Kurzbeschreibung

Obwohl er sich den Aufklärungsidealen der Freiheit und des Fortschritts hin zur friedfertigen Selbstregierung verschrieben hatte, unterstrich Johann Gottfried von Herder (1744–1803) in seiner Geschichtskonzeption die Schlüsselrolle ethnisch-linguistisch oder religiös definierter Kulturen, die allein einen Zusammenhang für bedeutsames menschliches Wirken (sei es vernünftig oder nicht) schufen. Solche Kulturen bezeichnete er als „Völker“. Die Geschichte erschien somit eher als Wechselwirkung von Kulturen statt einer Aufeinanderfolge (oder eines Chaos) von Religionen, Einzelpersonen oder Staaten. Dadurch prägte Herder entscheidend den Diskurs des frühen Nationalismus in Deutschland, in dem eher die linguistisch-kulturelle Identität als die politische Staatsbürgerschaft die entscheidende Rolle spielte.

Johann Gottfried von Herder, Auszüge aus Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91)

  • Johann Gottfried von Herder

Quelle

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

FÜNFZEHNTES BUCH

Vorübergehend ist also alles in der Geschichte; die Aufschrift ihres Tempels heißt Nichtigkeit und Verwesung. Wir treten den Staub unsrer Vorfahren und wandeln auf dem eingesunknen Schutt zerstörter Menschenverfassungen und Königreiche. Wie Schatten gingen uns Ägypten, Persien, Griechenland, Rom vorüber; wie Schatten steigen sie aus den Gräbern hervor und zeigen sich in der Geschichte.

Und wenn irgendein Staatsgebäude sich selbst überlebte, wer wünscht ihm nicht einen ruhigen Hingang? Wer fühlt nicht Schauder, wenn er im Kreise lebendig wirkender Wesen auf Totengewölbe alter Einrichtungen stößt, die den Lebendigen Licht und Wohnung rauben? Und wie bald, wenn der Nachfolger diese Katakomben hinwegräumt, werden auch seine Einrichtungen dem Nachfolger gleiche Grabgewölbe dünken und von ihm unter die Erde gesandt werden?

Die Ursache dieser Vergänglichkeit aller irdischen Dinge liegt in ihrem Wesen, in dem Ort, den sie bewohnen, in dem ganzen Gesetz, das unsre Natur bindet. Der Leib der Menschen ist eine zerbrechliche, immer verneuete Hülle, die endlich sich nicht mehr erneuen kann; ihr Geist aber wirkt auf Erden nur in und mit dem Leibe. Wir dünken uns selbständig und hangen von allem in der Natur ab; in eine Kette wandelbarer Dinge verflochten, müssen auch wir den Gesetzen ihres Kreislaufs folgen, die keine andren sind als Entstehen, Sein und Verschwinden. Ein loser Faden knüpft das Geschlecht der Menschen, der jeden Augenblick reißt, um von neuem geknüpft zu werden. Der kluggewordene Greis geht unter die Erde, damit sein Nachfolger ebenfalls wie ein Kind beginne, die Werke seines Vorgängers vielleicht als ein Tor zerstöre und dem Nachfolger dieselbe nichtige Mühe überlasse, mit der auch er sein Leben verzehret. So ketten sich Tage, so ketten Geschlechter und Reiche sich aneinander. Die Sonne geht unter, damit Nacht werde und Menschen sich über eine neue Morgenröte freuen mögen.

Und wenn bei diesem allen nur noch einiger Fortgang merklich wäre, wo zeigt dieser sich aber in der Geschichte? Allenthalben siehet man in ihr Zerstörung, ohne wahrzunehmen, daß das Erneuete besser als das Zerstörte werde. Die Nationen blühen auf und ab; in eine abgeblühete Nation kommt keine junge, geschweige eine schönere Blüte wieder. Die Kultur rückt fort, sie wird aber damit nicht vollkommener; am neuen Ort werden neue Fähigkeiten entwickelt; die alten des alten Orts gingen unwiederbringlich unter. Waren die Römer weiser und glücklicher, als es die Griechen waren? Und sind wirs mehr als beide?

Die Natur des Menschen bleibt immer dieselbe; im zehntausendsten Jahr der Welt wird er mit Leidenschaften geboren, wie er im zweiten derselben mit Leidenschaften geboren ward, und durchläuft den Gang seiner Torheit zu einer späten, unvollkommenen, nutzlosen Weisheit. Wir gehen in einem Labyrinth umher, in welchem unser Leben nur eine Spanne abschneidet, daher es uns fast gleichgültig sein kann, ob der Irrweg Entwurf und Ausgang habe.

Trauriges Schicksal des Menschengeschlechts, das mit allen seinen Bemühungen an Ixions Rad, an Sisyphus Stein gefesselt und zu einem tantalischen Sehnen verdammt ist. Wir müssen wollen, wir müssen streben, ohne daß wir je die Frucht unsrer Mühe vollendet sähen oder aus der ganzen Geschichte ein Resultat menschlicher Bestrebungen lernten. Stehet ein Volk allein da, so nutzt sich sein Gepräge unter der Hand der Zeit ab; kommt es mit andern ins Gedränge, so wird es in den schmelzenden Tiegel geworfen, in welchem sich die Gestalt desselben gleichfalls verlieret. So bauen wir aufs Eis, so schreiben wir in die Welle des Meers; die Welle verrauscht, das Eis zerschmilzt, und hin ist unser Palast wie unsre Gedanken.

Wozu also die unselige Mühe, die Gott dem Menschengeschlecht in seinem kurzen Leben zum Tagwerk gab? Wozu die Last, unter der sich jeder zum Grabe hinabarbeitet? Und niemand wurde gefragt, ob er sie über sich nehme, ob er auf dieser Stelle, zu dieser Zeit, in diesem Kreise geboren sein wollte! Ja, da das meiste Übel der Menschen von ihnen selbst, von ihrer schlechten Verfassung und Regierung, vom Trotz der Unterdrücker und von einer beinah unvermeidlichen Schwachheit der Beherrscher und der Beherrschten herrühret, welch ein Schicksal wars, das den Menschen unter das Joch seines eignen Geschlechts, unter die schwache oder tolle Willkür seiner Brüder verkaufte? Man rechne die Zeitalter des Glückes und Unglücks der Völker, ihrer guten und bösen Regenten, ja auch bei den besten derselben die Summe ihrer Weisheit und Torheit, ihrer Vernunft und Leidenschaft zusammen: welche ungeheure Negative wird man zusammenzählen! Betrachte die Despoten Asiens, Afrikas, ja beinahe der ganzen Erdrunde; siehe jene Ungeheuer auf dem römischen Thron, unter denen Jahrhunderte hin eine Welt litt; zähle die Verwirrungen und Kriege, die Unterdrückungen und leidenschaftlichen Tumulte zusammen und bemerke überall den Ausgang. Ein Brutus sinkt und Antonius triumphieret; Germanicus geht unter, und Tiberius, Caligula, Nero herrschen; Aristides wird verbannt; Konfuzius fliehet umher; Sokrates, Phocion, Seneca sterben. Freilich ist hier allenthalben der Satz kenntlich: Was ist, das ist; was werden kann, wird; was untergehen kann, geht unter; aber ein trauriges Anerkenntnis, das uns allenthalben nichts als den zweiten Satz predigt, daß auf unsrer Erde wilde Macht und ihre Schwester, die boshafte List siege.«

So zweifelt und verzweifelt der Mensch, allerdings nach vielen scheinbaren Erfahrungen der Geschichte, ja gewissermaßen hat diese traurige Klage die ganze Oberfläche der Weltbegebenheiten für sich; daher mir mehrere bekannt sind, die auf dem wüsten Ozean der Menschengeschichte den Gott zu verlieren glaubten, den sie auf dem festen Lande der Naturforschung in jedem Grashalm und Staubkorn mit Geistesaugen sahen und mit vollem Herzen verehrten. Im Tempel der Weltschöpfung erschien ihnen alles voll Allmacht und gütiger Weisheit; auf dem Markt menschlicher Handlungen hingegen, zu welchem doch auch unsre Lebenszeit berechnet worden, sahen sie nichts als einen Kampfplatz sinnloser Leidenschaften, wilder Kräfte, zerstörender Künste ohne eine fortgehende gütige Absicht. Die Geschichte ward ihnen wie ein Spinnengewebe im Winkel des Weltbaus, das in seinen verschlungenen Fäden zwar des verdorreten Raubes gnug, nirgend aber einmal seinen traurigen Mittelpunkt, die webende Spinne selbst zeiget.

Ist indessen ein Gott in der Natur, so ist er auch in der Geschichte: denn auch der Mensch ist ein Teil der Schöpfung und muß in seinen wildesten Ausschweifungen und Leidenschaften Gesetze befolgen, die nicht minder schön und vortrefflich sind als jene, nach welchen sich alle Himmels- und Erdkörper bewegen. Da ich nun überzeugt bin, daß, was der Mensch wissen muß, er auch wissen könne und dürfe, so gehe ich aus dem Gewühl der Szenen, die wir bisher durchwandert haben, zuversichtlich und frei den hohen und schönen Naturgesetzen entgegen, denen auch sie folgen.

I.

Humanität ist der Zweck der Menschennatur, und Gott hat unserm Geschlecht mit diesem Zweck sein eigenes Schicksal in die Hände gegeben

Der Zweck einer Sache, die nicht bloß ein totes Mittel ist, muß in ihr selbst liegen. Wären wir dazu geschaffen, um, wie der Magnet sich nach Norden kehrt, einen Punkt der Vollkommenheit, der außer uns ist und den wir nie erreichen könnten, mit ewig vergeblicher Mühe nachzustreben: so würden wir als blinde Maschinen nicht nur uns, sondern selbst das Wesen bedauern dürfen, das uns zu einem tantalischen Schicksal verdammte, indem es unser Geschlecht bloß zu seiner, einer schadenfrohen, ungöttlichen Augenweide schuf. Wollten wir auch zu seiner Entschuldigung sagen, daß durch diese leeren Bemühungen, die nie zum Ziele reichen, doch etwas Gutes befördert und unsere Natur in einer ewigen Regsamkeit erhalten würde: so bliebe es immer doch ein unvollkommenes, grausames Wesen, das diese Entschuldigung verdiente; denn in der Regsamkeit, die keinen Zweck erreicht, liegt kein Gutes, und es hätte uns, ohnmächtig oder boshaft, durch Vorhaltung eines solchen Traums von Absicht seiner selbst unwürdig getäuschet. Glücklicherweise aber wird dieser Wahn von der Natur der Dinge uns nicht gelehret; betrachten wir die Menschheit, wie wir sie kennen, nach den Gesetzen, die in ihr liegen: so kennen wir nichts Höheres als Humanität im Menschen; denn selbst wenn wir uns Engel oder Götter denken, denken wir sie uns nur als idealische, höhere Menschen.

Zu diesem offenbaren Zweck, sahen wir, ist unsre Natur organisieret; zu ihm sind unsre feineren Sinne und Triebe, unsre Vernunft und Freiheit, unsre zarte und daurende Gesundheit, unsre Sprache, Kunst und Religion uns gegeben. In allen Zuständen und Gesellschaften hat der Mensch durchaus nichts anders im Sinn haben, nichts anders anbauen können als Humanität, wie er sich dieselbe auch dachte. Ihr zugut sind die Anordnungen unsrer Geschlechter und Lebensalter von der Natur gemacht, daß unsre Kindheit länger daure und nur mit Hilfe der Erziehung eine Art Humanität lerne. Ihr zugut sind auf der weiten Erde alle Lebensarten der Menschen eingerichtet, alle Gattungen der Gesellschaft eingeführt worden. Jäger oder Fischer, Hirt oder Ackermann und Bürger, in jedem Zustande lernte der Mensch Nahrungsmittel unterscheiden, Wohnungen für sich und die Seinigen errichten; er lernte für seine beiden Geschlechter Kleidungen zum Schmuck erhöhen und sein Hauswesen ordnen. Er erfand mancherlei Gesetze und Regierungsformen, die alle zum Zweck haben wollten, daß jeder, unbefehdet vom andern, seine Kräfte üben und einen schönern, freieren Genuß des Lebens sich erwerben könnte. Hiezu ward das Eigentum gesichert, und Arbeit, Kunst, Handel, Umgang zwischen mehreren Menschen erleichtert; es wurden Strafen für die Verbrecher, Belohnungen für die Vortrefflichen erfunden, auch tausend sittliche Gebräuche der verschiednen Stände im öffentlichen und häuslichen Leben, selbst in der Religion angeordnet. Hiezu endlich wurden Kriege geführt, Verträge geschlossen, allmählich eine Art Kriegs- und Völkerrecht nebst mancherlei Bündnissen der Gastfreundschaft und des Handels errichtet, damit auch außer den Grenzen seines Vaterlandes der Mensch geschont und geehrt würde. Was also in der Geschichte je Gutes getan ward, ist für die Humanität getan worden; was in ihr Törichtes, Lasterhaftes und Abscheuliches in Schwang kam, ward gegen die Humanität verübet, so daß der Mensch sich durchaus keinen andern Zweck aller seiner Erdanstalten denken kann, als der in ihm selbst, d. i. in der schwachen und starken, niedrigen und edlen Natur liegt, die ihm sein Gott anschuf. Wenn wir nun in der ganzen Schöpfung jede Sache nur durch das, was sie ist und wie sie wirkt, kennen: so ist uns der Zweck des Menschengeschlechts auf der Erde durch seine Natur und Geschichte wie durch die helleste Demonstration gegeben.

Lasset uns auf den Erdstrich zurückblicken, den wir bisher durchwandert haben. In allen Einrichtungen der Völker von China bis Rom, in allen Mannigfaltigkeiten ihrer Verfassung, so wie in jeder ihrer Erfindungen des Krieges und Friedens, selbst bei allen Greueln und Fehlern der Nationen blieb das Hauptgesetz der Natur kenntlich: „Der Mensch sei Mensch! Er bilde sich seinen Zustand nach dem, was er für das Beste erkennet.“ Hiezu bemächtigten sich die Völker ihres Landes und richteten sich ein, wie sie konnten. Aus dem Weibe und dem Staat, aus Sklaven, Kleidern und Häusern, aus Ergötzungen und Speisen, aus Wissenschaft und Kunst ist hie und da auf der Erde alles gemacht worden, was man zu seinem oder des Ganzen Besten daraus machen zu können glaubte. Überall also finden wir die Menschheit im Besitz und Gebrauch des Rechtes, sich zu einer Art von Humanität zu bilden, nachdem sie solche erkannte. Irrten sie oder blieben auf dem halben Wege einer ererbten Tradition stehen, so litten sie die Folgen ihres Irrtums und büßeten ihre eigne Schuld. Die Gottheit hatte ihnen in nichts die Hände gebunden als durch das, was sie waren, durch Zeit, Ort und die ihnen einwohnenden Kräfte. Sie kam ihnen bei ihren Fehlern auch nirgend durch Wunder zu Hilfe, sondern ließ diese Fehler wirken, damit Menschen solche selbst bessern lernten.

So einfach dieses Naturgesetz ist, so würdig ist es Gottes, so zusammenstimmend und fruchtbar an Folgen für das Geschlecht der Menschen. Sollte dies sein, was es ist, und werden, was es werden könnte, so mußte es eine selbstwirksame Natur und einen Kreis freier Tätigkeit um sich her erhalten, in welchem es kein ihm unnatürliches Wunder störte. Alle tote Materie, alle Geschlechter der Lebendigen, die der Instinkt führet, sind seit der Schöpfung geblieben, was sie waren; den Menschen machte Gott zu einem Gott auf Erden, er legte das Principium eigner Wirksamkeit in ihn und setzte solches durch innere und äußere Bedürfnisse seiner Natur von Anfange an in Bewegung. Der Mensch konnte nicht leben und sich erhalten, wenn er nicht Vernunft brauchen lernte; sobald er diese brauchte, war ihm freilich die Pforte zu tausend Irrtümern und Fehlversuchen, eben aber auch und selbst durch diese Irrtümer und Fehlversuche der Weg zum bessern Gebrauch der Vernunft eröffnet. Je schneller er seine Fehler erkennen lernt, mit je rüstigerer Kraft er darauf geht, sie zu bessern, desto weiter kommt er, desto mehr bildet sich seine Humanität; und er muß sie ausbilden oder Jahrhunderte durch unter der Last eigner Schulden ächzen.

Wir sehen also auch, daß sich die Natur zur Errichtung dieses Gesetzes einen so weiten Raum erkor, als ihr der Wohnplatz unsres Geschlechts vergönnte; sie organisierte den Menschen so vielfach, als auf unserer Erde ein Menschengeschlecht sich organisieren konnte. Nahe an den Affen stellete sie den Neger hin, und von der Negervernunft an bis zum Gehirn der feinsten Menschenbildung ließ sie ihr großes Problem der Humanität von allen Völkern aller Zeiten auflösen. Das Notwendige, zu welchem der Trieb und das Bedürfnis führet, konnte beinah keine Nation der Erde verfehlen; zur feinern Ausbildung des Zustandes der Menschheit gab es auch feinere Völker sanfterer Klimate. Wie nun alles Wohlgeordnete und Schöne in der Mitte zweier Extreme liegt, so mußte auch die schönere Form der Vernunft und Humanität in diesem gemäßigtern Mittelstrich ihren Platz finden. Und sie hat ihn nach dem Naturgesetz dieser allgemeinen Konvenienz reichlich gefunden. Denn ob man gleich fast alle asiatischen Nationen von jener Trägheit nicht freisprechen kann, die bei guten Anordnungen zu frühe stehenblieb und eine ererbte Form für unableglich und heilig schätzte, so muß man sie doch entschuldigen, wenn man den ungeheuren Strich ihres festen Landes und die Zufälle bedenkt, denen sie insonderheit von dem Gebirg her ausgesetzt waren. Im Ganzen bleiben ihre ersten frühen Anstalten zur Bildung der Humanität, eine jede nach Zeit und Ort betrachtet, lobenswert, und noch weniger sind die Fortschritte zu verkennen, die die Völker an den Küsten des Mittelländischen Meeres in ihrer größern Regsamkeit gemacht haben. Sie schüttelten das Joch des Despotismus alter Regierungsformen und Traditionen ab und bewiesen damit das große, gütige Gesetz des Menschenschicksals: „daß, was ein Volk oder ein gesamtes Menschengeschlecht zu seinem eignen Besten mit Überlegung wolle und mit Kraft ausführe, das sei ihm auch von der Natur vergönnet, die weder Despoten noch Traditionen, sondern die beste Form der Humanität ihnen zum Ziel setzte.“

Wunderbar schön versöhnt uns der Grundsatz dieses göttlichen Naturgesetzes nicht nur mit der Gestalt unsres Geschlechts auf der weiten Erde, sondern auch mit den Veränderungen desselben durch alle Zeiten hinunter. Allenthalben ist die Menschheit das, was sie aus sich machen konnte, was sie zu werden Lust und Kraft hatte. War sie mit ihrem Zustande zufrieden oder waren in der großen Saat der Zeiten die Mittel zu ihrer Verbesserung noch nicht gereift, so blieb sie Jahrhunderte hin, was sie war, und ward nichts anders. Gebrauchte sie sich aber der Waffen, die ihr Gott zum Gebrauch gegeben hatte, ihres Verstandes, ihrer Macht und aller der Gelegenheiten, die ihr ein günstiger Wind zuführte, so stieg sie künstlich höher, so bildete sie sich tapfer aus. Tat sie es nicht, so zeigt schon diese Trägheit, daß sie ihr Unglück minder fühlte; denn jedes lebhafte Gefühl des Unrechts, mit Verstande und Macht begleitet, muß eine rettende Macht werden. Mitnichten gründete sich z. B. der lange Gehorsam unter dem Despotismus auf die Übermacht des Despoten; die gutwillige, zutrauende Schwachheit der Unterjochten, späterhin ihre duldende Trägheit war seine einzige und größeste Stütze. Denn Dulden ist freilich leichter, als mit Nachdruck bessern; daher brauchten so viele Völker des Rechts nicht, das ihnen Gott durch die Göttergabe ihrer Vernunft gegeben.

Kein Zweifel aber, daß überhaupt, was auf der Erde noch nicht geschehen ist, künftig geschehen werde; denn unverjährbar sind die Rechte der Menschheit, und die Kräfte, die Gott in sie legte, unaustilgbar. Wir erstaunen darüber, wie weit Griechen und Römer es in ihrem Kreise von Gegenständen in wenigen Jahrhunderten brachten; denn wenn auch der Zweck ihrer Wirkung nicht immer der reinste war, so beweisen sie doch, daß sie ihn zu erreichen vermochten. Ihr Vorbild glänzt in der Geschichte und muntert jeden ihresgleichen, unter gleichem und größerm Schutz des Schicksals, zu ähnlichen und bessern Bestrebungen auf. Die ganze Geschichte der Völker wird uns in diesem Betracht eine Schule des Wettlaufs zur Erreichung des schönsten Kranzes der Humanität und Menschenwürde. So viele glorreiche alte Nationen erreichten ein schlechteres Ziel; warum sollten wir nicht ein reineres, edleres erreichen? Sie waren Menschen, wie wir sind; ihr Beruf zur besten Gestalt der Humanität ist der unsrige, nach unsern Zeitumständen, nach unserm Gewissen, nach unsern Pflichten. Was jene ohne Wunder tun konnten, können und dürfen auch wir tun: die Gottheit hilft uns nur durch unsern Fleiß, durch unsern Verstand, durch unsre Kräfte. Als sie die Erde und alle vernunftlosen Geschöpfe derselben geschaffen hatte, formte sie den Menschen und sprach zu ihm: „Sei mein Bild, ein Gott auf Erden! Herrsche und walte! Was du aus deiner Natur Edles und Vortreffliches zu schaffen vermagst, bringe hervor; ich darf dir nicht durch Wunder beistehn, da ich dein menschliches Schicksal in deine menschliche Hand legte; aber alle meine heiligen, ewigen Gesetze der Natur werden dir helfen.“

Lasset uns einige dieser Naturgesetze erwägen, die auch nach den Zeugnissen der Geschichte dem Gange der Humanität in unserm Geschlecht aufgeholfen haben, und, so wahr sie Naturgesetze Gottes sind, ihm aufhelfen werden.

II.

Alle zerstörenden Kräfte in der Natur müssen den erhaltenden Kräften mit der Zeitenfolge nicht nur unterliegen, sondern auch selbst zuletzt zur Ausbildung des Ganzen dienen

Erstes Beispiel. Als einst im Unermeßlichen der Werkstoff künftiger Welten ausgebreitet schwamm, gefiel es dem Schöpfer dieser Welten, die Materie sich bilden zu lassen nach den ihnen anerschaffenen inneren Kräften. Zum Mittelpunkt des Ganzen, der Sonne, floß nieder, was nirgend eigne Bahn finden konnte, oder was sie auf ihrem mächtigen Thron mit überwiegenden Kräften an sich zog. Was einen andern Mittelpunkt der Anziehung fand, ballte sich gleichartig zu ihm und ging entweder in Ellipsen um seinen großen Brennpunkt, oder flog in Parabeln und Hyperbeln hinweg und kam nie wieder. So reinigte sich der Äther, so ward aus einem schwimmenden, zusammenfließenden Chaos ein harmonisches Weltsystem, nach welchem Erden und Kometen in regelmäßigen Bahnen Äonen durch um ihre Sonne umhergehn: ewige Beweise des Naturgesetzes, daß vermittelst eingepflanzter göttlicher Kräfte aus dem Zustande der Verwirrung Ordnung werde. Solange dies einfache große Gesetz aller gegeneinander gewogenen und abgezählten Kräfte dauret, stehet der Weltbau fest; denn er ist auf eine Eigenschaft und Regel der Gottheit gegründet.

Zweites Beispiel. Gleichergestalt als unsre Erde aus einer unförmlichen Masse sich zum Planeten formte, stritten und kämpften auf ihr ihre Elemente, bis jedes seine Stelle fand, so daß nach mancher wilden Verwirrung der harmonisch geordneten Kugel jetzt alles dienet. Land und Wasser, Feuer und Luft, Jahreszeiten und Klimate, Winde und Ströme, die Witterung und was zu ihr gehöret: Alles ist einem großen Gesetz ihrer Gestalt und Masse, ihres Schwunges und ihrer Sonnenentfernung unterworfen und wird nach solchem harmonisch geregelt. Jene unzähligen Vulkane auf der Oberfläche unsrer Erde flammen nicht mehr, die einst flammten; der Ozean siedet nicht mehr von jenen Vitriolgüssen und andern Materien, die einst den Boden unsres festen Landes bedeckten. Millionen Geschöpfe gingen unter, die untergehen mußten; was sich erhalten konnte, blieb und steht jetzt Jahrtausende her in großer harmonischer Ordnung. Wilde und zahme, fleisch- und grasfressende Tiere, Insekten, Vögel, Fische, Menschen und gegeneinander geordnet und unter diesen allen Mann und Weib, Geburt und Tod, Dauer und Lebensalter, Not und Freude, Bedürfnisse und Vergnügen. Und alle dies nicht etwa nach der Willkür einer täglich geänderten, unerklärlichen Fügung, sondern nach offenbaren Naturgesetzen, die im Bau der Geschöpfe, d. i. im Verhältnis aller organischen Kräfte lagen, die sich auf unserm Planeten beseelten und erhielten. Solange das Naturgesetz dieses Baues und Verhältnisses dauert, wird auch seine Folge dauern; harmonische Ordnung nämlich zwischen dem belebten und unbelebten Teil unsrer Schöpfung, die, wie das Innere der Erde zeigt, nur durch den Untergang von Millionen bewirkt werden konnte.

Wie? Und im menschlichen Leben sollte nicht eben dies Gesetz walten, das, innern Naturkräften gemäß, aus dem Chaos Ordnung schafft und Regelmäßigkeit bringt in die Verwirrung der Menschen? Kein Zweifel, wir tragen dies Principium in uns, und es muß und wird seiner Art gemäß wirken. Alle Irrtümer des Menschen sind ein Nebel der Wahrheit; alle Leidenschaften seiner Brust sind wildere Triebe einer Kraft, die sich selbst noch nicht kennet, die ihrer Natur nach aber nicht anders als aufs Bessere wirket. Auch die Stürme des Meers, oft zertrümmernd und verwüstend, sind Kinder einer harmonischen Weltordnung und müssen derselben wie die säuselnden Zephyrs dienen. Gelänge es mir, einige Bemerkungen ins Licht zu setzen, die diese erfreuliche Wahrheit uns vergewissern!

1. Wie die Stürme des Meeres seltner sind als seine regelmäßigen Winde, so ists auch im Menschengeschlecht eine gütige Naturordnung, daß weit weniger Zerstörer als Erhalter in ihm geboren werden.

Im Reich der Tiere ist es ein göttliches Gesetz, daß weniger Löwen und Tiger als Schafe und Tauben möglich und wirklich sind; in der Geschichte ists eine ebenso gütige Ordnung, daß der Nebukadnezars und Kambyses, der Alexanders und Sullas, der Attilas und Dschingis-Khane eine weit geringere Anzahl ist als der sanftern Feldherren oder der stillen friedlichen Monarchen. Zu jenen gehören entweder sehr unregelmäßige Leidenschaften und Mißanlagen der Natur, durch welche sie der Erde statt freundlicher Sterne wie flammende Meteore erscheinen; oder es treten meistens sonderbare Umstände der Erziehung, seltne Gelegenheiten einer frühen Gewohnheit, endlich gar harte Bedürfnisse der feindseligen, politischen Not hinzu, um die sogenannten Geißeln Gottes gegen das Menschengeschlecht in Schwung zu bringen und darin zu erhalten. Wenn also zwar die Natur unsertwegen freilich nicht von ihrem Gange ablassen wird, unter den zahllosen Formen und Komplexionen, die sie hervorbringt, auch dann und wann Menschen von wilden Leidenschaften, Geister zum Zerstören und nicht zum Erhalten ans Licht der Welt zu senden: so steht es eben ja auch in der Gewalt der Menschen, diesen Wölfen und Tigern ihre Herde nicht anzuvertrauen, sondern sie vielmehr durch Gesetze der Humanität selbst zu zähmen. Es gibt keine Auerochsen mehr in Europa, die sonst allenthalben ihr waldigtes Gebiet hatten; auch die Menge der afrikanischen Ungeheuer, die Rom zu seinen Kampfspielen brauchte, ward ihm zuletzt schwer zu erjagen. Je mehr die Kultur der Länder zunimmt, desto enger wird die Wüste, desto seltner ihre wilden Bewohner. Gleichergestalt hat auch in unserm Geschlecht die zunehmende Kultur der Menschen schon diese natürliche Wirkung, daß sie mit der tierischen Stärke des Körpers auch die Anlage zu wilden Leidenschaften schwächt und ein zärteres menschliches Gewächs bildet. Nun sind bei diesem allerdings auch Unregelmäßigkeiten möglich, die oft um so verderblicher wüten, weil sie sich auf eine kindische Schwäche gründen, wie die Beispiele so vieler morgenländischen und römischen Despoten zeigen; allein da ein verwöhntes Kind immer doch eher zu bändigen ist als ein blutdürstiger Tiger, so hat uns die Natur mit ihrer mildernden Ordnung zugleich den Weg gezeigt, wie auch wir durch wachsenden Fleiß das Regellose regeln, das unersättlich Wilde zähmen sollen und zähmen dürfen. Gibt es keine Gegenden voll Drachen mehr, gegen welche jene Riesen der Vorzeit ausziehen müßten: gegen Menschen selbst haben wir keine zerstörenden Herkuleskräfte nötig. Helden von dieser Sinnesart mögen auf dem Kaukasus oder in Afrika ihr blutiges Spiel treiben und den Minotaurus suchen, den sie erlegen; die Gesellschaft, in welcher sie leben, hat das ungezweifelte Recht, alle flammenspeienden Stiere Geryons selbst zu bekämpfen. Sie leidet, wenn sie sich ihnen gutwillig zum Raube hingibt, durch ihre eigne Schuld, wie es die eigne Schuld der Völker war, daß sie sich gegen das verwüstende Rom nicht mit aller Macht einer gemeinschaftlichen Verbindung zur Freiheit der Welt verknüpften.

2. Der Verfolg der Geschichte zeigt, daß mit dem Wachstum wahrer Humanität auch der zerstörenden Dämonen des Menschengeschlechts wirklich weniger geworden sei; und zwar nach innern Naturgesetzen einer sich aufklärenden Vernunft und Staatskunst.

Je mehr die Vernunft unter den Menschen zunimmt, desto mehr muß mans von Jugend auf einsehen lernen, daß es eine schönere Größe gibt als die menschenfeindliche Tyrannengröße, daß es besser und selbst schwerer sei, ein Land zu bauen, als es zu verwüsten, Städte einzurichten, als solche zu zerstören. Die fleißigen Ägypter, die sinnreichen Griechen, die handelnden Phönizier haben in der Geschichte nicht nur eine schönere Gestalt, sondern sie genossen auch während ihres Daseins ein viel angenehmeres und nützlicheres Leben als die zerstörenden Perser, die erobernden Römer, die geizigen Karthaginenser. Das Andenken jener blühet noch in Ruhm, und ihre Wirkung auf Erden ist mit wachsender Kraft unsterblich; dagegen die Verwüster mit ihrer dämonischen Übermacht nichts anders erreichten, als daß sie auf dem Schutthaufen ihrer Beute ein üppiges, elendes Volk wurden und zuletzt selbst den Giftbecher einer ärgern Vergeltung tranken. Dies war der Fall der Assyrer, Babylonier, Perser, Römer; selbst den Griechen hat ihre innere Uneinigkeit, sowie in manchen Provinzen und Städten ihre Üppigkeit mehr als das Schwert der Feinde geschadet. Da nun diese Grundsätze eine Naturordnung sind, die sich nicht etwa nur durch einige Fälle der Geschichte als durch zufällige Exempel beweiset, sondern die auf sich selbst, d. i. auf der Natur der Unterdrückung und einer überstrengten Macht oder auf den Folgen des Sieges, der Üppigkeit und dem Hochmut wie auf Gesetzen eines gestörten Gleichgewichts ruhet und mit dem Lauf der Dinge ihren gleich ewigen Gang hält: warum sollte man zweifeln müssen, daß diese Naturgesetze nicht auch, wie jede andre, erkannt und, je kräftiger sie eingesehen werden, mit der unfehlbaren Gewalt einer Naturwahrheit wirken sollten? Was sich zur mathematischen Gewißheit und auf einen politischen Kalkül bringen läßt, muß später oder früher als Wahrheit erkannt werden; denn an Euklides Sätzen oder am Einmaleins hat noch niemand gezweifelt.

Selbst unsre kurze Geschichte beweist es daher schon klar, daß mit der wachsenden wahren Aufklärung der Völker die menschenfeindlichen, sinnlosen Zerstörungen derselben sich glücklich vermindert haben. Seit Roms Untergang ist in Europa kein kultiviertes Reich mehr entstanden, das seine ganze Einrichtung auf Kriege und Eroberungen gebauet hätte; denn die verheerenden Nationen der mittlern Zeiten waren rohe, wilde Völker. Je mehr aber auch sie Kultur empfingen und ihr Eigentum liebgewinnen lernten, desto mehr drang sich ihnen unvermerkt, ja oft wider ihren Willen, der schönere, ruhige Geist des Kunstfleißes, des Ackerbaues, des Handels und der Wissenschaft auf. Man lernte nutzen, ohne zu vernichten, weil das Vernichtete sich nicht mehr nutzen läßt, und so ward mit der Zeit, gleichsam durch die Natur der Sache selbst ein friedliches Gleichgewicht zwischen den Völkern, weil nach Jahrhunderten wilder Befehdung es endlich alle einsehen lernten, daß der Zweck, den jeder wünschte, sich nicht anders erreichen ließe, als daß sie gemeinschaftlich dazu beitrügen. Selbst der Gegenstand des scheinbar größesten Eigennutzes, der Handel, hat keinen andern als diesen Weg nehmen mögen, weil er Ordnung der Natur ist, gegen welche alle Leidenschaften und Vorurteile am Ende nichts vermögen. Jede handelnde Nation Europas beklaget es jetzt, und wird es künftig noch mehr beklagen, was sie einst des Aberglaubens oder des Neides wegen sinnlos zerstörte. Je mehr die Vernunft zunimmt, desto mehr muß die erobernde eine handelnde Schifffahrt werden, die auf gegenseitiger Gerechtigkeit und Schonung, auf einem fortgehenden Wetteifer in übertreffendem Kunstfleiße, kurz auf Humanität und ihren ewigen Gesetzen ruhet.

Inniges Vergnügen fühlt unsre Seele, wenn sie den Balsam, der in den Naturgesetzen der Menschheit liegt, nicht nur empfindet, sondern ihn auch kraft seiner Natur sich unter den Menschen wider ihren Willen ausbreiten und Raum schaffen siehet. Das Vermögen zu fehlen konnte ihnen die Gottheit selbst nicht nehmen; sie legte es aber in die Natur des menschlichen Fehlers, daß er früher oder später sich als solchen zeigen und dem rechnenden Geschöpf offenbar werden mußte. Kein kluger Regent Europas verwaltet seine Provinzen mehr wie der Perserkönig, ja wie selbst die Römer solche verwalteten; wenn nicht aus Menschenliebe, so aus besserer Einsicht der Sache, da mit den Jahrhunderten sich der politische Kalkül gewisser, leichter, klarer gemacht hat. Nur ein Unsinniger würde zu unserer Zeit ägyptische Pyramiden bauen, und jeder der ähnliche Nutzlosigkeiten aufführt, wird von aller vernünftigen Welt für sinnlos gehalten, wenn nicht aus Völkerliebe, so aus sparender Berechnung. Blutige Fechterspiele, grausame Tierkämpfe dulden wir nicht mehr; alle diese wilden Jugendübungen ist das Menschengeschlecht durchgangen und hat endlich einsehen gelernt, daß ihre tolle Lust der Mühe nicht wert sei. Gleichergestalt bedürfen wir des Drucks armer Römersklaven oder spartanischer Heloten nicht mehr, da unsre Verfassung durch freie Geschöpfe das leichter zu erreichen weiß, was jene alten Verfassungen durch menschliche Tiere gefährlicher und selbst kostbarer erreichten; ja, es muß eine Zeit kommen, da wir auf unsern unmenschlichen Negerhandel ebenso bedaurend zurücksehen werden als auf die alten Römersklaven oder auf die spartanischen Heloten, wenn nicht aus Menschenliebe, so aus Berechnung. Kurz, wir haben die Gottheit zu preisen, daß sie uns bei unsrer fehlbaren schwachen Natur Vernunft gab, einen ewigen Lichtstrahl aus ihrer Sonne, dessen Wesen es ist, die Nacht zu vertreiben und die Gestalten der Dinge, wie sie sind, zu zeigen.

3. Der Fortgang der Künste und Erfindungen selbst gibt dem Menschengeschlecht wachsende Mittel in die Hand, das einzuschränken oder unschädlich zu machen, was die Natur selbst nicht auszutilgen vermochte.

Es müssen Stürme auf dem Meer sein, und die Mutter der Dinge selbst konnte sie dem Menschengeschlecht zugut nicht wegräumen; was gab sie aber ihrem Menschengeschlecht dagegen? Die Schiffskunst. Eben dieser Stürme wegen erfand der Mensch die tausendfach künstliche Gestalt seines Schiffes, und so entkommt er nicht nur dem Sturme, sondern weiß ihm auch Vorteile abzugewinnen und segelt auf seinen Flügeln.

Verschlagen auf dem Meer, konnte der Irrende keine Tyndariden anrufen, die ihm erschienen und rechten Weges ihn leiteten; er erfand sich also selbst seinen Führer, den Kompaß, und suchte am Himmel seine Tyndariden, die Sonne, den Mond und die Gestirne. Mit dieser Kunst ausgerüstet wagt er sich auf den uferlosen Ozean, bis zu seiner höchsten Höhe, bis zu seiner tiefsten Tiefe.

Das verwüstende Element des Feuers konnte die Natur dem Menschen nicht nehmen, wenn sie ihm nicht zugleich die Menschheit selbst rauben wollte; was gab sie ihm also mittelst des Feuers? Tausendfache Künste; Künste, dies fressende Gift nicht nur unschädlich zu machen und einzuschränken, sondern es selbst zum mannigfaltigsten Vorteil zu gebrauchen.

Nicht anders ists mit den wütenden Leidenschaften der Menschen, diesen Stürmen auf dem Meer, diesem verwüstenden Feuerelemente. Eben durch sie und an ihnen hat unser Geschlecht seine Vernunft geschärft und tausend Mittel, Regeln und Künste erfunden, sie nicht nur einzuschränken, sondern selbst zum Besten zu lenken, wie die ganze Geschichte zeiget. Ein leidenschaftloses Menschengeschlecht hätte auch seine Vernunft nie ausgebildet; es läge noch irgend in einer Troglodytenhöhle.

Der menschenfressende Krieg z. B. war jahrhundertelang ein rohes Räuberhandwerk. Lange übten sich die Menschen darin voll wilder Leidenschaften; denn solange es in ihm auf persönliche Stärke, List und Verschlagenheit ankam, konnten bei sehr rühmlichen Eigenschaften nicht anders als zugleich sehr gefährliche Mord- und Raubtugenden genährt werden, wie es die Kriege der alten, mittleren und selbst einiger neuen Zeiten reichlich erweisen. An diesem verderblichen Handwerk aber ward gleichsam wider Willen der Menschen die Kriegskunst erfunden; denn die Erfinder sahen nicht ein, daß damit der Grund des Krieges selbst untergraben würde. Je mehr der Streit eine durchdachte Kunst ward, je mehr insonderheit mancherlei mechanische Erfindungen zu ihm traten, desto mehr ward die Leidenschaft einzelner Personen und ihre wilde Stärke unnütz. Als ein totes Geschütz wurden sie jetzt alle dem Gedanken eines Feldherrn, der Anordnung weniger Befehlshaber unterworfen, und zuletzt blieb es nur den Landesherren erlaubt, dies gefährliche, kostbare Spiel zu spielen, da in alten Zeiten alle kriegerischen Völker beinahe stets in den Waffen waren. Proben davon sahen wir nicht nur bei mehreren asiatischen Nationen, sondern auch bei den Griechen und Römern. Viele Jahrhunderte durch waren sie fast unverrückt im Schlachtfelde: der Volskische Krieg dauerte 106, der Samnitische 71 Jahre; zehn Jahre ward die Stadt Veji wie ein zweites Troja belagert, und unter den Griechen ist der 28jährige verderbliche Peloponnesische Krieg bekannt genug. Da nun bei allen Kriegen der Tod im Treffen das geringste Übel ist, hingegen die Verheerungen und Krankheiten, die ein ziehendes Heer begleiten oder die eine eingeschlossene Stadt drücken, samt der räuberischen Unordnung, die sodann in allen Gewerben und Ständen herrscht, das größere Übel sind, das ein leidenschaftlicher Krieg in tausend schrecklichen Gestalten mit sich führet: so mögen wirs den Griechen und Römern, vorzüglich aber dem Erfinder des Pulvers und den Künstlern des Geschützes danken, daß sie das wildeste Handwerk zu einer Kunst und neuerlich gar zur höchsten Ehrenkunst gekrönter Häupter gemacht haben. Seitdem Könige in eigner Person mit ebenso leidenschaft- als zahllosen Heeren dies Ehrenspiel treiben, so sind wir, bloß der Ehre des Feldherrn wegen, vor Belagerungen, die 10, oder vor Kriegen, die 71 Jahre dauren, sicher, zumal die letzten auch der großen Heere wegen sich selbst aufheben. Also hat nach einem unabänderlichen Gesetz der Natur das Übel selbst etwas Gutes erzeuget, indem die Kriegskunst den Krieg einem Teile nach vertilgt hat. Auch die Räubereien und Verwüstungen haben sich durch sie, nicht eben aus Menschenfreundschaft, sondern der Ehre des Feldherrn wegen, vermindert. Das Recht des Krieges und das Betragen gegen die Gefangenen ist ungleich milder worden, als es selbst bei den Griechen war; an die öffentliche Sicherheit nicht zu gedenken, die bloß in kriegerischen Staaten zuerst aufkam. Das ganze Römische Reich z. B. war auf seinen Straßen sicher, solang es der gewaffnete Adler mit seinen Flügeln deckte; dagegen in Asien und Afrika, selbst in Griechenland einem Fremdlinge das Reisen gefährlich ward, weil es diesen Ländern an einem sichernden Allgemeingeist fehlte. So verwandelt sich das Gift in Arznei, sobald es Kunst wird: einzelne Geschlechter gingen unter, das unsterbliche Ganze aber überlebt die Schmerzen der verschwindenden Teile und lernt am Übel selbst Gutes.

Was von der Kriegskunst galt, muß von der Staatskunst noch mehr gelten; nur ist sie eine schwerere Kunst, weil sich in ihr das Wohl des ganzen Volkes vereinet. Auch der amerikanische Wilde hat seine Staatskunst; aber wie eingeschränkt ist sie, da sie zwar einzelnen Geschlechtern Vorteil bringt, das ganze Volk aber vor dem Untergange nicht sichert. Mehrere kleine Nationen haben sich untereinander aufgerieben; andere sind so dünne geworden, daß im bösen Konflikt mit den Blattern, dem Branntwein und der Habsucht der Europäer manche derselben wahrscheinlich noch ein gleiches Schicksal erwartet. Je mehr in Asien und in Europa die Verfassung eines Staats Kunst ward, desto fester stehet er in sich, desto genauer ward er mit andern zusammengegründet, so daß einer ohne den andern selbst nicht zu fallen vermag. So steht China, so stehet Japan; alte Gebäude, tief unter sich selbst gegründet. Künstlicher schon waren die Verfassungen Griechenlandes, dessen vornehmste Republiken jahrhundertelang um ein politisches Gleichgewicht kämpften. Gemeinschaftliche Gefahren vereinigten sie, und wäre die Vereinigung vollkommen gewesen, so hätte das rüstige Volk dem Philippus und den Römern so glorreich widerstehen mögen, wie es einst dem Darius und Xerxes obgesiegt hatte. Nur die schlechte Staatskunst aller benachbarten Völker war Roms Vorteil; geteilt wurden sie angegriffen, geteilt überwunden. Ein gleiches Schicksal hatte Rom, da seine Staats- und Kriegskunst verfiel; ein gleiches Schicksal Judäa und Ägypten. Kein Volk kann untergehen, dessen Staat wohl bestellt ist; gesetzt, daß es auch überwunden wird, wie mit allen seinen Fehlern selbst China bezeuget.

Noch augenscheinlicher wird der Nutzen einer durchdachten Kunst, wenn von der innern Haushaltung eines Landes, von seinem Handel, seiner Rechtspflege, seinen Wissenschaften und Gewerben die Rede ist; in allen diesen Stücken ist offenbar, daß die höhere Kunst zugleich der höhere Vorteil sei. Ein wahrer Kaufmann betrügt nicht, weil Betrug nie bereichert; sowenig als ein wahrer Gelehrter mit falscher Wissenschaft großtut, oder ein Rechtsgelehrter, der den Namen verdient, wissentlich je ungerecht sein wird, weil alle diese sich damit nicht zu Meistern, sondern zu Lehrlingen ihrer Kunst bekennten. Ebenso gewiß muß eine Zeit kommen, da auch der Staats-Unvernünftige sich seiner Unvernunft schämet und es nicht minder lächerlich und ungereimt wird, ein tyrannischer Despot zu sein, als es in allen Zeiten für abscheulich gehalten worden; sobald man nämlich klar wie der Tag einsieht, daß jede Staats-Unvernunft mit einem falschen Einmaleins rechne, und daß, wenn sie sich damit auch die größesten Summen errechnete, sie hiemit durchaus keinen Vorteil gewinne. Dazu ist nun die Geschichte geschrieben, und es werden sich im Verfolg derselben die Beweise dieses Satzes klar zeigen. Alle Fehler der Regierungen haben vorausgehen und sich gleichsam erschöpfen müssen, damit nach allen Unordnungen der Mensch endlich lerne, daß die Wohlfahrt seines Geschlechts nicht auf Willkür, sondern auf einem ihm wesentlichen Naturgesetz, der Vernunft und Billigkeit ruhe. Wir gehen jetzt der Entwicklung desselben entgegen, und die innere Kraft der Wahrheit möge ihrem Vortrage selbst Licht und Überzeugung geben.

III.

Das Menschengeschlecht ist bestimmt, mancherlei Stufen der Kultur in mancherlei Veränderungen zu durchgehen; auf Vernunft und Billigkeit aber ist der daurende Zustand seiner Wohlfahrt wesentlich und allein gegründet.

Erstes Naturgesetz. In der mathematischen Naturlehre ists erwiesen, daß zum Beharrungszustande eines Dinges jederzeit eine Art Vollkommenheit, ein Maximum oder Minimum erfordert werde, das aus der Wirkungsweise der Kräfte dieses Dinges folget. So könnte z. B. unsre Erde nicht dauren, wenn der Mittelpunkt ihrer Schwere nicht am tiefsten Ort läge und alle Kräfte auf und von demselben in harmonischem Gleichgewicht wirkten. Jedes bestehende Dasein trägt also nach diesem schönen Naturgesetz seine physische Wahrheit, Güte und Notwendigkeit als den Kern seines Bestehens in sich.

Zweites Naturgesetz. Gleichergestalt ists erwiesen, daß alle Vollkommenheit und Schönheit zusammengesetzter, eingeschränkter Dinge oder ihrer Systeme auf einem solchen Maximum ruhe. Das Ähnliche nämlich und das Verschiedene, das Einfache in den Mitteln und das Vielfältige in den Wirkungen, die leichteste Anwendung der Kräfte zur Erreichung des gewissesten oder fruchtbarsten Zweckes bilden eine Art Ebenmaßes und harmonischer Proportion, die von der Natur allenthalben bei den Gesetzen ihrer Bewegung, in der Form ihrer Geschöpfe, beim Größesten und Kleinsten beobachtet ist, und von der Kunst des Menschen, so weit seine Kräfte reichen, nachgeahmt wird. Mehrere Regeln schränken hierbei einander ein, so daß, was nach der einen größer wird, nach der andern abnimmt, bis das zusammengesetzte Ganze seine sparsam-schönste Form und mit derselben innern Bestand, Güte und Wahrheit gewinnet. Ein vortreffliches Gesetz, das Unordnung und Willkür aus der Natur verbannet und uns auch in jedem veränderlichen eingeschränkten Teil der Weltordnung eine Regel der höchsten Schönheit zeiget.

Drittes Naturgesetz. Ebensowohl ists erwiesen, daß, wenn ein Wesen oder ein System derselben aus diesem Beharrungszustande seiner Wahrheit, Güte und Schönheit verrückt worden, es sich demselben durch innere Kraft, entweder in Schwingungen oder in einer Asymptote wieder nähere, weil außer diesem Zustande es keinen Bestand findet. Je lebendiger und vielartiger die Kräfte sind, desto weniger ist der unvermerkte gerade Gang der Asymptote möglich, desto heftiger werden die Schwingungen und Oszillationen, bis das gestörte Dasein das Gleichgewicht seiner Kräfte oder ihrer harmonischen Bewegung, mithin den ihm wesentlichen Beharrungszustand erreichet.

Da nun die Menschheit sowohl im Ganzen als in ihren einzelnen Individuen, Gesellschaften und Nationen ein daurendes Natursystem der vielfachsten lebendigen Kräfte ist: so lasset uns sehen, worin der Bestand desselben liege, auf welchem Punkt sich seine höchste Schönheit, Wahrheit und Güte vereine, und welchen Weg es nehme, um sich bei einer jeden Verrückung, deren uns die Geschichte und Erfahrung so viele darbietet, seinem Beharrungszustande wiederum zu nähern.

1. Die Menschheit ist ein so reicher Entwurf von Anlagen und Kräften, daß, weil alles in der Natur auf der bestimmtesten Individualität ruhet, auch ihre großen und vielen Anlagen nicht anders als unter Millionen verteilt auf unserm Planeten erscheinen konnten. Alles wird geboren, was auf ihm geboren werden kann, und erhält sich, wenn es nach Gesetzen der Natur seinen Beharrungszustand findet. Jeder einzelne Mensch trägt also, wie in der Gestalt seines Körpers, so auch in den Anlagen seiner Seele, das Ebenmaß, zu welchem er gebildet ist und sich selbst ausbilden soll, in sich. Es geht durch alle Arten und Formen menschlicher Existenz von der kränklichsten Unförmlichkeit, die sich kaum lebend erhalten konnte, bis zur schönsten Gestalt eines griechischen Gottmenschen, von der leidenschaftlichsten Hitze eines Negergehirns bis zur Anlage der schönsten Weisheit. Durch Fehler und Verirrungen, durch Erziehung, Not und Übung sucht jeder Sterbliche dies Ebenmaß seiner Kräfte, weil in solchem allein der vollste Genuß seines Daseins lieget; nur wenige Glückliche aber erreichen es auf die reinste, schönste Weise.

2. Da der einzelne Mensch für sich sehr unvollkommen bestehen kann, so bildet sich mit jeder Gesellschaft ein höheres Maximum zusammenwirkender Kräfte. In wilder Verwirrung laufen diese so lange gegeneinander, bis nach unfehlbaren Gesetzen der Natur die widrigen Regeln einander einschränken und eine Art Gleichgewicht und Harmonie der Bewegung werde. So modifizieren sich die Nationen nach Ort, Zeit und ihrem innern Charakter; jede trägt das Ebenmaß ihrer Vollkommenheit, unvergleichbar mit andern, in sich. Je reiner und schöner nun das Maximum war, auf welches ein Volk traf, auf je nützlichere Gegenstände es seine Übung schönerer Kräfte anlegte, je genauer und fester endlich das Band der Vereinigung war, das alle Glieder des Staats in ihrem Innersten knüpfte und sie auf diese guten Zwecke lenkte, desto bestehender war die Nation in sich, desto edler glänzt ihr Bild in der Menschengeschichte. Der Gang, den wir bisher durch einige Völker genommen, zeigte, wie verschieden nach Ort, Zeit und Umständen das Ziel war, auf welches sie ihre Bestrebungen richteten. Bei den Chinesen wars eine feine politische Moral, bei den Indiern eine Art abgezogener Reinheit, stiller Arbeitsamkeit und Duldung, bei den Phöniziern der Geist der Schiffahrt und des handelnden Fleißes. Die Kultur der Griechen, insonderheit Athens, ging auf ein Maximum des Sinnlichschönen, sowohl in der Kunst als den Sitten, in Wissenschaften und in der politischen Einrichtung. In Sparta und Rom bestrebte man sich nach der Tugend eines vaterländischen oder Heldenpatriotismus, in beiden auf eine sehr verschiedene Weise. Da in diesem allen das meiste von Ort und Zeit abhangt, so sind in den auszeichnendsten Zügen des Nationalruhms die alten Völker einander beinahe unvergleichbar.

3. Indessen sehen wir bei allen ein Prinzipium wirken, nämlich eine Menschenvernunft, die aus Vielem Eins, aus der Unordnung Ordnung, aus einer Mannigfaltigkeit von Kräften und Absichten ein Ganzes mit Ebenmaß und daurender Schönheit hervorzubringen sich bestrebet. Von jenen unförmlichen Kunstfelsen, womit der Chinese seine Gärten verschönt, bis zur ägyptischen Pyramide oder zum griechischen Ideal ist allenthalben Plan und Absicht eines nachsinnenden Verstandes, obwohl in sehr verschiednen Graden, merkbar. Je feiner nun dieser Verstand überlegte, je näher er dem Punkt kam, der ein Höchstes seiner Art enthält und keine Abweichung zur Rechten oder zur Linken verstattet, desto mehr wurden seine Werke Muster; denn sie enthalten ewige Regeln für den Menschenverstand aller Zeiten. So lässet sich z. B. über eine ägyptische Pyramide oder über mehrere griechische und römische Kunstwerke nichts Höheres denken. Sie sind rein aufgelöste Probleme des menschlichen Verstandes in dieser Art, bei welchen keine willkürliche Dichtung, daß das Problem etwa auch nicht aufgelöset sei oder besser aufgelöset werden könne, stattfindet; denn der reine Begriff dessen, was sie sein sollten, ist in ihnen auf die leichteste, reichste, schönste Art erschöpfet. Jede Verirrung von ihnen wäre Fehler, und wenn dieser auf tausendfache Art wiederholt und vervielfältigt würde, so müßte man immer doch zu jenem Ziel zurückkehren, das ein Höchstes seiner Art und nur ein Punkt ist.

4. Es ziehet sich demnach eine Kette der Kultur in sehr abspringenden krummen Linien durch alle gebildeten Nationen, die wir bisher betrachtet haben und weiterhin betrachten werden. In jeder derselben bezeichnet sie zu- und abnehmende Größen und hat Maxima allerlei Art. Manche von diesen schließen einander aus oder schränken einander ein, bis zuletzt dennoch ein Ebenmaß im Ganzen stattfindet, so daß es der trüglichste Schluß wäre, wenn man von einer Vollkommenheit einer Nation auf jede andre schließen wollte. Weil Athen z. B. schöne Redner hatte, durfte es deshalb nicht auch die beste Regierungsform haben, und weil China so vortrefflich moralisieret, ist sein Staat noch kein Muster der Staaten. Die Regierungsform beziehet sich auf ein ganz andres Maximum, als ein schöner Sittenspruch oder eine pathetische Rede, obwohl zuletzt alle Dinge bei einer Nation, wenn auch nur ausschließend und einschränkend, sich in einen Zusammenhang finden. Kein andres Maximum als das vollkommenste Band der Verbindung macht die glücklichsten Staaten, gesetzt, das Volk müßte auch mancherlei blendende Eigenschaften dabei entbehren.

5. Auch bei einer und derselben Nation darf und kann nicht jedes Maximum ihrer schönen Mühe ewig dauren; denn es ist nur ein Punkt in der Linie der Zeiten. Unablässig rückte diese weiter, und von je mehreren Umständen die schöne Wirkung abhing, desto mehr ist sie dem Hingange und der Vergänglichkeit unterworfen. Glücklich, wenn ihre Muster alsdann zur Regel anderer Zeitalter bleiben; denn die nächstfolgenden stehen ihnen gemeiniglich zu nah, und sanken vielleicht sogar eben deshalb, weil sie solche übertreffen wollten. Eben bei dem regsamsten Volk gehet es oft in der schnellesten Abnahme vom siedenden bis zum Gefrierpunkt hinunter.

Die Geschichte einzelner Wissenschaften und Nationen hat diese Maxima zu berechnen, und ich wünschte, daß wir nur über die berühmtesten Völker in den bekanntesten Zeiten eine solche Geschichte besäßen; jetzt reden wir nur von der Menschengeschichte überhaupt und vom Beharrungsstande derselben in jeder Form, unter jedem Klima. Dieser ist nichts als Humanität, d. i. Vernunft und Billigkeit in allen Klassen, in allen Geschäften der Menschen. Und zwar ist er dies nicht durch die Willkür eines Beherrschers oder durch die überredende Macht der Tradition, sondern durch Naturgesetze, auf welchen das Wesen des Menschengeschlechts ruhet. Auch seine verdorbensten Einrichtungen rufen uns zu: »Hätten sich unter uns nicht noch Schimmer von Vernunft und Billigkeit erhalten, so wären wir längst nicht mehr, ja wir wären nie entstanden.« Da von diesem Punkt das ganze Gewebe der Menschengeschichte ausgeht, so müssen wir unsern Blick sorgfältig darauf richten.

Zuerst. Was ists, das wir bei allen menschlichen Werken schätzen und wonach wir fragen? Vernunft, Plan und Absicht. Fehlt diese, so ist nichts Menschliches getan; es ist eine blinde Macht bewiesen. Wohin unser Verstand im weiten Felde der Geschichte schweift, suchet er nur sich und findet sich selbst wieder. Je mehr er bei allen seinen Unternehmungen auf reine Wahrheit und Menschengüte traf, desto daurender, nützlicher und schöner wurden seine Werke, desto mehr begegnen sich in ihren Regeln die Geister und Herzen aller Völker in allen Zeiten. Was reiner Verstand und billige Moral ist, darüber sind Sokrates und Konfuzius, Zoroaster, Plato und Cicero einig: trotz ihrer tausendfachen Unterschiede haben sie alle auf einen Punkt gewirkt, auf dem unser ganzes Geschlecht ruhet. Wie nun der Wanderer kein süßeres Vergnügen hat, als wenn er allenthalben, auch wo ers nicht vermutete, Spuren eines ihm ähnlichen, denkenden, empfindenden Genius gewahr wird: so entzückend ist uns in der Geschichte unsres Geschlechts die Echo aller Zeiten und Völker, die in den edelsten Seelen nichts als Menschengüte und Menschenwahrheit tönet. Wie meine Vernunft den Zusammenhang der Dinge sucht, und mein Herz sich freuet, wenn sie solchen gewahr wird, so hat ihn jeder Rechtschaffene gesucht und ihn im Gesichtspunkt seiner Lage nur vielleicht anders als ich gesehen, nur anders als ich bezeichnet. Wo er irrte, irrete er für sich und mich, indem er mich vor einem ähnlichen Fehler warnet. Wo er mich zurechtweiset, belehrt, erquickt, ermuntert, da ist er mein Bruder, Teilnehmer an derselben Weltseele, der einen Menschenvernunft, der einen Menschenwahrheit.

Zweitens. Wie in der ganzen Geschichte es keinen fröhlichern Anblick gibt, als einen verständigen, guten Mann zu finden, der ein solcher, trotz aller Veränderungen des Glückes, in jedem seiner Lebensalter, in jedem seiner Werke bleibt, so wird unser Bedauren tausendfach erregt, wenn wir auch bei großen und guten Menschen Verirrungen ihrer Vernunft wahrnehmen, die nach Gesetzen der Natur ihnen nicht anders als übeln Lohn bringen konnten. Nur zu häufig findet man diese gefallenen Engel in der Menschengeschichte und beklagt die Schwachheit der Form, die unsrer Menschenvernunft zum Werkzeug dienet. Wie wenig kann ein Sterblicher ertragen, ohne niedergebeugt, wie wenig Außerordentlichem begegnen, ohne von seinem Wege abgelenkt zu werden! Diesem war eine kleine Ehre, der Schimmer eines Glückes oder ein unerwarteter Umstand im Leben schon Irrlichtes genug, ihn in Sümpfe und Abgründe zu führen; Jener konnte sich selbst nicht fassen, er überspannte sich und sank ohnmächtig nieder. Ein mitleidiges Gefühl bemächtigt sich unser, wenn wir dergleichen Unglücklich-Glückliche jetzt auf der Wegscheide ihres Schicksals sehen und bemerken, daß sie, um fernerhin vernünftig, billig und glücklich sein zu können, den Mangel der Kraft selbst in sich fühlen. Die ergreifende Furie ist hinter ihnen und stürzt sie wider Willen über die Linie der Mäßigung hinweg; jetzt sind sie in der Hand derselben und büßen zeitlebens vielleicht die Folgen einer kleinen Unvernunft und Torheit. Oder wenn sie das Glück zu sehr erhob, und sie sich jetzt auf der höchsten Stufe desselben fühlen, was stehet ihrem ahnenden Geist bevor als der Wankelmut dieser treulosen Göttin, mithin selbst aus der Saat ihrer glücklichen Unternehmungen ein keimendes Unglück? Vergebens wendest du dein Antlitz, mitleidiger Cäsar, da dir das Haupt deines erschlagenen Feindes Pompejus gebracht wird, und bauest der Nemesis einen Tempel. Du bist über die Grenze des Glückes wie über den Rubikon hinaus; die Göttin ist hinter dir, und dein blutiger Leib wird an der Bildsäule desselben Pompejus zu Boden sinken. Nicht anders ists mit der Einrichtung ganzer Länder, weil sie immer doch nur von der Vernunft oder Unvernunft einiger wenigen abhangen, die ihre Gebieter sind oder heißen. Die schönste Anlage, die auf Jahrhunderte hin der Menschheit die nützlichsten Früchte versprach, wird oft durch den Unverstand eines Einzigen zerrüttet, der, statt Äste zu beugen, den Baum fället. Wie einzelne Menschen, so konnten auch ganze Reiche am wenigsten ihr Glück ertragen; es mochten Monarchen und Despoten, oder Senat und Volk sie regieren. Das Volk und der Despot verstehen am wenigsten der Schicksalsgöttin warnenden Wink: vom Schall des Namens und vom Glanz eines eitlen Ruhms geblendet, stürzen sie hinaus über die Grenzen der Humanität und Klugheit, bis sie zu spät die Folgen ihrer Unvernunft wahrnehmen. Dies war das Schicksal Roms, Athens und mehrerer Völker; gleichergestalt das Schicksal Alexanders und der meisten Eroberer, die die Welt beunruhiget haben; denn Ungerechtigkeit verderbet alle Länder und Unverstand alle Geschäfte der Menschen. Sie sind die Furien des Schicksals; das Unglück ist nur ihre jüngere Schwester, die dritte Gespielin eines fürchterlichen Bundes.

Großer Vater der Menschen, welche leichte und schwere Lektion gabst du deinem Geschlecht auf Erden zu seinem ganzen Tagewerk auf! Nur Vernunft und Billigkeit sollen sie lernen; üben sie dieselbe, so kommt von Schritt zu Schritt Licht in ihre Seele, Güte in ihr Herz, Vollkommenheit in ihren Staat, Glückseligkeit in ihr Leben. Mit diesen Gaben beschenkt und solche treu anwendend, kann der Neger seine Gesellschaft einrichten wie der Grieche, der Troglodyt wie der Chinese. Die Erfahrung wird jeden weiterführen, und die Vernunft sowohl als die Billigkeit seinen Geschäften Bestand, Schönheit und Ebenmaß geben. Verlässet er sie aber, die wesentlichen Führerinnen seines Lebens, was ists, das seinem Glück Dauer geben und ihn den Rachgöttinnen der Inhumanität entziehen möge?

Drittens. Zugleich ergibt sichs, daß, wo in der Menschheit das Ebenmaß der Vernunft und Humanität gestört worden, die Rückkehr zu demselben selten anders als durch gewaltsame Schwingungen von einem Äußersten zum andern geschehen werde. Eine Leidenschaft hob das Gleichgewicht der Vernunft auf, eine andre stürmt ihr entgegen, und so gehen in der Geschichte oft Jahre und Jahrhunderte hin, bis wiederum ruhige Tage werden. So hob Alexander das Gleichgewicht eines großen Weltstrichs auf, und lange noch nach seinem Tode stürmten die Winde. So nahm Rom der Welt auf mehr als ein Jahrtausend den Frieden, und eine halbe Welt wilder Völker ward zur langsamen Wiederherstellung des Gleichgewichts erfordert. An den ruhigen Gang einer Asymptote war bei diesen Länder- und Völkererschütterungen gewiß nicht zu denken. Überhaupt zeigt der ganze Gang der Kultur auf unsrer Erde mit seinen abgerissenen Ecken, mit seinen aus- und einspringenden Winkeln fast nie einen sanften Strom, sondern vielmehr den Sturz eines Waldwassers von den Gebirgen; dazu machen ihn insonderheit die Leidenschaften der Menschen. Offenbar ist es auch, daß die ganze Zusammenordnung unsres Geschlechts auf dergleichen wechselnde Schwingungen eingerichtet und berechnet worden. Wie unser Gang ein beständiges Fallen ist zur Rechten und zur Linken, und dennoch kommen wir mit jedem Schritt weiter: so ist der Fortschritt der Kultur in Menschengeschlechtern und ganzen Völkern. Einzeln versuchen wir oft beiderlei Extreme, bis wir zur ruhigen Mitte gelangen, wie der Pendel zu beiden Seiten hinausschlägt. In steter Abwechselung erneuen sich die Geschlechter, und trotz aller Linearvorschriften der Tradition schreibt der Sohn dennoch auf seine Weise weiter. Beflissentlich unterschied sich Aristoteles von Plato, Epikur von Zeno, bis die ruhigere Nachwelt endlich beide Extreme unparteiisch nutzen konnte. So gehet wie in der Maschine unsres Körpers durch einen notwendigen Antagonismus das Werk der Zeiten zum Besten des Menschengeschlechts fort und erhält desselben daurende Gesundheit. In welchen Abweichungen und Winkeln aber auch der Strom der Menschenvernunft sich fortwinden und brechen möge, er entsprang aus dem ewigen Strome der Wahrheit, und kann sich kraft seiner Natur auf seinem Wege nie verlieren. Wer aus ihm schöpfet, schöpft Dauer und Leben.

Übrigens beruhet sowohl die Vernunft als die Billigkeit auf ein und demselben Naturgesetz, aus welchem auch der Bestand unsres Wesens folget. Die Vernunft mißt und vergleicht den Zusammenhang der Dinge, daß sie solche zum daurenden Ebenmaß ordne. Die Billigkeit ist nichts als ein moralisches Ebenmaß der Vernunft, die Formel des Gleichgewichts gegeneinanderstrebender Kräfte, auf dessen Harmonie der ganze Weltbau ruhet. Ein und dasselbe Gesetz also erstrecket sich von der Sonne und von allen Sonnen bis zur kleinsten menschlichen Handlung; was alle Wesen und ihre Systeme erhält, ist nur eins: Verhältnis ihrer Kräfte zur periodischen Ruhe und Ordnung.

IV.

Nach Gesetzen ihrer innern Natur muß mit der Zeitenfolge auch die Vernunft und Billigkeit unter den Menschen mehr Platz gewinnen und eine daurendere Humanität befördern.

Alle Zweifel und Klagen der Menschen über die Verwirrung und den wenig merklichen Fortgang des Guten in der Geschichte rühret daher, daß der traurige Wanderer auf eine zu kleine Strecke seines Weges siehet. Erweiterte er seinen Blick und vergliche nur die Zeitalter, die wir aus der Geschichte genauer kennen, unparteiisch miteinander, dränge er überdem in die Natur des Menschen und erwägte, was Vernunft und Wahrheit sei, so würde er am Fortgange derselben sowenig als an der gewissesten Naturwahrheit zweifeln. Jahrtausende durch hielt man unsre Sonne und alle Fixsterne für stillstehend; ein glückliches Fernrohr läßt uns jetzt an ihrem Fortrücken nicht mehr zweifeln. So wird einst eine genauere Zusammenhaltung der Perioden in der Geschichte unseres Geschlechts uns diese hoffnungsvolle Wahrheit nicht nur obenhin zeigen, sondern es werden sich auch, trotz aller scheinbaren Unordnung, die Gesetze berechnen lassen, nach welchen kraft der Natur des Menschen dieser Fortgang geschiehet. Am Rande der alten Geschichte, auf dem ich jetzt wie in der Mitte stehe, zeichne ich vorläufig nur einige allgemeine Grundsätze aus, die uns im Verfolg unsres Weges zu Leitsternen dienen werden.

Erstens. Die Zeiten ketten sich kraft ihrer Natur aneinander; mithin auch das Kind der Zeiten, die Menschenreihe, mit allen ihren Wirkungen und Produktionen.

Durch keinen Trugschluß können wirs leugnen, daß unsre Erde in Jahrtausenden älter geworden sei, und daß diese Wandrerin um die Sonne seit ihrem Ursprunge sich sehr verändert habe. In ihren Eingeweiden sehen wir, wie sie einst beschaffen gewesen, und dürfen nur um uns blicken, wie wir sie jetzt beschaffen finden. Der Ozean brauset nicht mehr, ruhig ist er in sein Bette gesunken; die umherschweifenden Ströme haben ihre Ufer gefunden, und die Vegetation sowohl als die organischen Geschöpfe haben in ihren Geschlechtern eine fortwirkende Reihe von Jahren zurückgeleget. Wie nun seit der Erschaffung unsrer Erde kein Sonnenstrahl auf ihr verlorengegangen ist, so ist auch kein abgefallenes Blatt eines Baums, kein verflogener Same eines Gewächses, kein Leichnam eines modernden Tiers, noch weniger eine Handlung eines lebendigen Wesens ohne Wirkung geblieben. Die Vegetation z. B. hat zugenommen und sich, soweit sie konnte, verbreitet; jedes der lebendigen Geschlechter ist in den Schranken, die ihm die Natur durch andre Lebendige setzte, fortgewachsen, und sowohl der Fleiß des Menschen als selbst der Unsinn seiner Verwüstungen ist ein regsames Werkzeug in den Händen der Zeit worden. Auf dem Schutt seiner zerstörten Städte blühen neue Gefilde; die Elemente streueten den Staub der Vergessenheit darüber, und bald kamen neue Geschlechter, die von und über den alten Trümmern bauten. Die Allmacht selbst kann es nicht ändern, daß Folge nicht Folge sei; sie kann die Erde nicht herstellen zu dem, was sie vor Jahrtausenden war, so daß diese Jahrtausende mit allen ihren Wirkungen nicht dagewesen sein sollten.

Im Fortgange der Zeiten liegt also ein Fortgang des Menschengeschlechts, sofern dies auch in die Reihe der Erde- und Zeitkinder gehöret. Erschiene jetzt der Vater der Menschen und sähe sein Geschlecht, wie würde er staunen! Sein Körper war für eine junge Erde gebildet, und nach der damaligen Beschaffenheit der Elemente mußte sein Bau, seine Gedankenreihe und Lebensweise sein; mit sechs und mehr Jahrtausenden hat sich gar manches hierin verändert. Amerika ist in vielen Strichen jetzt schon nicht mehr, was es bei seiner Entdeckung war; in ein paar Jahrtausenden wird man seine alte Geschichte wie einen Roman lesen. So lesen wir die Geschichte der Eroberung Trojas und suchen ihre Stelle, geschweige das Grab des Achilles oder den gottgleichen Helden selbst vergebens. Es wäre zur Menschengeschichte ein schöner Beitrag, wenn man mit unterscheidender Genauigkeit alle Nachrichten der Alten von ihrer Gestalt und Größe, von ihren Nahrungsmitteln und dem Maß ihrer Speisen, von ihren täglichen Beschäftigungen und Arten des Vergnügens, von ihrer Denkart über Liebe und Ehe, über Leidenschaften und Tugend, über den Gebrauch des Lebens und das Dasein nach diesem Leben ort- und zeitgemäß sammlete. Gewiß würde auch schon in diesen kurzen Zeiträumen ein Fortgang des Geschlechts bemerkbar, der ebensowohl die Bestandheit der ewig jungen Natur als die fortwirkenden Veränderungen unsrer alten Mutter Erde zeigte. Diese pflegt der Menschheit nicht allein; sie trägt alle ihre Kinder auf einem Schoß, in denselben Mutterarmen; wenn eins sich verändert, müssen sie sich alle verändern.

Daß dieser Zeitenfortgang auch auf die Denkart des Menschengeschlechts Einfluß gehabt habe, ist unleugbar. Man erfinde, man singe jetzt eine Iliade; man schreibe wie Äschylus, Sophokles und Plato; es ist unmöglich. Der einfache Kindersinn, die unbefangene Art, die Welt anzusehen, kurz, die griechische Jugendzeit ist vorüber. Ein gleiches ists mit Hebräern und Römern; dagegen wissen und kennen wir eine Reihe Dinge, die weder Hebräer noch Römer kannten. Ein Tag hat den andern, ein Jahrhundert das andre gelehrt: die Tradition ist reicher worden; die Muse der Zeiten, die Geschichte selbst spricht mit hundert Stimmen, singt aus hundert Flöten. Möge in dem ungeheuren Schneeball, den uns die Zeiten zugewälzt haben, soviel Unrat, soviel Verwirrung sein, als da will; selbst diese Verwirrung ist ein Kind der Jahrhunderte, die nur auf dem unermüdlichen Fortwälzen einer und derselben Sache entstehen konnte. Jede Wiederkehr also in die alten Zeiten, selbst das berühmte platonische Jahr ist Dichtung, es ist dem Begriff der Welt und Zeit nach unmöglich. Wir schwimmen weiter; nie aber kehrt der Strom zu seiner Quelle zurück, als ob er nie entronnen wäre.

Zweitens. Noch augenscheinlicher macht die Wohnung der Menschen den Fortgang unsres Geschlechts kennbar.

Wo sind die Zeiten, da die Völker wie Troglodyten hie und da in ihren Höhlen hinter ihren Mauern saßen, und jeder Fremdling ein Feind war? Da half, bloß und allein mit der Zeitenfolge, keine Höhle, keine Mauer; die Menschen mußten sich einander kennenlernen: denn sie sind allesamt nur ein Geschlecht auf einem nicht großen Planeten. Traurig gnug, daß sie sich einander fast allenthalben zuerst als Feinde kennenlernten und einander wie Wölfe anstaunten; aber auch dies war Naturordnung. Der Schwache fürchtete sich vor dem Stärkern, der Betrogne vor dem Betrüger, der Vertriebne vor dem, der ihn abermals vertreiben könnte, das unerfahrne Kind endlich vor jedem Fremden. Diese jugendliche Furcht indes und alles, wozu sie mißbraucht wurde, konnte den Gang der Natur nicht ändern: das Band der Vereinigung zwischen mehreren Nationen ward geknüpft, wenngleich durch die Roheit der Menschen zuerst auf harte Weise. Die wachsende Vernunft kann den Knoten brechen; sie kann aber das Band nicht lösen, noch weniger alle die Entdeckungen ungeschehen machen, die jetzt einmal geschehen sind. Moses und Orpheus, Homers und Herodots, Strabo und Plinius Erdgeschichte, was sind sie gegen die unsre? Was ist der Handel der Phönizier, Griechen und Römer gegen Europas Handel? Und so ist uns mit dem, was bisher geschehen ist, auch der Faden des Labyrinths in die Hand gegeben, was künftig geschehen werde. Der Mensch, solange er Mensch ist, wird nicht ablassen, seinen Planeten zu durchwandern, bis dieser ihm ganz bekannt sei; weder die Stürme des Meers, noch Schiffbrüche, noch jene ungeheuren Eisberge und Gefahren der Nord- und Südwelt werden ihn davon abhalten, da sie ihn bisher von den schwersten ersten Versuchen selbst in Zeiten einer sehr mangelhaften Schiffahrt nicht haben abhalten mögen. Der Funke zu allen diesen Unternehmungen liegt in seiner Brust, in der Menschennatur. Neugierde und die unersättliche Begierde nach Gewinn, nach Ruhm, nach Entdeckungen und größerer Stärke, selbst neue Bedürfnisse und Unzufriedenheiten, die im Lauf der Dinge, wie sie jetzt sind. unwidertreiblich liegen, werden ihn dazu aufmuntern, und die Gefahrenbesieger der vorigen Zeit, berühmte glückliche Vorbilder, werden ihn noch mehr beflügeln. Der Wille der Vorsehung wird also durch gute und böse Triebfedern befördert werden, bis der Mensch sein ganzes Geschlecht kenne und darauf wirke. Ihm ist die Erde gegeben und er wird nicht nachlassen, bis sie, wenigstens dem Verstande und dem Nutzen nach, ganz sein sei. Schämen wir uns nicht jetzt schon, daß uns der halbe Teil unsres Planeten, als ob er die abgekehrte Seite des Mondes wäre, so lange unbekannt geblieben?

Drittens. Alle bisherige Tätigkeit des menschlichen Geistes ist kraft ihrer innern Natur auf nichts anders als auf Mittel hinausgegangen, die Humanität und Kultur unsres Geschlechts tiefer zu gründen und weiter zu verbreiten.

Welch ein ungeheurer Fortgang ists von der ersten Flöße, die das Wasser bedeckte, zu einem europäischen Schiff! Weder der Erfinder jener, noch die zahlreichen Erfinder der mancherlei Künste und Wissenschaften, die zur Schiffahrt gehören, dachten daran, was aus der Zusammensetzung ihrer Entdeckungen werden würde; jeder folgte seinem Triebe der Not oder der Neugierde, und nur in der Natur des menschlichen Verstandes, des Zusammenhanges aller Dinge lags, daß kein Versuch, keine Entdeckung vergebens sein konnte. Wie das Wunder einer andern Welt staunten jene Insulaner, die nie ein europäisches Schiff gesehen hatten, dies Ungeheuer an und verwunderten sich noch mehr, da sie bemerkten, daß Menschen wie sie es nach Gefallen über die wilde Meerestiefe lenkten. Hätte ihr Anstaunen zu einer vernünftigen Überlegung jedes großen Zwecks und jedes kleinen Mittels in dieser schwimmenden Kunstwelt werden können, wie höher wäre ihre Bewunderung des menschlichen Verstandes gestiegen! Wohin reichen anjetzt nicht bloß durch dies eine Werkzeug die Hände der Europäer? Wohin werden sie künftig nicht reichen?

Und wie diese Kunst, so hat das Menschengeschlecht in wenigen Jahren ungeheuer viel Künste erfunden, die über Luft, Wasser, Himmel und Erde seine Macht ausbreiten. Ja, wenn wir bedenken, daß nur wenige Nationen in diesem Konflikt der Geistestätigkeit waren, indes der größeste Teil der andern über alten Gewohnheiten schlummerte; wenn wir erwägen, daß fast alle Erfindungen unsres Geschlechts in sehr junge Zeiten fallen, und beinah keine Spur, keine Trümmer eines alten Gebäudes oder einer alten Einrichtung vorhanden ist, die nicht an unsre junge Geschichte geknüpft sei: welche Aussicht gibt uns diese historisch erwiesene Regsamkeit des menschlichen Geistes in das Unendliche künftiger Zeiten! In den wenigen Jahrhunderten, in welchen Griechenland blühete, in den wenigen Jahrhunderten unsrer neuen Kultur, wie vieles ist in dem kleinsten Teil der Welt, in Europa, und auch beinah in dessen kleinstem Teile ausgedacht, erfunden, getan, geordnet und für künftige Zeiten aufbewahrt worden! Wie eine fruchtbare Saat sproßten die Wissenschaften und Künste haufenweise hervor, und eine nährte, eine begeisterte und erweckte die andre. Wie, wenn eine Saite berührt wird, nicht nur alles, was Ton hat, ihr zutönet, sondern auch bis ins Unvernehmbare hin alle ihre harmonischen Töne dem angeklungenen Laut nachtönen; so erfand, so schuf der menschliche Geist, wenn eine harmonische Stelle seines Innern berührt ward. Sobald er auf eine neue Zusammenstimmung traf, konnten in einer Schöpfung, wo alles zusammenhängt, nicht anders als zahlreiche neue Verbindungen ihr folgen.

Aber, wird man sagen, wie sind alle diese Künste und Erfindungen angewandt worden? Hat sich dadurch die praktische Vernunft und Billigkeit, mithin die wahre Kultur und Glückseligkeit des Menschengeschlechts erhöhet? Ich berufe mich auf das, was ich kurz vorher über den Gang der Unordnungen im ganzen Reich der Schöpfung gesagt habe, daß es nach einem innern Naturgesetz ohne Ordnung keine Dauer erhalten könne, nach welcher doch alle Dinge wesentlich streben. Das scharfe Messer in der Hand des Kindes verletzt dasselbe; deshalb ist aber die Kunst, die dies Messer erfand und schärfte, eine der unentbehrlichsten Künste. Nicht alle, die ein solches Werkzeug brauchen, sind Kinder, und auch das Kind wird durch seinen Schmerz den bessern Gebrauch lernen. Künstliche Übermacht in der Hand des Despoten, fremder Luxus unter einem Volk ohne ordnende Gesetze sind dergleichen tötende Werkzeuge; der Schaden selbst aber macht die Menschen klüger, und früh oder spät muß die Kunst, die sowohl den Luxus als den Despotismus schuf, beide selbst zuerst in ihre Schranken zwingen und sodann in ein wirkliches Gute verwandeln. Jede ungeschickte Pflugschar reibet sich durch den langen Gebrauch selbst ab; unbehilfliche, neue Räder und Triebwerke gewinnen bloß durch den Umlauf die bequemere, künstliche Epizykloide. So arbeitet sich auch in den Kräften des Menschen der übertreibende Mißbrauch mit der Zeit zum guten Gebrauch um; durch Extreme und Schwankungen zu beiden Seiten wird notwendig zuletzt die schöne Mitte eines dauernden Wohlstandes in einer regelmäßigen Bewegung. Nur was im Menschenreiche geschehen soll, muß durch Menschen bewirkt werden; wir leiden solange unter unsrer eignen Schuld, bis wir, ohne Wunder der Gottheit, den bessern Gebrauch unsrer Kräfte selbst lernen.

Also haben wir auch nicht zu zweifeln, daß jede gute Tätigkeit des menschlichen Verstandes notwendig einmal die Humanität befördern müsse und befördern werde. Seitdem der Ackerbau in Gang kam, hörte das Menschen- und Eichelnfressen auf; der Mensch fand, daß er von den süßen Gaben der Ceres humaner, besser, anständiger leben könne als vom Fleisch seiner Brüder oder von Eicheln, und ward durch die Gesetze weiserer Menschen gezwungen, also zu leben. Seitdem man Häuser und Städte bauen lernte, wohnte man nicht mehr in Höhlen; unter Gesetzen eines Gemeinwesens schlug man den armen Fremdling nicht mehr tot. So brachte der Handel die Völker näher aneinander; und je mehr er in seinem Vorteil allgemein verstanden wird, desto mehr müssen sich notwendig jene Mordtaten, Unterdrückungen und Betrugsarten vermindern, die immer nur Zeichen des Unverstandes im Handel waren. Durch jeden Zuwachs nützlicher Künste ist das Eigentum der Menschen gesichert, ihre Mühe erleichtert, ihre Wirksamkeit verbreitet; mithin notwendig der Grund zu einer weitern Kultur und Humanität gelegt worden. Welche Mühe z. B. ward durch die einzige Erfindung der Buchdruckerkunst abgetan! Welch ein größerer Umlauf der menschlichen Gedanken, Künste und Wissenschaften durch sie befördert! Wage es jetzt ein europäischer Kang-Ti und wolle die Literatur dieses Weltteils ausrotten; es ist ihm schlechterdings nicht möglich. Hätten Phönizier und Karthaginenser, Griechen und Römer diese Kunst gehabt, der Untergang ihrer Literatur wäre ihren Verwüstern nicht so leicht, ja beinahe unmöglich worden. Lasset wilde Völker auf Europa stürmen, sie werden unsre Kriegskunst nicht bestehen, und kein Attila wird mehr vom Schwarzen und Kaspischen Meer her bis an die Katalaunischen Felder reichen. Lasset Pfaffen, Weichlinge, Schwärmer und Tyrannen aufstehen, so viel da wollen; die Nacht der mittleren Jahrhunderte bringen sie nie mehr wieder. Wie nun kein größerer Nutzen einer menschlichen und göttlichen Kunst denkbar ist, als wenn sie uns Licht und Ordnung nicht nur gibt, sondern es ihrer Natur nach auch verbreitet und sichert: so lasset uns dem Schöpfer danken, daß er unserm Geschlecht den Verstand und diesem die Kunst wesentlich gemacht hat. In ihnen besitzen wir das Geheimnis und Mittel einer sichernden Weltordnung.

Auch darüber dürfen wir nicht sorgen, daß manche trefflich ersonnene Theorie, die Moral selbst nicht ausgenommen, in unserm Geschlecht so lange Zeit nur Theorie bleibe. Das Kind lernt viel, was nur der Mann anwenden kann; deswegen aber hat es solches nicht umsonst gelernet. Unbedachtsam vergaß der Jüngling, woran er sich einst mühsam erinnern wird, oder er muß es gar zum zweitenmal lernen. Bei dem immer erneueten Menschengeschlecht ist also keine aufbewahrte, ja sogar keine erfundene Wahrheit ganz vergeblich; spätere Zeitumstände machen nötig, was man jetzt versäumt, und in der Unendlichkeit der Dinge muß jeder Fall zum Vorschein kommen, der auf irgendeine Weise das Menschengeschlecht übet. Wie wir uns nun bei der Schöpfung die Macht, die das Chaos schuf, zuerst und sodann in ihm ordnende Weisheit und harmonische Güte gedenken: so entwickelt die Naturordnung des Menschengeschlechts zuerst rohe Kräfte; die Unordnung selbst muß sie der Bahn des Verstandes zuführen, und je mehr dieser sein Werk ausarbeitet, desto mehr siehet er, daß Güte allein dem Werk Dauer, Vollkommenheit und Schönheit gewähre.

V.

Es waltet eine weise Güte im Schicksal der Menschen; daher es keine schönere Würde, kein dauerhafteres und reineres Glück gibt, als im Rat derselben zu wirken.

Dem sinnlichen Betrachter der Geschichte, der in ihr Gott verlor und an der Vorsehung zu zweifeln anfing, geschah dies Unglück nur daher, weil er die Geschichte zu flach ansah, oder von der Vorsehung keinen rechten Begriff hatte. Denn wenn er diese für ein Gespenst hält, das ihm auf allen Straßen begegnen und den Lauf menschlicher Handlungen unaufhörlich unterbrechen soll, um nur diesen oder jenen partikularen Endzweck seiner Phantasie und Willkür zu erreichen, so gestehe ich, daß die Geschichte das Grab einer solchen Vorsehung sei; gewiß aber ein Grab zum Besten der Wahrheit. Denn was wäre es für eine Vorsehung, die jeder zum Poltergeist in der Ordnung der Dinge, zum Bundsgenossen seiner eingeschränkten Absicht, zum Schutzverwandten seiner kleinfügigen Torheit gebrauchen könnte; so daß das Ganze zuletzt ohne einen Herren bliebe? Der Gott, den ich in der Geschichte suche, muß derselbe sein, der er in der Natur ist: denn der Mensch ist nur ein kleiner Teil des Ganzen, und seine Geschichte ist wie die Geschichte des Wurms mit dem Gewebe, das er bewohnt, innig verwebet. Auch in ihr müssen also Naturgesetze gelten, die im Wesen der Sache liegen und deren sich die Gottheit so wenig überheben mag, daß sie ja eben in ihnen, die sie selbst gegründet, sich in ihrer hohen Macht mit einer unwandelbaren, weisen und gütigen Schönheit offenbaret. Alles, was auf der Erde geschehen kann, muß auf ihr geschehen, sobald es nach Regeln geschieht, die ihre Vollkommenheit in ihnen selbst tragen. Lasset uns diese Regeln, die wir bisher entwickelt haben, sofern sie die Menschengeschichte betreffen, wiederholen; sie führen alle das Gepräge einer weisen Güte, einer hohen Schönheit, ja der innern Notwendigkeit selbst mit sich.

1. Auf unsrer Erde belebte sich alles, was sich auf ihr beleben konnte: denn jede Organisation trägt in ihrem Wesen eine Verbindung mannigfaltiger Kräfte, die sich einander beschränken und in dieser Beschränkung ein Maximum zur Dauer gewinnen konnten, in sich. Gewannen sie dies nicht, so trennten sich die Kräfte und verbanden sich anders.

2. Unter diesen Organisationen stieg auch der Mensch hervor, die Krone der Erdenschöpfung. Zahllose Kräfte verbanden sich in ihm und gewannen ein Maximum, den Verstand, so wie ihre Materie, der menschliche Körper, nach Gesetzen der schönsten Symmetrie und Ordnung, den Schwerpunkt. Im Charakter des Menschen war also zugleich der Grund seiner Dauer und Glückseligkeit, das Gepräge seiner Bestimmung und der ganze Lauf seines Erdenschicksals gegeben.

3. Vernunft heißt dieser Charakter der Menschheit: denn er vernimmt die Sprache Gottes in der Schöpfung, d. i. er sucht die Regel der Ordnung, nach welcher die Dinge zusammenhangend auf ihr Wesen gegründet sind. Sein innerstes Gesetz ist also Erkenntnis der Existenz und Wahrheit, Zusammenhang der Geschöpfe nach ihren Beziehungen und Eigenschaften. Er ist ein Bild der Gottheit, denn er erforschet die Gesetze der Natur, die Gedanken, nach denen der Schöpfer sie verband, und die er ihnen wesentlich machte. Die Vernunft kann also ebensowenig willkürlich handeln, als die Gottheit selbst willkürlich dachte.

4. Vom nächsten Bedürfnis fing der Mensch an, die Kräfte der Natur zu erkennen und zu prüfen. Sein Zweck dabei ging nicht weiter als auf sein Wohlsein, d. i. auf einen gleichmäßigen Gebrauch seiner eignen Kräfte in Ruhe und Übung. Er kam mit andern Wesen in ein Verhältnis, und auch jetzt ward sein eignes Dasein das Maß dieser Verhältnisse. Die Regel der Billigkeit drang sich ihm auf; denn sie ist nichts als die praktische Vernunft, das Maß der Wirkung und Gegenwirkung zum gemeinschaftlichen Bestande gleichartiger Wesen.

5. Auf dies Principium ist die menschliche Natur gebauet, so daß kein Individuum eines andern oder der Nachkommenschaft wegen da zu sein glauben darf. Befolget der Niedrigste in der Reihe der Menschen das Gesetz der Vernunft und Billigkeit, das in ihm liegt, so hat er Konsistenz, d. i. er genießet Wohlsein und Dauer, er ist vernünftig, billig, glücklich. Dies ist er nicht vermöge der Willkür andrer Geschöpfe oder des Schöpfers, sondern nach den Gesetzen einer allgemeinen, in sich selbst gegründeten Naturordnung. Weichet er von der Regel des Rechts, so muß sein strafender Fehler selbst ihm Unordnung zeigen und ihn veranlassen, zur Vernunft und zur Billigkeit als den Gesetzen seines Daseins und Glücks zurückzukehren.

6. Da seine Natur aus sehr verschiedenen Elementen zusammengesetzt ist, so tut er dieses selten auf dem kürzesten Wege; er schwankt zwischen zwei Extremen, bis er sich selbst gleichsam mit seinem Dasein abfindet und einen Punkt der leidlichen Mitte erreicht, in welchem er sein Wohlsein glaubet. Irrt er hiebei, so geschiehet es nicht ohne sein geheimes Bewußtsein, und er muß die Folgen seiner Schuld tragen. Er trägt sie aber nur bis zu einem gewissen Grad, da sich entweder das Schicksal durch seine eigenen Bemühungen zum Bessern wendet, oder sein Dasein weiterhin keinen innern Bestand findet. Einen wohltätigern Nutzen konnte die höchste Weisheit dem physischen Schmerz und dem moralischen Übel nicht geben; denn kein höherer ist denkbar.

7. Hätte auch nur ein einziger Mensch die Erde betreten, so wäre an ihm der Zweck des menschlichen Daseins erfüllt gewesen, wie man ihn bei so manchen einzelnen Menschen und Nationen für erfüllt achten muß, die durch Ort- und Zeitbestimmungen von der Kette des ganzen Geschlechts getrennet wurden. Da aber alles, was auf der Erde leben kann, solange sie selbst in ihrem Beharrungsstande bleibt, fortdauret: so hatte auch das Menschengeschlecht, wie alle Geschlechte der Lebenden, Kräfte der Fortpflanzung in sich, die dem Ganzen gemäß ihre Proportion und Ordnung finden konnten und gefunden haben. Mithin vererbte sich das Wesen der Menschheit, die Vernunft und ihr Organ, die Tradition, auf eine Reihe von Geschlechtern hinunter. Allmählich ward die Erde erfüllt, und der Mensch ward alles, was er in solchem und keinem andern Zeitraum auf der Erde werden konnte.

8. Die Fortpflanzung der Geschlechter und Traditionen knüpfte also auch die menschliche Vernunft aneinander: nicht, als ob sie in jedem Einzelnen nur ein Bruch des Ganzen wäre, eines Ganzen, das in einem Subjekt nirgend existieret, folglich auch nicht der Zweck des Schöpfers sein konnte, sondern weil es die Anlage und Kette des ganzen Geschlechts so mit sich führte. Wie sich die Menschen fortpflanzen, pflanzen die Tiere sich auch fort, ohne daß eine allgemeine Tiervernunft aus ihren Geschlechtern werde; aber weil Vernunft allein den Beharrungsstand der Menschheit bildet, mußte sie sich als Charakter des Geschlechts fortpflanzen; denn ohne sie war das Geschlecht nicht mehr.

9. Im Ganzen des Geschlechts hatte sie kein andres Schicksal, als was sie bei den einzelnen Gliedern desselben hatte; denn das Ganze bestehet nur in einzelnen Gliedern. Sie ward von wilden Leidenschaften der Menschen, die in Verbindung mit andern noch stürmischer wurden, oft gestört, jahrhundertelang von ihrem Wege abgelenkt und blieb wie unter der Asche schlummernd. Gegen alle diese Unordnungen wandte die Vorsehung kein andres Mittel an, als welches sie jedem einzelnen gewähret, nämlich daß auf den Fehler das Übel folge, und jede Trägheit, Torheit, Bosheit, Unvernunft und Unbilligkeit sich selbst strafe. Nur weil in diesen Zuständen das Geschlecht haufenweise erscheint: so müssen auch Kinder die Schuld der Eltern, Völker die Unvernunft ihrer Führer, Nachkommen die Trägheit ihrer Vorfahren büßen, und wenn sie das Übel nicht verbessern wollen oder können, können sie Zeitalter hin darunter leiden.

10. Jedem einzelnen Gliede wird also die Wohlfahrt des Ganzen sein eigenes Beste: denn wer unter den Übeln desselben leidet, hat auch das Recht und die Pflicht auf sich, diese Übel von sich abzuhalten und sie für seine Brüder zu mindern. Auf Regenten und Staaten hat die Natur nicht gerechnet; sondern auf das Wohlsein der Menschen in ihren Reichen. Jene büßen ihre Frevel und Unvernunft langsamer, als sie der einzelne büßet, weil sie sich immer nur mit dem Ganzen berechnen, in welchem das Elend jedes Armen lange unterdrückt wird; zuletzt aber büßet es der Staat und sie mit desto gefährlicherm Sturze. In alle diesem zeigen sich die Gesetze der Wiedervergeltung nicht anders als die Gesetze der Bewegung bei dem Stoß des kleinsten physischen Körpers, und der höchste Regent Europas bleibt den Naturgesetzen des Menschengeschlechts sowohl unterworfen als der Geringste seines Volkes. Sein Stand verband ihn bloß, ein Haushalter dieser Naturgesetze zu sein und bei seiner Macht, die er nur durch andre Menschen hat, auch für andre Menschen ein weiser und gütiger Menschengott zu werden.

11. In der allgemeinen Geschichte also wie im Leben verwahrloseter einzelner Menschen erschöpfen sich alle Torheiten und Laster unsres Geschlechts, bis sie endlich durch Not gezwungen werden, Vernunft und Billigkeit zu lernen. Was irgend geschehen kann, geschieht, und bringt hervor, was es seiner Natur nach hervorbringen konnte. Dies Naturgesetz hindert keine, auch nicht die ausschweifendste Macht an ihrer Wirkung; es hat aber alle Dinge in die Regel beschränkt, daß eine gegenseitige Wirkung die andre aufhebe, und zuletzt nur das Ersprießliche daurend bleibe. Das Böse, das andre verderbt, muß sich entweder unter die Ordnung schmiegen, oder selbst verderben. Der Vernünftige und Tugendhafte also ist im Reich Gottes allenthalben glücklich; denn sowenig die Vernunft äußern Lohn begehret, sowenig verlangt ihn auch die innere Tugend. Mißlingt ihr Werk von außen, so hat nicht sie sondern ihr Zeitalter davon den Schaden; und doch kann es die Unvernunft und Zwietracht der Menschen nicht immer verhindern: es wird gelingen, wenn seine Zeit kommt.

12. Indessen gehet die menschliche Vernunft im Ganzen des Geschlechts ihren Gang fort; sie sinnet aus, wenn sie auch noch nicht anwenden kann; sie erfindet, wenn böse Hände auch lange Zeit ihre Erfindung mißbrauchen. Der Mißbrauch wird sich selbst strafen und die Unordnung eben durch den unermüdeten Eifer einer immer wachsenden Vernunft mit der Zeit Ordnung werden. Indem sie Leidenschaften bekämpfet, stärkt und läutert sie sich selbst; indem sie hier gedruckt wird, fliehet sie dorthin und erweitert den Kreis ihrer Herrschaft über die Erde. Es ist keine Schwärmerei, zu hoffen, daß, wo irgend Menschen wohnen, einst auch vernünftige, billige und glückliche Menschen wohnen werden; glücklich, nicht nur durch ihre eigene, sondern durch die gemeinschaftliche Vernunft ihres ganzen Brudergeschlechtes.

Ich beuge mich vor diesem hohen Entwurf der allgemeinen Naturweisheit über das Ganze meines Geschlechts, um so williger, da ich sehe, daß er der Plan der gesamten Natur ist. Die Regel, die Weltsysteme erhält und jeden Kristall, jedes Würmchen, jede Schneeflocke bildet, bildete und erhält auch mein Geschlecht; sie machte seine eigne Natur zum Grunde der Dauer und Fortwirkung desselben, solange Menschen sein werden. Alle Werke Gottes haben ihren Bestand in sich und ihren schönen Zusammenhang mit sich; denn sie beruhen alle in ihren gewissen Schranken auf dem Gleichgewicht widerstrebender Kräfte durch eine innere Macht, die diese zur Ordnung lenkte. Mit diesem Leitfaden durchwandre ich das Labyrinth der Geschichte und sehe allenthalben harmonische göttliche Ordnung; denn was irgend geschehen kann, geschieht; was wirken kann, wirket. Vernunft aber und Billigkeit allein dauren, da Unsinn und Torheit sich und die Erde verwüsten.

Wenn ich also, nach jener Fabel, einen Brutus, den Dolch in der Hand, unter dem Sternenhimmel bei Philippi sagen höre: „O Tugend, ich glaubte, daß du etwas seist; jetzt sehe ich, daß du ein Traum bist“, so verkenne ich den ruhigen Weisen in dieser letzten Klage. Besaß er wahre Tugend, so hatte sich diese wie seine Vernunft immer bei ihm belohnet, und mußte ihn auch diesen Augenblick lohnen. War seine Tugend aber bloß Römer-Patriotismus, was Wunder, daß der Schwächere dem Starken, der Träge dem Rüstigern weichen mußte? Auch der Sieg des Antonius samt allen seinen Folgen gehörte zur Ordnung der Welt und zu Roms Naturschicksal.

Gleichergestalt, wenn unter uns der Tugendhafte so oft klagt, daß sein Werk mißlinge, daß rohe Gewalt und Unterdrückung auf Erden herrsche, und das Menschengeschlecht nur der Unvernunft und den Leidenschaften zur Beute gegeben zu sein scheine: so trete der Genius seiner Vernunft zu ihm, und frage ihn freundlich, ob seine Tugend auch rechter Art und mit dem Verstande, mit der Tätigkeit verbunden sei, die allein den Namen der Tugend verdienet? Freilich gelingt nicht jedes Werk allenthalben; darum aber mache, daß es gelinge, und befördre seine Zeit, seinen Ort und jene innre Dauer desselben, in welcher das wahrhaft Gute allein dauret. Rohe Kräfte können nur durch die Vernunft geregelt werden; es gehört aber eine wirkliche Gegenmacht, d. i. Klugheit, Ernst und die ganze Kraft der Güte dazu, sie in Ordnung zu setzen und mit heilsamer Gewalt darin zu erhalten.

Ein schöner Traum ists vom zukünftigen Leben, da man sich im freundschaftlichen Genuß aller der Weisen und Guten denkt, die je für die Menschheit wirkten und mit dem süßen Lohn vollendeter Mühe das höhere Land betraten; gewissermaßen aber eröffnet uns schon die Geschichte diese ergötzende Lauben des Gesprächs und Umgang mit den Verständigen und Rechtschaffenen so vieler Zeiten. Hier stehet Plato vor mir; dort höre ich Sokrates freundliche Fragen und teile sein letztes Schicksal. Wenn Mark Antonin im Verborgenen mit seinem Herzen spricht, redet er auch mit dem meinigen, und der arme Epiktet gibt Befehle, mächtiger als ein König. Der gequälte Tullius, der unglückliche Boethius sprechen zu mir, mir vertrauend die Umstände ihres Lebens, den Gram und den Trost ihrer Seele. Wie weit und wie enge ist das menschliche Herz! Wie einerlei und wiederkommend sind alle seine Leiden und Wünsche, seine Schwachheiten und Fehler, sein Genuß und seine Hoffnung! Tausendfach ist das Problem der Humanität rings um mich aufgelöset, und allenthalben ist das Resultat der Menschenbemühungen dasselbe: „Auf Verstand und Rechtschaffenheit ruhe das Wesen unsres Geschlechts, sein Zweck und sein Schicksal:“ Keinen edlern Gebrauch der Menschengeschichte gibts als diesen: er führt uns gleichsam in den Rat des Schicksals und lehrt uns in unsrer nichtigen Gestalt nach ewigen Naturgesetzen Gottes handeln. Indem er uns die Fehler und Folgen jeder Unvernunft zeigt, so weiset er uns in jenem großen Zusammenhange, in welchem Vernunft und Güte zwar lange mit wilden Kräften kämpfen, immer aber doch ihrer Natur nach Ordnung schaffen und auf der Bahn des Sieges bleiben, endlich auch unsern kleinen und ruhigen Kreis an.

Mühsam haben wir bisher das dunklere Feld alter Nationen durchwandert; freudig gehen wir jetzt dem näheren Tage entgegen und sehen, was aus dieser Saat des Altertums für eine Ernte nachfolgender Zeiten keime. Rom hatte das Gleichgewicht der Völker gehoben; unter ihm verblutete eine Welt; was wird aus diesem gestörten Gleichgewicht für ein neuer Zustand und aus der Asche so vieler Nationen für ein neues Geschöpf hervorgehn?

Quelle: Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Darmstadt: Joseph Melzer Verlag, 1966, S. 395–420.