Quelle
31. Oktober 1942
Geschwisterabend mit Adelheid Veltheim und ihrem jüngeren Bruder Josel, der nach anderthalbjähriger Lazarettzeit gerade wieder am Stock gehen kann, obwohl die Wunde am Bein noch ständig eitert. Klaus, Jürgen, Josel, nach außen alle drei unbeschwert, sind Offiziere, die nicht wissen, wie sie die Gegensätze von Front und Heimat verarbeiten sollen. Ich überlegte, wie weit ist es eine Illusion, wenn sie glauben, im Kampf gegen Rußland auf der Seite der christlich-westlichen Kultur zu stehen? Klaus sagte: „Wir kämpfen, damit wir euch diese Heimat erhalten können.“ Jürgen: „Jeder Franzose, jeder Russe verteidigt sein Land, wenn es bedroht ist, das ist doch selbstverständlich.“ Josel: „Aber ist dieses Vaterland, für das schon so viele gefallen sind, in Wirklichkeit nicht schon tot? Verteidigen wir nicht Ideale, die von der Heimat längst verraten wurden?“ Ich schwieg. Ich hatte nicht den Mut, sie noch mehr zu belasten.
[…]
1. November 1942
Am Sonnabend fünfzig Personen bei uns, die die halbe Nacht
blieben. Ein Fest im Zeichen des Krieges. Wir hatten eigentlich nur
leere Gläser aufgestellt, sie zu füllen besorgten die Gäste, die
genügend Flaschen mitgebracht hatten. Sechs Schwerverwundete kamen,
für sie war der Abend gedacht. Einer hatte den Arm hochgeschient,
ein anderer humpelte auf Krücken. Schwab-Felisch tanzte sogar,
obwohl ihm die Füße halb erfroren sind und er noch keine richtigen
orthopädischen Schuhe hat.
Merkwürdiger Abend. Viele hatten
keine Lust zum Tanzen, sondern saßen in meinem Zimmer und
diskutierten. Nicht ganz ungefährlich, da in letzter Minute Q.
erschienen war, SS-Mann und Journalist. Vermutlich hat er selten so
offen reden gehört wie bei uns. Gestern sagte er am Telefon zu Mama,
er sei entsetzt gewesen über so viel Defaitismus. Es war ihm wenig
erspart worden. Die heftigsten Angriffe kamen von den Soldaten. Vor
allem wegen der Kirchenpolitik. Josel konnte den Ort in Posen
nennen, in dem alle Kirchen geschlossen worden sind. „Gehören zu
einem Eid nicht zwei?“ fragte er. „Muß nicht auch der, auf den er
geleistet wird, sich an ihn halten?“ „Wir sind alle wie die Ratten
auf einem Schiff, nur mit dem Unterschied, daß wir es nicht mehr
verlassen können“, war die Antwort. „Also Nibelungentreue?“ fragte
Adelheid. Werner Haeften, ein Neffe von Brauchitsch, der mit seiner
schweren Verwundung monatelang im Lazarett gelegen hat und bei uns
nur auf einem Gummiring sitzen konnte, sagte ironisch zu Q.: „Wir
wollen nichts anderes mit euch machen, als euch alle auf eine Insel
bringen, dort müßtet ihr von morgens bis abends durch den
Lautsprecher eure eigenen Reden anhören.“
Q. verteidigte sich,
so gut er konnte. Er gilt als der begabteste Journalist, den die
Nazis haben. Schließlich wurde es ihm zu bunt. Als Konrad Zweigert
sagte: „Es wird ja alles getan, um die Wahrheit zu unterdrücken“,
sprang er auf und wollte gehen. Klaus und ich beruhigten ihn mit
Mühe. Solche Aussprachen sind nicht ungefährlich für alle
Beteiligten. Freilich können sich verwundete Soldaten die offenste
Sprache erlauben.
Am schönsten war der Abend gewesen, bevor die Gäste kamen und ich mit den beiden Brüdern abwechselnd im ausgeräumten Eßzimmer tanzte.
[…]
Quelle: Ursula von Kardorff, Berliner Aufzeichnungen aus den Jahren 1942 bis 1945. 2. Aufl. München: Biederstein, 1962. S. 8-10.