde; Einwohner der Hauptstadt und Abgeordnete aus allen Provinzen, die hier als Stellvertreter ihrer Mitbürger erschienen, um das Bundesfest feiern zu helfen; alle standen zugleich auf von ihren Sitzen, alle streckten den Arm in die Höhe; von Männern, Weibern, Kindern erscholl der schmetternde Ruf: »ich schwöre!« Übermannt von diesem mächtigen Gefühle, das in den Sehnen der Stärksten zitterte, fielen diese verbrüderten Menschen, ohne Rücksicht auf Rang, Alter und Geschlecht, einander in die Arme, und wiederholten ihren unbekannten Nachbarn ihren Eid; die Nationalgarden warfen ihre Waffen weg und küßten sich, und plötzlich erscholl es erweckend und erhebend von allen Seiten: »Hoch lebe die Nation!«
Nur freie Nationen, sagt der Augenzeuge, dem wir hier folgen, kennen dieses Gefühl; denn nur freie Nationen haben ein Vaterland.
Ich sah die Zurüstungen zu diesem Feste, das beispiellos in den Jahrbüchern der Menschheit bleibt. Das größte Amphitheater in der Welt, wogegen die berühmten römischen nur Kinderspiele sind, ward in wenigen Tagen durch die Allmacht des Volkswillens erschaffen. Die verdächtige Trägheit von 15 000 besoldeten Arbeitern ward durch den Enthusiasmus von 100 000 Freiwilligen vergütet. Im Taumel der Freiheit arbeiteten sie mit einem Eifer, mit einer Verschwendung der Kräfte, die man kaum noch begreift, wenn man sie auch selbst gesehen hat. Unendlich war die Abwechslung der arbeitenden Gruppen, und unbegreiflich, ohne die Begeisterung des Augenblicks in Rechnung zu bringen, die Ordnung, die allenthalben herrschte. Hier waren keine Wachen ausgestellt, hier kannte man nicht die gebieterische Stimme des Aufsehers, und noch weniger seinen Stecken; auch die Bienen und Ameisen bauen ohne Tyrannen und Satelliten, und vollenden doch in Eintracht den Bau ihres kleinen Freistaats. Die Gerechtigkeit des Volkes heiligte eines Jeden Eigentum, und schützte Jedermann in seinem Rechte. Kleidungsstücke und Uhren, die man während der Arbeit von sich gelegt hatte, blieben den ganzen Tag unberührt an ihrer Stelle liegen. Mit Trommeln und Kriegsmusik, die Schaufeln auf der Schulter, zogen die begeisterten Scharen Arm in Arm unter Freiheitsgesängen zu ihrem Tagewerk, und später als die Sonne verließen sie das Feld. Alte und Junge, Männer und Weiber, Herzöge und Tagelöhner, Generalpächter und Schuhputzer, Bischöfe und Schauspieler, Hofdamen und Poissarden, Betschwestern und Venuspriesterinnen, Schornsteinfeger und Stutzer, Invaliden und Schulknaben, Mönche und Gelehrte, Bauern aus den umliegenden Dörfern, Künstler und Handwerker unter ihren Fahnen kamen Arm in Arm in buntscheckigem Zuge, und griffen rüstig und mutig zur Arbeit. Tausend rührende Züge des überall rege gewordenen Gefühls verherrlichten diese geschäftige Szene; tausend gutmütige Scherze, tausend Beweise des gallischen Frohsinns, tausend Beispiele der Ehrliebe, Großmut, und Uneigennützigkeit des Pöbels versöhnten die gedemütigte Morgue des Adels.
Quelle: Georg Forster, „Bemerkungen über den neuen Gemeingeist“, aus seinen Erinnerungen aus dem Jahre 1790 (1793), in Sämtliche Werke, Hrsg. G. G. Leipzig: Brockhaus, 1843, Band VI, S. 181–83; abgedruckt in Jost Hermand, Hrsg., Von deutscher Republik 1775–1795. Texte radikaler Demokraten. Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1968, S. 112–15.