Kurzbeschreibung

Thomas Mann (1875–1955) war einer der herausragendsten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Seinen literarischen Durchbruch erlebte er 1905 mit dem Roman Die Buddenbrooks. Verfall einer Familie, in welchem er den Niedergang einer Lübecker Kaufmannsfamilie über mehrere Generationen hinweg verfolgte. Mann verknüpfte formale Neuerungen wie radikal wechselnde Erzählperspektiven mit einem deskriptiven Realismus, der auf erbauliche literarische Andeutungen verzichtete. Seine Beschreibungen waren so lebensnah, dass er beinahe als Sachverständiger in einem Verleumdungsprozess vorgeladen worden wäre, in dessen Verlauf sich ein Autor für sein allzu wahrheitsgetreues Porträt eines örtlichen Anwalts verantworten musste.

Thomas Mann, Ein Nachwort zu Buddenbrooks (1905)

  • Thomas Mann

Quelle

In letzter Zeit wurden mir von verschiedenen Seiten Zeitungsausschnitte zugesandt, in deren Zeilen immer von demselben Gegenstande die Rede war: nämlich von dem Beleidigungsprozeß, den der Rechtsanwalt Ritter in Tondern gegen den Schriftsteller Dose in Lübeck angestrengt und nun schließlich verloren hat, — man weiß, um was es sich handelt.

Ich kenne den Rechtsanwalt nicht, ich kenne den Schriftsteller nicht, ich habe sein Buch nicht gelesen. Aber ich sah, daß in den Verhandlungen mehrere Male von meinem Roman „Buddenbrooks“ die Rede gewesen war, und es versteht sich, daß das mich aufmerksam machte, um so mehr, als ich sah, daß ich in dieser Sache um ein Haar als sachverständiger Zeuge zu Gericht geladen worden wäre.

Nun, ich wäre, sehr wider Erwarten des Herrn Dose und seines Advokaten, kein Entlastungszeuge, — ich wäre ein Belastungszeuge geworden, wenigstens insofern, als ich die beiden Herren durchaus nicht in ihrer Behauptung hätte unterstützen können: wenn ein Dichter lebende Personen zeichne so geschehe das unbewußt. Ich habe, als ich „Buddenbrooks“ schrieb, mit vollem Bewußtsein auf die Wirklichkeiten geblickt, nach denen ich, aus Eigenstem hinzufügend, meine Arbeit gestaltete, und wenn ich wegen Beleidigung verklagt worden wäre, so hätte ich eine Ausflucht wie die von der Unbewußtheit als unwürdig verschmäht. Ich hätte mir gesagte „Die bürgerlichen Gesetze sind offenbar andere als die, welche ich in mir trage, aber ich genieße, wie jedermann, ihren Schutz, sie gelten auch mir, und wenn ich in meinem künstlerischen Tun mit ihnen in Konflikt gerate, so ist das ein Unglück, das wohl leider nicht abzuwenden war und dessen Folgen ich auf mich nehmen muß.“ So hätte ich bei mir gesprochen und hätte mich einem verurteilenden Spruche ohne Maulen und Murren unterworfen.

Man hat versäumt, mich anzuklagen und zu verurteilen. Nun aber, da man es versäumt hat, nun sollte man mich in Frieden lassen und nicht nachträglich und in fremder Angelegenheit meinen Namen vors Tribunal zerren. Nun ist es eine unedle und unrechtlichte Handlungsweise, mich, einen Abwesenden, in offenem Gerichtssaale zu beschimpfen.

Ist das geschehen? — Ja, das ist geschehen; und es ist deshalb, daß ich diese Zeilen niederschreibe und sie in Lübeck veröffentlichen will. Es ist geschehen, durch den Vertreter des Klägers im Dose-Prozeß, der in seinem Plädoyer von „Bilse-Romanen“ gesprochen und als Beispiel dafür meine Erzählung „Buddenbrooks“ namhaft gemacht hat.

War jemand im Saale, in dem bei diesen Worten des Herrn von Brocken irgend etwas wie Empörung sich geregt hat? Ich habe kein Zeichen dafür erhalten. Der Herr, dessen Sache es gewesen wäre, ihm zu antworten, der Sachwalter des Beklagten, der als Jurist empfinden mußte, daß hier „berechtigte Interessen“ in der leichtfertigsten Weise verletzt waren, hat sich darauf beschränkt, zu bedauern, daß ich nicht als Zeuge geladen worden sei; aber mich gegen die Insulte in Schutz genommen hat er nicht. Was Wunder, wenn ich selbst das Wort zur Abwehr nehme? Denn es liegt mir an der Meinung meiner Landsleute über mich, — und das ist natürlich.

Wenn man alle Bücher, in denen ein Dichter, ohne von anderen als künstlerischen Rücksichten geleitet worden zu sein, Zeitgenossen, lebende Personen seiner Bekanntschaft porträtiert hat, auf den Namen Leutnant Bilse‘s taufen wollte, so müßte man ganze Bibliotheken von Werken der Weltliteratur unter diesem Namen versammeln, darunter die allerunsterblichsten. Als, um ein gutes Beispiel zu nennen, Goethe's Werther-Roman erschien und alsbald eine gewaltige Fernwirkung gewann, da hatten die Urbilder der Lotte und ihres Ehemannes alle Ursache, sich kompromittiert zu fühlen. Sie liefen nicht in die Gerichte. Sie begriffen, daß es kleinlich gewesen wäre, dem Dichter zu grollen, der ihnen in seinem Buche ein tausendmal höheres, intensiveres und nachhaltigeres Leben verliehen hatte, als sie in der bürgerlichen Wirklichkeit führten, — und sie schwiegen.

„Vorzüglich!“ sagen meine Landsleute. „Er vergleicht sich mit Goethe!“ — Bewahre, nein. Aber Goethe war nicht immer der allen Injurienklagen entrückte Genius, der er uns heute ist. Auch er war einmal gegenwärtig, Zeitgenosse, modern, war irgendein junger Mann aus Frankfurt, der „schrieb“, der sein Leben dichtete, die Eindrücke, die er von Welt und Menschen gewann, in Büchern gestaltete, gerade wie ich; und wenn ihr mich fragt, mit wem der beiden ich mich eher verwandt fühle mit Goethe oder mit Bilse, so antworte ich ganz ohne Größenwahnsinn: Eher mit Goethe.

Darauf nämlich kommt es an, ob man, dem Wesen, wenn auch gewiß nicht dem Grade nach, eine Art Goethe oder ein Bilse ist, wenn die Frage beantwortet werden soll, ob man im höheren Sinne ein Recht hat, sich Freiheiten zu nehmen, wie ich sie mir in „Buddenbrooks“ genommen habe. Bilse war ein unreiner Pamphletist, für den das Wort „Pamphletist“ schon zu gut ist (denn er hätte Talent haben müssen, um es zu verdienen), der sein bißchen subalterne Gehässigkeit in schlechte Sätze brachte und den sein Skandal so wenig unsterblich gemacht hat, daß in ein paar Jahren keine Seele mehr seiner gedenken wird. Ich würde mich freuen, wenn meine Landsleute mir die Ehre erwiesen, zu glauben, daß es mit mir eine andere Bewandtnis hat!

Welche Bewandtnis? Ich weiß sehr wohl, daß es in Lübeck Leute gibt, welche in mir den berüchtigten Vogel sehen, der sein eigenes Nest beschmutzte. Sie tun unrecht, sie denken unrecht, — ich weiß nicht, wobei ich es ihnen schwören soll denn sie glauben nicht, daß mir irgend etwas heilig sei. Wenn ich als Lübecker und Angehöriger einer lübeckischen Familie sprechen soll, so kann ich sagen: Ich habe zu Ehren meiner Vaterstadt und meiner Familie auf meine Art ebenso viel getan wie mein Vater, der vielleicht in Lübeck noch nicht vergessen ist, auf seine Art getan hat. Ich habe in hunderttausend Deutschen Teilnahme für lübeckisches Leben und Wesen geweckt, ich habe die Augen von hunderttausend Menschen auf das alte Giebelhaus in der Mengstraße gelenkt, habe gemacht, daß hunderttausend Menschen es als eine interessante Lebenserinnerung betrachten würden, wenn sie Gelegenheit hätten, die Urbilder der in meinem Buche wandelnden Gestalten persönlich kennenzulernen, und es ist gar nicht ausgeschlossen, daß man in Deutschland an diesen Gestalten noch seine Freude haben wird zu einer Zeit, wenn wir alle, die Urbilder und ich selbst, längst nicht mehr zu den Lebenden gehören.

Es wird meinen Landsleuten schwerfallen, das zu glauben. Sie werden denken: „Es ist doch nicht möglich, daß der kleine Thomas Mann, der unter uns herumlief und in der Schule so ungewöhnlich faul war und nicht gut tun wollte, ein Dichter ist, ein ordentlicher, nicht nur wie Bilse, sondern einer, der in die Literaturgeschichte kommt.“ Vielleicht ist es nicht möglich. Aber wenn man mich in Lübeck nicht für einen Dichter hält, so brauchte man mich deshalb dort noch nicht für einen Ehrabschneider und Heimatschänder zu halten. Ohne Familien- und Heimatsinn, ohne Liebe zu Familie und Heimat werden Bücher wie „Buddenbrooks“ nicht geschrieben; und wer mich kennt, wer gewisse Arbeiten von mir gelesen hat, die auf dieses Buch folgten, der weiß, wie tief ich, trotz aller Künstler-Libertinage, ein Lübecker Bürger geblieben bin.

Ich grüße die Heimat von Herzen. Sie soll nicht so schlecht von mir denken!

Quelle: Thomas Mann, „Ein Nachwort [zu Buddenbrooks]“ (1905), in Thomas Mann, Reden und Aufsätze. Frankfurt am Main, 1965, S. 714–17.

Thomas Mann, Ein Nachwort zu Buddenbrooks (1905), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/das-wilhelminische-kaiserreich-und-der-erste-weltkrieg-1890-1918/ghdi:document-727> [26.09.2025].