Quelle
Berlin, den 29. Juli 1914
Zur Beurteilung der politischen Lage
Es ist ohne Frage, dass kein Staat Europas dem Konflikt zwischen Österreich und Serbien mit einem anderen als wie menschlichen Interesse gegenüberstehen würde, wenn in ihn nicht die Gefahr einer allgemeinen politischen Verwickelung hineingetragen wäre, die heute bereits droht, einen Weltkrieg zu entfesseln. Seit mehr als fünf Jahren ist Serbien die Ursache einer europäischen Spannung, die mit nachgerade unerträglich werdendem Druck auf dem politischen und wirtschaftlichen Leben der Völker lastet. Mit einer bis zur Schwäche gehenden Langmut hat Österreich bisher die dauernden Provokationen und die auf Zersetzung seines staatlichen Bestandes gerichtete politische Wühlarbeit eines Volkes ertragen, das vom Königsmord im eigenen zum Fürstenmord im Nachbarlande geschritten ist. Erst nach dem letzten scheusslichen Verbrechen hat es zum äussersten Mittel gegriffen, um mit glühendem Eisen ein Geschwür auszubrennen, das fortwährend den Körper Europas zu vergiften drohte. Man sollte meinen, dass ganz Europa ihm hätte Dank wissen müssen. Ganz Europa würde aufgeatmet haben, wenn sein Störenfried in gebührender Weise gezüchtigt und damit Ruhe und Ordnung auf dem Balkan hergestellt worden wäre, aber Russland stellte sich auf die Seite des verbrecherischen Landes. Erst damit wurde die österreichisch-serbische Angelegenheit zu der Wetterwolke, die sich jeden Augenblick über Europa entladen kann.
Österreich hat den europäischen Kabinetten erklärt, dass es weder territoriale Erwerbungen auf Kosten Serbiens anstreben noch den Bestand dieses Staates antasten wolle, es wolle den unruhigen Nachbar nur zwingen, die Bedingungen anzunehmen die es für ein weiteres Nebeneinanderleben für nötig hält, und die Serbien, wie die Erfahrung gezeigt hat, trotz feierlicher Versprechungen ungezwungen niemals halten würde. Die österreichisch-serbische Angelegenheit ist eine rein private Auseinandersetzung, für die, wie gesagt, kein Mensch in Europa ein tiefergehendes Interesse haben würde, das in keiner Weise den europäischen Frieden bedrohen, sondern im Gegenteil ihn festigen würde, wenn nicht Russland sich eingemischt hätte. Das erst hat der Sache den bedrohlichen Charakter gegeben.
Österreich hat nur einen Teil seiner Streitkräfte, acht Armeekorps, gegen Serbien mobilisiert. Gerade genug, um seine Strafexpedition durchführen zu können. Demgegenüber trifft Russland alle Vorbereitungen, um die Armeekorps der Militärbezirke Kiew und Odessa und Moskau, in Summa zwölf Armeekorps, in kürzester Zeit mobilisieren zu können und verfügt ähnliche vorbereitende Massnahmen auch im Norden, der deutschen Grenze gegenüber und an der Ostsee. Es erklärt, mobilisieren zu wollen, wenn Österreich in Serbien einrückt, da es eine Zertrümmerung Serbiens durch Österreich nicht zugeben könne, obgleich Österreich erklärt hat, dass es an eine solche nicht denke.
Was wird und muss die weitere Folge sein? Österreich wird, wenn es in Serbien einrückt, nicht nur der serbischen Armee, sondern auch einer starken russischen Überlegenheit gegenüberstehen, es wird also den Krieg gegen Serbien nicht durchführen können, ohne sich gegen ein russisches Eingreifen zu sichern. Das heisst, es wird gezwungen sein, auch die andere Hälfte seines Heeres mobil zu machen, denn es kann sich unmöglich auf Gnade und Ungnade einem kriegsbereiten Russland ausliefern. Mit dem Augenblick aber, wo Österreich sein ganzes Heer mobil macht, wird der Zusammenstoss zwischen ihm und Russland unvermeidlich werden. Das aber ist für Deutschland der casus foederis. Will Deutschland nicht wortbrüchig werden und seinen Bundesgenossen der Vernichtung durch die russische Übermacht verfallen lassen, so muss es auch seinerseits mobil machen. Das wird auch die Mobilisierung der übrigen Militärbezirke Russlands zur Folge haben. Dann aber wird Russland sagen können, ich werde von Deutschland angegriffen, und damit wird es sich die Unterstützung Frankreichs sichern, das vertragsmässig verpflichtet ist, an dem Kriege teilzunehmen, wenn sein Bundesgenosse Russland angegriffen wird. Das so oft als reines Defensivbündnis gepriesene französisch-russische Abkommen, das nur geschaffen sein soll, um Angriffsplänen Deutschlands begegnen zu können, ist damit wirksam geworden, und die gegenseitige Zerfleischung der europäischen Kulturstaaten wird beginnen.
Man kann nicht leugnen, dass die Sache von seiten Russlands geschickt inszeniert ist. Unter fortwährenden Versicherungen, dass es noch nicht „mobil“ sondern nur „für alle Fälle“ Vorbereitungen treffe, dass es „bisher“ keine Reservisten einberufen habe, macht es sich soweit kriegsbereit, dass es, wenn es die Mobilmachung wirklich ausspricht, in wenigen Tagen zum Vormarsch fertig sein kann. Damit bringt es Österreich in eine verzweifelte Lage und schiebt ihm die Verantwortung zu, indem es doch Österreich zwingt, sich gegen eine russische Überraschung zu sichern. Es wird sagen: Du Österreich machst gegen uns mobil, Du willst also den Krieg mit uns. Gegen Deutschland versichert Russland, nichts unternehmen zu wollen, es weiss aber ganz genau, dass Deutschland einem kriegerischen Zusammenstoss zwischen seinem Bundesgenossen und Russland nicht untätig zusehen kann. Auch Deutschland wird gezwungen werden, mobil zu machen, und wiederum wird Russland der Welt gegenüber sagen können: „Ich habe den Krieg nicht gewollt, aber Deutschland hat ihn herbeigeführt.“ So werden und müssen die Dinge sich entwickeln, wenn nicht, fast möchte man sagen, ein Wunder geschieht, um noch in letzter Stunde einen Krieg zu verhindern, der die Kultur fast des gesamten Europas auf Jahrzehnte hinaus vernichten wird.
Deutschland will diesen schrecklichen Krieg nicht herbeiführen. Die deutsche Regierung weiss aber, dass es die tiefgewurzelten Gefühle der Bundestreue, eines der schönsten Züge deutschen Gemütslebens, in verhängnisvoller Weise verletzen und sich in Widerspruch mit allen Empfindungen ihres Volkes setzen würde, wenn sie ihrem Bundesgenossen in einem Augenblick nicht zu Hilfe kommen wollte, der über dessen Existenz entscheiden muss.
Nach den vorliegenden Nachrichten scheint auch Frankreich vorbereitende Massnahmen für eine eventuelle spätere Mobilmachung zu treffen. Es ist augenscheinlich, dass Russland und Frankreich in ihren Massnahmen Hand in Hand gehen.
Deutschland wird also, wenn der Zusammenstoss zwischen Österreich und Russland unvermeidlich ist, mobil machen und bereit sein, den Kampf nach zwei Fronten aufzunehmen.
Für die eintretendenfalls von uns beabsichtigten militärischen Massnahmen ist es von grösster Wichtigkeit, möglichst bald Klarheit darüber zu erhalten, ob Russland und Frankreich gewillt sind, es auf einen Krieg mit Deutschland ankommen zu lassen. Je weiter die Vorbereitungen unserer Nachbarn fortschreiten, um so schneller werden sie ihre Mobilmachung beendigen können. Die militärische Lage wird dadurch für uns von Tag zu Tag ungünstiger und kann, wenn unsere voraussichtlichen Gegner sich weiter in aller Ruhe vorbereiten, zu verhängnisvollen Folgen für uns führen.
Quelle: Helmuth J. L. von Moltke an Theobald von Bethmann Hollweg (29. Juli 1914), in Walther Schücking und Max Montgelas, Hgrs., Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch. 5 Bände, Berlin, 1922, Bd. 5, S. 349.; abgedruckt in Imanuel Geiss, Julikrise und Kriegsausbruch 1914. 2 Bände, Hannover, 1963–64, Bd. 2, S. 261–63.