Kurzbeschreibung

Ursula von Kardorff war eine deutsche Journalistin, die sich während der NS-Diktatur hauptsächlich mit Kunst und Kultur in Deutschland beschäftigte. Sie blieb während des gesamten Krieges im Kulturjournalismus tätig und arbeitete bis März 1945 bei der Deutschen Allgemeinen Zeitung (DAZ) in Berlin, als sie ihre Arbeit aufgab, um vor den vorrückenden Russen zu fliehen. Von Kardorff war eine Regimegegnerin und hatte bekannte Verbindungen zu Mitgliedern des Widerstands, darunter Fritz-Dietlof von der Schulenburg, und wurde deshalb im Zusammenhang mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 auf Hitler verhört. Es gelang ihr, die Gestapo davon zu überzeugen, dass sie keine Verbindung zu der Verschwörung hatte, und sie wurde freigelassen. Ihre Tagebücher, die erstmals 1962 veröffentlicht wurden, beschreiben ihre Erfahrungen im nationalsozialistischen Deutschland und ihre wachsende Unzufriedenheit mit dem Regime.

In diesem Auszug wird deutlich, dass Ende 1942 in einigen Kreisen die Bereitschaft bestand, hinter verschlossenen Türen über die Sinnlosigkeit des Krieges zu diskutieren. Trotz der Anwesenheit eines SS-Mitglieds werden kritische Meinungen geäußert. Aus diesen Bedenken entwickelte sich ein zunehmender Pessimismus, der nach der Niederlage in Stalingrad besonders ausgeprägt werden sollte.

Ursula von Kardorff, Tagebucheinträge über die Stimmung an der Heimatfront (Oktober/November 1942)

Quelle

31. Oktober 1942

Geschwisterabend mit Adelheid Veltheim und ihrem jüngeren Bruder Josel, der nach anderthalbjähriger Lazarettzeit gerade wieder am Stock gehen kann, obwohl die Wunde am Bein noch ständig eitert. Klaus, Jürgen, Josel, nach außen alle drei unbeschwert, sind Offiziere, die nicht wissen, wie sie die Gegensätze von Front und Heimat verarbeiten sollen. Ich überlegte, wie weit ist es eine Illusion, wenn sie glauben, im Kampf gegen Rußland auf der Seite der christlich-westlichen Kultur zu stehen? Klaus sagte: „Wir kämpfen, damit wir euch diese Heimat erhalten können.“ Jürgen: „Jeder Franzose, jeder Russe verteidigt sein Land, wenn es bedroht ist, das ist doch selbstverständlich.“ Josel: „Aber ist dieses Vaterland, für das schon so viele gefallen sind, in Wirklichkeit nicht schon tot? Verteidigen wir nicht Ideale, die von der Heimat längst verraten wurden?“ Ich schwieg. Ich hatte nicht den Mut, sie noch mehr zu belasten.

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1. November 1942

Am Sonnabend fünfzig Personen bei uns, die die halbe Nacht blieben. Ein Fest im Zeichen des Krieges. Wir hatten eigentlich nur leere Gläser aufgestellt, sie zu füllen besorgten die Gäste, die genügend Flaschen mitgebracht hatten. Sechs Schwerverwundete kamen, für sie war der Abend gedacht. Einer hatte den Arm hochgeschient, ein anderer humpelte auf Krücken. Schwab-Felisch tanzte sogar, obwohl ihm die Füße halb erfroren sind und er noch keine richtigen orthopädischen Schuhe hat.
Merkwürdiger Abend. Viele hatten keine Lust zum Tanzen, sondern saßen in meinem Zimmer und diskutierten. Nicht ganz ungefährlich, da in letzter Minute Q. erschienen war, SS-Mann und Journalist. Vermutlich hat er selten so offen reden gehört wie bei uns. Gestern sagte er am Telefon zu Mama, er sei entsetzt gewesen über so viel Defaitismus. Es war ihm wenig erspart worden. Die heftigsten Angriffe kamen von den Soldaten. Vor allem wegen der Kirchenpolitik. Josel konnte den Ort in Posen nennen, in dem alle Kirchen geschlossen worden sind. „Gehören zu einem Eid nicht zwei?“ fragte er. „Muß nicht auch der, auf den er geleistet wird, sich an ihn halten?“ „Wir sind alle wie die Ratten auf einem Schiff, nur mit dem Unterschied, daß wir es nicht mehr verlassen können“, war die Antwort. „Also Nibelungentreue?“ fragte Adelheid. Werner Haeften, ein Neffe von Brauchitsch, der mit seiner schweren Verwundung monatelang im Lazarett gelegen hat und bei uns nur auf einem Gummiring sitzen konnte, sagte ironisch zu Q.: „Wir wollen nichts anderes mit euch machen, als euch alle auf eine Insel bringen, dort müßtet ihr von morgens bis abends durch den Lautsprecher eure eigenen Reden anhören.“
Q. verteidigte sich, so gut er konnte. Er gilt als der begabteste Journalist, den die Nazis haben. Schließlich wurde es ihm zu bunt. Als Konrad Zweigert sagte: „Es wird ja alles getan, um die Wahrheit zu unterdrücken“, sprang er auf und wollte gehen. Klaus und ich beruhigten ihn mit Mühe. Solche Aussprachen sind nicht ungefährlich für alle Beteiligten. Freilich können sich verwundete Soldaten die offenste Sprache erlauben.

Am schönsten war der Abend gewesen, bevor die Gäste kamen und ich mit den beiden Brüdern abwechselnd im ausgeräumten Eßzimmer tanzte.

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Quelle: Ursula von Kardorff, Berliner Aufzeichnungen aus den Jahren 1942 bis 1945. 2. Aufl. München: Biederstein, 1962. S. 8-10.

Ursula von Kardorff, Tagebucheinträge über die Stimmung an der Heimatfront (Oktober/November 1942), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/deutschland-nationalsozialismus-1933-1945/ghdi:document-5169> [07.11.2024].