Kurzbeschreibung

Die preußische Politik hinsichtlich der Juden unterschied seit 1750 zwischen gesetzlich geschützten begüterten Juden und ihren lediglich geduldeten Mitgläubigen. Die preußische Situation wurde durch die zahlreichen polnischen Juden verkompliziert, die als Staatsbürger durch die Teilungen Polens (1772–1795) hinzugekommen waren, durch welche Preußen sich große Teile des polnisch-litauischen Gemeinwesens einverleibte. Das Edikt von 1812 beschränkt sich auf die bereits vor 1772 geschützten Juden, denen ein großes Maß an ziviler Gleichstellung zugestanden wurde im Austausch für deren Annahme feststehender Familiennamen, der Aneignung des Deutschen „oder einer andern lebenden Sprache“ bei ihren nichtreligiösen beruflichen Aktivitäten, sowie ihrer Erfüllung allgemeiner Bürgerpflichten, einschließlich des Wehrdienstes. Weitere Schritte der Emanzipation in Preußen folgten in den Jahren 1833-67.

Friedrich Wilhelm III., König von Preußen, Edikt, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate (11. März 1812)

Quelle

Wir Friedrich Wilhelm, von Gottes Gnaden

König von Preußen etc. etc.

haben beschlossen, den jüdischen Glaubensgenossen in Unserer Monarchie eine neue, der allgemeinen Wohlfahrt angemessene Verfassung zu ertheilen, erklären alle bisherige, durch das gegenwärtige Edikt nicht bestätigte Gesetze und Vorschriften für die Juden für aufgehoben und verordnen wie folget:

§ 1. Die in Unsern Staaten jetzt wohnhaften, mit General-Privilegien, Naturalisations-Patenten, Schutzbriefen und Konzessionen versehenen Juden und deren Familien sind für Einländer und Preußische Staatsbürger zu achten.

§ 2. Die Fortdauer dieser ihnen beigelegten Eigenschaft als Einländer und Staatsbürger wird aber nur unter der Verpflichtung gestattet:

daß sie fest bestimmte Familien-Namen führen,

und

daß sie nicht nur bei Führung ihrer Handelsbücher, sondern auch bei Abfassung ihrer Verträge und rechtlichen Willens-Erklärungen der deutschen oder einer andern lebenden Sprache, und bei ihren Namens-Unterschriften keiner andern, als deutscher oder lateinischer Schriftzüge sich bedienen sollen.

§ 3. Binnen sechs Monaten, von dem Tage der Publikation dieses Edikts an gerechnet, muß ein jeder geschützte oder konzessionirte Jude vor der Obrigkeit seines Wohnorts sich erklären, welchen Familien-Namen er beständig führen will. Mit diesem Namen ist er, sowohl in öffentlichen Verhandlungen und Ausfertigungen, als im gemeinen Leben, gleich einem jedem andern Staatsbürger, zu benennen.

§ 4. Nach erfolgter Erklärung und Bestimmung seines Familien-Namens erhält ein jeder von der Regierung der Provinz, in welcher er seinen Wohnsitz hat, ein Zeugniß, daß er ein Einländer und Staatsbürger sey, welches Zeugniß für ihn und seine Nachkommen künftig statt des Schutzbriefes dient.

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§ 7. Die für Einländer zu achtende Juden [] sollen [] gleiche bürgerliche Rechte und Freiheiten mit den Christen genießen.

§ 8. Sie können daher akademische Lehr- und Schul- auch Gemeinde-Aemter, zu welchen sie sich geschickt gemacht haben, verwalten.

§ 9. In wie fern die Juden zu andern öffentlichen Bedienungen und Staats-Aemtern zugelassen werden können, behalten Wir Uns vor, in der Folge der Zeit, gesetzlich zu bestimmen.

§ 10. Es stehet ihnen frei, in Städten sowohl, als auf dem platten Lande sich niederzulassen.

§ 11. Sie können Grundstücke jeder Art, gleich den christlichen Einwohnern, erwerben, auch alle erlaubte Gewerbe mit Beobachtung der allgemeinen gesetzlichen Vorschriften treiben.

§ 12. Zu der aus dem Staatsbürgerrechte fließenden Gewerbefreiheit, gehöret auch der Handel.

§ 13. Den auf dem platten Lande wohnenden Juden und ihren Angehörigen steht nur frei, denjenigen Handel zu treiben, der den übrigen Bewohnern desselben gestattet ist.

§ 14. Mit besondern Abgaben dürfen die einländischen Juden, als solche, nicht beschweret werden.

§ 15. Sie sind aber gehalten, alle den Christen gegen den Staat und die Gemeinde ihres Wohnorts obliegende bürgerliche Pflichten, zu erfüllen, und mit Ausnahme der Stol-Gebühren, gleiche Lasten, wie andere Staatsbürger zu tragen.

§ 16. Der Militair-Konscription oder Kantonpflichtigkeit, und den damit in Verbindung stehenden besondern gesetzlichen Vorschriften sind die einländischen Juden gleichfalls unterworfen.

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§ 17. Ehebündnisse können einländische Juden unter sich schließen, ohne hierzu einer besondern Genehmigung oder der Losung eines Trauscheins zu bedürfen, in so fern nicht nach allgemeinen Vorschriften die von Andern abhängige Einwilligung oder Erlaubniß zur Ehe überhaupt erforderlich ist.

§ 18. Eben dieses findet statt, wenn ein einländischer Jude eine ausländische Jüdin heirathet.

§ 19. Durch die Heirath mit einer einländischen Jüdin erlangt aber kein fremder Jude das Recht, in hiesige Staaten sich niederzulassen.

§ 20. Die privatrechtlichen Verhältnisse der Juden sind nach eben denselben Gesetzen zu beurtheilen, welche andern Preußischen Staatsbürgern zur Richtschnur dienen.

§ 21. Ausnahmen finden bei solchen Handlungen und Geschäften statt, welche wegen der Verschiedenheit der Religionsbegriffe und des Kultus an besondere gesetzliche Bestimmungen und Formen nothwendig gebunden sind.

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§ 29. In Absicht des Gerichtsstandes und der damit verbundenen vormundschaftlichen Verwaltung findet ebenfalls zwischen Christen und Juden kein Unterschied statt. Nur in Berlin bleibt es vorerst bei dem, den Juden angewiesenen besonderen Gerichtsstande.

§ 30. In keinem Fall dürfen sich Rabbiner und Juden-Aeltesten weder eine Gerichtsbarkeit noch eine vormundschaftliche Einleitung und Direktion anmaßen.

§ 31. Fremden Juden ist es nicht erlaubt, in den hiesigen Staaten sich niederzulassen, so lange sie nicht das Preußische Staatsbürgerrecht erworben haben.

§ 32. Zur Erwerbung dieses Bürgerrechts können sie nur auf den Antrag der Regierung der Provinz, in welcher die Niederlassung erfolgen soll, mit Genehmigung Unsers Ministerii des Innern, gelangen.

§ 33. Sie genießen alsdann mit den Einländern gleiche Rechte und Freiheiten.

§ 34. Fremde Juden, als solche, dürfen weder als Rabbiner und Kirchenbediente, noch als Lehrburschen, noch zu Gewerks- oder Hausdiensten angenommen werden. Es erstrecket sich jedoch dieses nicht auf diejenigen vergeleiteten Juden, welche sich zur Zeit der Publikation des gegenwärtigen Edikts bereits in Unsern Staaten befinden.

§ 35. Diejenigen einländischen Juden, welche gegen diese Vorschrift (§ 34.) handeln, verfallen in 300 Rthlr. Strafe, oder im Falle des Unvermögens, diese zu erlegen, in eine, den wegen der Verwandlung der Strafen vorhandenen allgemeinen Vorschriften angemessene Gefängnißstrafe, und der fremde Jude muß über die Grenze geschafft werden.

§ 36. Ausländischen Juden ist der Eintritt in das Land zur Durchreise oder zum Betrieb erlaubter Handels-Geschäfte gestattet. Ueber das von denselben und gegen dieselben zu beobachtende Verfahren, sollen die Polizei-Behörden mit einer besonderen Instruktion versehen werden.

§ 37. Wegen des Verbots wider das Hausiren überhaupt, hat es bei den Polizei-Gesetzen auch in Absicht der Juden sein Bewenden.

§ 38. In Königsberg in Preußen, in Breslau und Frankfurth an der Oder dürfen fremde Juden, so lange die Meßzeit dauert, mit Genehmigung der Obrigkeit, sich aufhalten.

§ 39. Die nöthigen Bestimmungen wegen des kirchlichen Zustandes und der Verbesserung des Unterrichts der Juden, werden vorbehalten, und es sollen bei der Erwägung derselben, Männer des jüdischen Glaubensbekenntnisses, die wegen ihrer Kenntnisse und Rechtschaffenheit das öffentliche Vertrauen genießen, zugezogen und mit ihrem Gutachten vernommen werden.

Hiernach haben sich Unsere sämmtliche Staats-Behörden und Unterthanen zu achten.

Quelle: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1812. Berlin: Georg Decker [1812], S. 17–22; abgedruckt in Walter Demel und Uwe Puschner, Hrsg., Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß 1789–1815, Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung. Hrsg. Rainer A. Müller, Band 6. Stuttgart: P. Reclam, 1995. S. 211–16.