Kurzbeschreibung

Nicht nur Industriearbeiter, sondern auch Angestellte organisierten sich im wilhelminischen Deutschland. Dieses Flugblatt ruft zu einer Versammlung der Handlungsgehilfen in Berlin auf und fordert von der Regierung unter anderem eine gesetzlich festgelegte Arbeitszeitverkürzung und Sonntagsruhe. Diese Forderungen waren letztlich erfolgreich, obwohl sich Veränderungen auf diesem Gebiet nur graduell und nur bis zum Ende der Weimarer Republik durchsetzen ließen.

Flugblatt eines Vereins für Handlungsgehilfen und –gehilfinnen (1890)

Quelle

Handlungsgehilfen! Handlungsgehilfinnen!
Der Reichstag hat den Gesetzentwurf der Regierung, der Eure tägliche Arbeitszeit auf
14 Stunden festsetzt, - einer Kommission überwiesen. Diese hat Gegenvorschläge gemacht,
die thatsächlich eine Verbesserung des Regierungsantrages bedeuten. Kaum waren dieselben
bekannt, da erhob sich unter der Prinzipalität ein Sturm der Entrüstung. War doch ihre Freiheit,
Euch auszubeuten, in etwas beschränkt worden. Wußtet Ihr doch jetzt, wann, unabhängig von
der Laune der Chefs, Eure Ruhezeit beginnt; wann Ihr Euch Eurer Familie, Eurer Erholung,
Eurer Fortbildung widmen konntet.
Dem Ansturm der Schreier droht die Regierung nachzugeben. Alles wollen jene der
freien Vereinbarung überlassen! Keine gesetzliche Festlegung! Hohn und Spott über die
„freie Vereinbarung“! Was ist sie unserer Prinzipalität, ihr, die sich mit Ruhe über Gesetz und
Recht wegsetzt?!
Eine gesetzliche Sonntagsruhe besteht seit Jahren. So kümmerlich sie ist, wir
begrüßten sie als ersten Schritt zur Besserung unserer Lage. Doch wo ist sie hin? Heute, nach
kaum zehn Jahren, kümmern sich Eure Prinzipale nicht mehr um jene Vorschriften, verachten
das Gesetz, schlagen den Überwachungsorganen ein Schnippchen.
Und warum?
Weil jene Maßregeln nur halbe waren, Eure Sonntagsruhe nur eine theilwiese.
Kollegen und Kolleginnen! „Noth lehrt beten“, sagt das Sprüchwort, „aber Noth lehrt
auch kämpfen!“
Nur eine einheitliche Sonntagsruhe kann uns frommen! Nur die Verkürzung
unserer täglichen Arbeitszeit kann uns ein menschenwürdiges Dasein gewähren!
Darum, Kollegen und Kolleginnen, benutzt jede Gelegenheit, für Eure Rechte zu
demonstriren. Zeigt den gesetzgebenden Körperschaften, welches Eure Wünsche sind.
Erscheint alle in der am
Mittwoch, den 20. September, Abends 8½ Uhr
stattfindenden
Großen öftentlichen
Versammlung der Handelsangestellten
in der Berliner Ressource, Kommandentenstr. 57.
Tages-Ordnung
1. Vortrag des Reichstags-Abgeordneten Pfannkuch über: “Der gesetzliche
Ladenschluß”.
2. Vortrag des Kollegen August Hintze: “Die Sonntagsruhe vor den Stadtverordneten”.
3. Diskussion.
Albert Kohn,
Vertrauensmann der Berliner Handlungsgehilfen und Gehilfinnen.
Schliemannstraße 11, II.

Quelle: bpk-Bildagentur, Bildnummer 20030056. Für Rechteanfragen kontaktieren Sie bitte die bpk-Bildagentur: kontakt@bpk-bildagentur.de oder Art Resource: requests@artres.com (für Nordamerika).

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Flugblatt eines Vereins für Handlungsgehilfen und –gehilfinnen (1890), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/das-wilhelminische-kaiserreich-und-der-erste-weltkrieg-1890-1918/ghdi:image-1606> [26.09.2025].