Kurzbeschreibung

1917 hielt der Direktor einer Nervenklinik in Tübingen, der während des ersten Weltkriegs als Generaloberarzt diente, einen Vortrag über die zunehmende psychologische Traumatisierung der Frontsoldaten (ein Phänomen, das in englischen Quellen aus der Kriegszeit als „shell shock“ bezeichnet wurde).

Ein Nervenarzt über Kriegstraumata (1917)

Quelle

Als sich die Krankenräume von Ende August [1914] ab mit Verwundeten und Kranken füllten, waren unter diesen zwar viele Nervenverwundete und Hirnverletzte, aber fast gar keine Nervenkranken [gemeint sind: psychisch Kranke]. So blieb es auch bis Weihnachten 1914. Erst als im Dezember 1914 in der Champagne die großen Artilleriekämpfe begannen, als die artilleristische Überlegenheit unserer westlichen Gegner zum verheerenden Trommelfeuer anschwoll, brachten uns die Lazarettzüge eine größere Anzahl unverwundeter nervenerkrankter Offiziere und Soldaten. Von da ab wuchs die Zahl in immer rascherem Tempo. Anfangs half man sich, indem man die Nervenkranken unter andere Verletzte und Kranke legte, bald stellte sich das Unzweckmäßige dieses Verfahrens heraus; es mußten Speziallazarette für Nervenkranke geschaffen werden. Ihre Zahl nimmt seither immer mehr zu; kaum ist ein Nervenlazarett eingerichtet, so ist es vollbelegt und es muß für weiteren Raum gesorgt werden, und jetzt sind wir soweit, daß die Nervenkranken der Zahl nach weitaus die wichtigste Kategorie aller Kranken unserer Armee darstellen, daß die Nervenlazarette unseres Landes wohl die einzigen sind, die immer vollbelegt sind. […]

Jedenfalls sind es im Ganzen mehrere Armeekorps, die heute in Deutschland als nervenkrank aus dem Front- und Garnisonsdienst herausgenommen sind. […]

Die Hauptursachen sind Schreck und Angst beim Explodieren feindlicher Geschosse und Minen, beim Anblick verstümmelter und getöteter Kameraden, beim Zusammenstürzen der Unterstände, die der Wahrnehmung eigener Verwundung oder körperlicher Schädigung durch stumpfe Gewalt. Die Folgeerscheinungen sind die Ihnen bekannten Zustände plötzlicher Stummheit, Taubheit oder Taubstummheit, des allgemeinen Zitterns, der Unfähigkeit zu stehen und zu gehen, der Anfälle von Ohnmacht und Krämpfen. […]

Quelle: Robert Gaupp, Die Nervenkranken des Krieges, ihre Beurteilung und Behandlung. Ein Wort zu Aufklärung und Mahnung an weite Kreise unseres Volkes – Vortrag. Stuttgart, 1917, S. 4–5; 9. Abgedruckt in: Bernd Ulrich und Benjamin Ziemann, Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Wahn und Wirklichkeit. Berlin, 1995, S. 102–3.

Ein Nervenarzt über Kriegstraumata (1917), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/das-wilhelminische-kaiserreich-und-der-erste-weltkrieg-1890-1918/ghdi:document-5480> [26.09.2025].