Quelle
„Schlängelung?“
Es gehört zum Wesen einer Zeitenwende, daß das, was gestern als besonders richtig galt, heute ebenso besonders falsch ist. Das Ideal der Straßenbauer von gestern, besonders der Amerikaner und Italiener, war die möglichst lange Gerade, und es wurde als eine ausgesprochene Unvollkommenheit dieses Erdballs angesehen, daß er so selten Gerade mit 30 und 40 Kilometer Länge zuläßt. Heute weiß man, daß die Gerade recht unangenehme Schattenseiten haben kann; von 30 oder 40 Kilometer ist überhaupt nicht die Rede; eher davon, ob nicht drei schon zuviel sind. In solcher Unsicherheit ist nun die Frage gestellt worden: „Also muß eine moderne Straße geschlängelt sein?“ und Entwürfe gestreckter Straßen wurden durch willkürlich eingefügte Windungen einer neuen Mode – denn als solche mußte die Entthronung der Geraden erscheinen – angepaßt.
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Immer wieder stoßen wir auf die zwingende Verpflichtung, das, was wir an erprobtem Wissensgut überkommen haben, darauf zu prüfen, ob es auch den Forderungen unserer Zeit noch entspricht. Es haben so viele gestern noch absolute Werte heute nur noch recht bedingte Geltung, daß es nicht weiter verwunderlich wäre, wenn auch der Geraden als dem bisherigen Ideal der schnellen Straße ein gleiches Los beschieden sein sollte.
Die Gerade ist kosmischen Ursprungs; sie stammt nicht von dieser Erde und kommt in der Natur nicht vor. Kein Lebewesen kann sich in einer Geraden fortbewegen. Das gemeinsame Kennzeichen alles Lebendigen ist der Rhythmus, das Schwingen von einem Pol zum andern. Auch der Mensch ist diesem Gesetz unterworfen; die naturgemäße Linie seiner Fortbewegung ist eine Art Sinuskurve. Er kann mit gespannter Aufmerksamkeit erreichen, daß er nur wenig über die Gerade hin- und herpendelt; aber der Erfolg steht in keinem Verhältnis zum Aufwand. Nur das tote Ding, der abgeschossene Pfeil etwa, folgt willenlos dem einmal gegebenen Anstoß und bewegt sich auf einer beiläufig mathematisch bestimmbaren Bahn. Das Lebewesen folgt seinem Weg mit immer neuem Willensantrieb, der den ablenkenden Umwelteinflüssen Widerstand entgegensetzt, und kommt dadurch zum Pendeln, zum Schwingen, zu dem ihm gemäßen Rhythmus.
Und doch scheinen die alten geschwungenen Straßen nur Verfallszeiten des Straßenbaus zu entstammen. Die römischen wie die napoleonischen Straßen bevorzugen die lange Gerade genau so wie die ersten neuzeitlichen Wege für raschen Verkehr, die Eisenbahnen.
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Nun ist die neuzeitliche Straße nicht für Pferdefuhrwerke, marschierende Fußtruppen oder Schienenfahrzeuge gebaut, sondern für freibewegliche, von Menschen gelenkte Wagen. An die Stelle der unpersönlichen Masse, die einfach muß, ist die selbständige Persönlichkeit getreten, die will. Und diese fühlt sich um so freier und wohler, ist also um so sicherer und leistungsfähiger, wenn sie nicht einer ihr wesensfremden starren Führung folgen muß, sondern wenn der Weg in dem ihr und ihrer Geschwindigkeit angemessenen Rhythmus schwingt. Wohl ist die hemmungslose Geschwindigkeit, die eine lange Gerade dem Führer eines schweren starken Wagens gestattet, berauschend und gut einer schneidigen Schußfahrt auf Schiern zu vergleichen. Als einmaliges Erlebnis ist sie durchaus richtig, aber nicht als Dauerzustand. Auch auf Schiern ist das Schwingen müheloser als das Schußfahren und auf die Dauer genußreicher, und schließlich sind Gebirge und Schnee nicht der Stoppuhr halber geschaffen.
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„Also soll man die neuzeitliche Straße schlängeln?“ Gleichgültig, ob diese Frage ernst oder spöttisch gemeint ist, die Antwort heißt: Nein! Man soll überhaupt nichts absichtlich tun; man soll nicht absichtlich Gerade machen und nicht absichtlich kurven. Man soll nicht mit einer vorgefaßten Meinung an eine Aufgabe herantreten und nicht mit Rezepten, sondern bestenfalls, wenn man es kann, mit einer Vision: der etwa, einer Landschaft mit der rechten Straße die Krone zu geben. Wie auch der Kölner Dom und die Sixtinische Madonna aller Triangulierung zum Trotz nach Visionen geschaffen sind und nicht nach Rezepten.
Die Lösung jeder technischen Aufgabe, die innerhalb eines Landschaftsraumes vernünftig überhaupt gestellt werden kann, ist in ihr bereits enthalten. Woraus folgt, daß sie mit Einfühlung leichter gefunden werden kann als mit dem Rechenschieber. Die beste und schönste Straße schafft der, der von der Landschaft sich die Linie führen und von ihr sich jede Krümmung vorschreiben läßt, nicht von seiner Absicht: ich muß jetzt eine Kurve machen, sonst wird die Gerade zu lang. Auf allen Gebieten künstlerischen Schaffens, und Straßenbau soll Kunst sein, ist die Willkür das vollkommen Unkünstlerische und nur dem Genie ab und zu erlaubt. Der Entwerfende hat immer noch genug zu tun mit der Prüfung, wie lang er die Gerade, wie groß er den Krümmungshalbmesser machen darf, ohne der Landschaft Gewalt anzutun. […]
Quelle: Alwin Seifert, Im Zeitalter des Lebendigen: Natur, Heimat, Technik. Dresden/Planegg: Müllersche Verlagshandlung, 1941, S. 114–17